Kevin Kühnert über Verantwortung: „Macht ist für mich keine Droge“
Seit ein paar Tagen ist Kevin Kühnert Vizechef der SPD. Als Strippenzieher sieht er sich nicht. Politik betreibe er viel profaner.
Montagnachmittag im Willy Brandt Haus. Ein kleiner Raum. Nichts Repräsentatives. Kevin Kühnert kommt zwei Minuten zu spät und entschuldigt sich. Dafür, dass er zwei Wochen politischen Ausnahmezustand hinter sich hat, sieht er ganz frisch aus.
taz: Herr Kühnert, mit wem rede ich jetzt? Mit dem Juso-Chef und oder dem stellvertretenden Vorsitzender der SPD?
Kevin Kühnert: Mit Kevin Kühnert, der beide Funktionen innehat.
Ist da kein Unterschied?
Diese Doppelfunktion gab es noch nie. Es gibt also keine Erfahrungen, auf die ich zurückgreifen könnte. Ob der Anspruch der Jusos, ein eigenständiger Verband zu sein, in dieser Konstruktion noch gewährleistet ist, kann ich nur bedingt entscheiden. Ich bin da befangen und werde das Anfang 2020 zusammen mit den Jusos bewerten.
Passen die beiden Rollen zusammen?
Ich bin ja erst seit wenigen Tagen SPD-Vize. Aber ich fühle mich nicht schizophren. Der Spagat zwischen Jusos und der SPD ist schließlich nicht mehr so groß, wie er noch vor einem Jahr war. Der Parteitag hat vieles beschlossen, was zu uns Jusos passt. Als das Sozialstaatskonzept verabschiedet war, gab es beim Parteitag echte Euphorie. Man konnte an den Gesichtern ablesen, dass da die Last von 16 Jahren Hartz-IV-Debatte abfiel. Wir sind in unserem Kernthema endlich wieder in der Offensive.
Kevin Kühnert ist Juso-Chef und seit dem Wochenende stellvertretender Vorsitzender der SPD. Er ist Fan von Armina Bielefeld und des Oberligaclubs Tennis Borussia Berlin. Dort war er bis 2017 im Aufsichtsrat.
Die Hartz-Debatte wurde in der SPD in den letzten Jahren schon ein paar Mal für beendet erklärt.
Sie wurde von Parteivorsitzenden per Medien für beendet erklärt. Diesmal haben Vertreter unterschiedlicher Positionen – unter anderem Andrea Nahles, Hubertus Heil, Manuela Schwesig und ich – eineinhalb Jahre lang an dem Sozialstaatskonzept gearbeitet und einen gemeinsamen Weg gefunden.
Auch bei Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger? Manche Parteilinke halten den SPD-Beschluss für das Ende der Sanktionen. Arbeitsminister Heil redet von Konsequenzen, wenn Hartz-IV-Empfänger ihre Pflichten verletzen. Was gilt?
Wir haben einen Kompromiss entwickelt. Der sieht vor, dass sogenannte Teilhabevereinbarungen mit den Betroffenen geschlossen werden. Damit diese verbindlich sind, soll es Mitwirkungspflichten geben. Werden diese verletzt, dann kann es nach unserem Konzept zwar Konsequenzen geben, ausgeschlossen sind dabei aber Sanktionen auf das Existenzminimum. Und das Existenzminimum entspricht nach aktueller Rechtsprechung dem Hartz-IV-Satz. Er bleibt unangetastet und das ist schon ein erheblicher Fortschritt.
Hat das Bundesverfassungsgericht das nicht ohnehin verfügt?
Nein, laut Verfassungsgericht sind bis zu 30 Prozent der Grundsicherung kürzbar. Wir wollen darüber hinausgehen.
Und das wird Hubertus Heil als Gesetz vorlegen?
Ich erwarte nicht, dass er im Januar einen Gesetzentwurf vorlegt, in dem alle Sanktionen abgeschafft werden. Das scheitert an der Union. Aber Heil nutzt schon jetzt seine Spielräume, indem er beispielsweise die Sondersanktionen für unter 25-Jährige aussetzen lässt, obwohl diese gar nicht Teil des Urteils waren. Das ist gut. Wenn wir in einer anderen Koalition regieren, wird mehr möglich sein.
Die SPD will nun mit der Union verhandeln. Was ist ihr Thema Nummer eins?
Beim Klimaschutz muss mehr gehen. In der Gesellschaft haben viele den Eindruck, dass das Klimapaket nicht alles gewesen sein kann. Wir wollen über den Ausbau der erneuerbaren Energien und auch den CO2-Preis sprechen. Da mehr zu tun, würde allen dreien nutzen: Der Union, der SPD und dem Klima.
Wo ist die Schmerzgrenze für die SPD?
Wir haben keine roten Linien gezogen. Wer mit „so oder gar nicht“ in Verhandlungen geht, kann die sich eigentlich sparen. Wir haben aber klar unsere Forderungen benannt – wie 12 Euro Mindestlohn. Das ist anders als früher. Wir stecken nicht schon selbst vorab zurück und fordern nur 10 Euro, weil die Union 12 Euro ja sowieso nicht akzeptiert.
Wer hat das Sagen bei den Verhandlung für die SPD? Die Parteiführung oder die Minister?
Die Vorsitzenden verhandeln gemeinsam mit Vizekanzler und Fraktionsvorsitzendem. Die Bewertung nimmt der Parteivorstand vor.
Muss Scholz tun, was Esken sagt?
Alle sind an unsere Beschlüsse gebunden. Die SPD ist in der Gretchenfrage – wie halten wir es mit der Groko – im Detail nicht einer Meinung. Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken haben den Mitgliederentscheid der SPD auch nicht mit 90 Prozent gewonnen, sondern mit 53 Prozent. Sie wollen und werden nicht „durchregieren“. Die Parteispitze, zu der auch Hubertus Heil gehört, spiegelt die Kräfteverhältnisse in der SPD aber genauer wieder als früher. Der Leitantrag musste ein Kompromiss sein. Ich möchte nicht, dass wir sinnvolle Kompromissfindungen verächtlich machen.
Da sprach der Vizeparteichef.
Das sagte ich als Juso bislang genauso. Wir Jusos haben die Große Koalition nicht abgelehnt, weil wir gegen Kompromisse sind. Was uns gestört hat, war, Kompromisse als großartige Siege zu verkaufen. Wir wollen auch eine ehrlichere, authentischere Kommunikation.
Sie haben vor einem Jahr der taz gesagt: „Wir müssen die Groko dann attackieren, wenn die Attacke angebracht und erfolgversprechend ist.“ Ist das jetzt der Fall?
Die SPD-Basis hat im März 2018 zu meiner geringen Freude für die Groko gestimmt. Das habe ich im Grundsatz zu akzeptieren. Der aktuelle Mitgliederentscheid ging mit 53 zu 45 Prozent eng aus. Einen Angriff sollte man starten, wenn die Truppe gut sortiert und ein gemeinsamer Schlachtplan ausgearbeitet ist. Unangenehm, hier ins Militärische abzugleiten.
Ist die SPD in drei Monaten noch in der Regierung?
Offene Gespräche zeichnen sich dadurch aus, dass sie offen sind. Insofern: keine Ahnung.
Braucht man in der Politik Härte?
Ja, vor allem gegen sich selbst. Man muss sich viel scharfe Kritik anhören. Und begreifen, dass die vielfach nicht mir als Mensch gilt, sondern dem, was ich politisch repräsentiere. Wenn man das klar hat, wird manches leichter.
Sie lassen Kritik einfach cool an sich abperlen?
Ich habe kein Problem mit sachlicher Kritik. Andere versuche ich mir vom Leib zu halten. Ich blocke auf Twitter konsequent, wer rassistisch oder beleidigend auftritt. Ich bin eine öffentliche Person. Aber deshalb muss ich mich nicht mit faulen Eiern bewerfen lassen.
Auf dem Parteitag haben Sie mit Ihrer Rede spontane Begeisterung entfacht. Wie wichtig sind Gefühle in der Politik?
Politik ist nicht Emotion, aber Emotionen schaffen Zugänge zu Politik. Beim Juso-Bundeskongress ist es leichter als auf einem SPD-Parteitag, Begeisterung zu wecken. Dort habe ich eine ruhigere Rede gehalten, weil ich zeigen wollte: Unsere Rolle als Jusos wandelt sich. Meiner Partei wollte ich signalisieren: Begeistert euch an euch selbst. Seid selbstbewusst. Nach sechs Monaten Suche nach einer Parteispitze sind viele unsicher.
Haben Sie bei Reden Vorbilder?
Nein. Aber ich bin fasziniert davon, dass wir Menschen mit Sprache, Mimik und Gestik Botschaften unterstreichen können. Juso-Reden fangen gelegentlich mit einer langen Analyse an, bestenfalls mit einer marxistischen Herleitung der folgenden Forderungen. Man kann spannende politische Reden halten, ohne dass der Inhalt leidet. Das müssen wir viel mehr tun. Nicht nur Linke, alle Demokraten sind da viel zu bräsig. YouTube ist voll mit rechten Videos. Die Rechten haben diesen Resonanzraum viel besser verstanden. Das bringt mich gelegentlich zur Verzweiflung.
Was ist Macht für Sie?
Ein Mittel zum Zweck, um politische Vorstellungen durchzusetzen. Nach demokratischen Spielregeln.
Und für Sie persönlich? Kein Thrill?
Macht ist für mich keine Droge, nichts, das euphorisiert. Das klingt jetzt billig – aber Macht bringt Verantwortung mit sich. Man kann sie missbrauchen. Ich reflektiere das bewusst für mich.
Macht ist nichts, was Sie unbedingt wollen?
Macht klingt für mich nach – auf den Tisch hauen. Nach Gerhard Schröder, der an den Gitterstäben des Kanzleramtes rüttelt und sagt: Ich will da rein. Nach: Wer bei mir Führung bestellt, bekommt Führung. Es klingt nicht nach: „Hey, lass uns zusammen Demokratie machen und nach den besten Lösungen suchen.“ Ich habe ein anderes Verhältnis zur Macht.
Gesine Schwan hat in einem Interview gesagt, dass Sie „ohne allzu viel Rücksicht vorgehen, wenn es sich um Macht handelt“.
Ich habe den Eindruck, dass ich im letzten halben Jahr für Gesine Schwan zu einer Art politikwissenschaftlichem Beobachtungsobjekt geworden bin, an dem sie Thesen ausprobiert. Ich nehme ihr das nicht übel. Aber meistens diskutiert das Objekt der Beobachtung nicht mit seinem Beobachter. Insofern lasse ich das jetzt.
Sie gelten als Strippenzieher. Sehen Sie sich auch so?
Wir Jusos haben zweifelsohne einen Anteil an der Wahl von Esken und Walter-Borjans. Aber Strippenzieher ist ein übles Wort. Ich bin kein Marionettenspieler, der andere tanzen lässt oder indoktriniert. Meine politische Arbeit läuft viel profaner ab, als viele denken. Überhaupt ist Politik nicht im Ansatz so durchtrieben, wie viele glauben.
Manche Juso-Chefs, wie Andrea Nahles oder Gerhard Schröder, haben sich politisch sehr gewandelt. Erleben Sie diese Verwandlung nun im Schnelldurchlauf?
Der wesentliche Unterschied zu vielen Juso-Generationen vor uns ist, dass wir in diesen zwei Jahren echte Verantwortung hatten – nicht nur für uns selbst. Die Verantwortung, die ich jetzt qua Amt als Vize habe, hatte ich in Teilen informell vorher schon. Ich habe beim Sozialstaatskonzept mitgewirkt, und wenn ich in Talkshows auftrat, war das auch anders, als vor 20 Jusos zu reden.
Sie sind schon vorher wie ein Vizevorsitzender aufgetreten?
Nein, man kann so ein Amt nicht imitieren. Aber mir war immer klar: Es geht um die SPD als Ganzes. Wir hantieren mit Porzellan. Wir haben eine schöne alte Porzellanvase in der Hand und wir streiten uns darum, wo die im Wohnzimmer stehen soll. Das ist notwendig. Aber wenn wir uns prügeln, geht die Vase kaputt. Das ist mir sehr bewusst.
Bekommen Sie als SPD-Vize-Geld?
Nicht dass ich wüsste.
Als Juso-Chef?
Eine Aufwandsentschädigung.
Wovon leben Sie?
Ich brauche nicht viel. Mein Einkommen liegt deutlich unter dem Durchschnittslohn. Materielles oder Statussymbole interessieren mich nicht sonderlich. Ich hatte zig Angebote, ein politisches Buch zu schreiben. Das hätte sich wahrscheinlich gut verkauft. Aber das reizt mich nicht. Mich begeistert politische Arbeit. Es ist ein Privileg, so gestalten zu können wie im Moment. Es wäre töricht, das nicht zu nutzen. Ich weiß ja nicht, wie lange das so bleibt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku