Juryauswahl bei Harvey-Weinstein-Prozess: Nicht objektiv genug
Eine potenzielle Geschworene schloss sich selbst aus, weil sie sexuell belästigt wurde. Ihre Objektivität sei nicht gewährleistet. Das ist ein Fehler.
D er Prozess hat begonnen – fast. Denn bevor Harvey Weinsteins Fall neu verhandelt wird, muss die Jury ausgewählt werden, die über das Urteil entscheiden wird. Seit Dienstag berät das Gericht über mögliche Kandidat_innen. Aus einer Gruppe von 140 Leuten, die ins New Yorker Justizhaus einberufen wurden, sollen zwölf ausgewählt werden.
Eigentlich war Weinstein schon verurteilt. Im Jahr 2020 sprach ihn das New Yorker Gericht der Vergewaltigung und sexuellen Nötigung schuldig und verhängte eine 23-jährige Haftstrafe. Weil es aber zu einem Verfahrensfehler kam und Weinsteins Verteidigung Berufung einlegte, beginnt der Prozess diesen April von vorn. Mit einer neuen Jury.
Bisher wurden noch keine Geschworenen ausgewählt. Einige wurden von vornherein ausgeschlossen. Der Grund: Es mangle ihnen an Objektivität. Als der Richter die Menge der Kandidat_innen fragte, wer von ihnen glaubte, nicht unparteiisch sein zu können, meldeten sich mehr als ein Dutzend – und schlossen sich somit selbst aus.
Eine Frau schätzte sich als nicht objektiv genug ein, weil sie selbst Opfer von sexueller Gewalt war. Ein hartes Kriterium, wenn man bedenkt, dass es vorwiegend Frauen betrifft. Das US-amerikanische „Office for Victims of Crime“, also das Büro für Kriminalitätsopfer, schätzt, dass jede achte Frau in den USA in ihrem Leben Opfer einer Vergewaltigung wurde. Täglich seien das knapp 1,871 Vergewaltigungen. Zählt man versuchte Vergewaltigungen hinzu, ist jede fünfte Frau betroffen.
Und was fragen sich die Männer?
Dazu schätzt das nationale Ressourcenzentrum für sexuelle Gewalt, dass ganze 81 Prozent der US-amerikanischen Frauen in ihrem Leben sexuell belästigt wurden oder einen anderen sexuellen Übergriff erlebt haben. Dagegen sind es nur 43 Prozent der Männer. Eine Frau zu finden, die keine sexuelle Missbrauchserfahrung gemacht hat, scheint bei diesen Zahlen fast unmöglich.
Natürlich ist es in Ordnung, wenn eine Frau etwa aus Angst vor Retraumatisierung nicht an dem Prozess teilnehmen möchte. Wenn die Lebensrealität vieler Frauen jedoch sexuelle Ausbeutung durch Männer einschließt, sollte es nicht automatisch als mangelnde Objektivität gewertet werden, selbst betroffen zu sein. Ganz im Gegenteil: Erfahrungen mit Belästigung und Gewalt spiegeln eine gesellschaftliche Realität wider, die in solchen Prozessen berücksichtigt werden muss, statt sie als Vorurteil zu sehen.
Aus der Diskussion um die Objektivität ergibt sich außerdem die Frage, wer die ganzen Vergewaltigungen und Belästigungen verübt. Unter den 140 potenziellen Geschworenen, die sich im New Yorker Gericht versammelt haben, müssen rein statistisch gesehen Männer sein, die Täter waren.
Werden sie sich nach ihrer Objektivität fragen? Werden sie sich fragen, ob sie überhaupt in der Lage sind, Frauen zu glauben? Oder ob sie nicht insgeheim doch Komplizen Weinsteins sind? Nein, diese Frage wäre doch zu absurd.
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