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Juryauswahl bei Harvey-Weinstein-ProzessNicht objektiv genug

Valérie Catil
Kommentar von Valérie Catil

Eine potenzielle Geschworene schloss sich selbst aus, weil sie sexuell belästigt wurde. Ihre Objektivität sei nicht gewährleistet. Das ist ein Fehler.

Harvey Weinstein im Manhattan Criminal Court, 15. April 2025 Foto: Steven Hirsch/dpa

D er Prozess hat begonnen – fast. Denn bevor Harvey Weinsteins Fall neu verhandelt wird, muss die Jury ausgewählt werden, die über das Urteil entscheiden wird. Seit Dienstag berät das Gericht über mögliche Kandidat_innen. Aus einer Gruppe von 140 Leuten, die ins New Yorker Justizhaus einberufen wurden, sollen zwölf ausgewählt werden.

Eigentlich war Weinstein schon verurteilt. Im Jahr 2020 sprach ihn das New Yorker Gericht der Vergewaltigung und sexuellen Nötigung schuldig und verhängte eine 23-jährige Haftstrafe. Weil es aber zu einem Verfahrensfehler kam und Weinsteins Verteidigung Berufung einlegte, beginnt der Prozess diesen April von vorn. Mit einer neuen Jury.

Bisher wurden noch keine Geschworenen ausgewählt. Einige wurden von vornherein ausgeschlossen. Der Grund: Es mangle ihnen an Objektivität. Als der Richter die Menge der Kandidat_innen fragte, wer von ihnen glaubte, nicht unparteiisch sein zu können, meldeten sich mehr als ein Dutzend – und schlossen sich somit selbst aus.

Eine Frau schätzte sich als nicht objektiv genug ein, weil sie selbst Opfer von sexueller Gewalt war. Ein hartes Kriterium, wenn man bedenkt, dass es vorwiegend Frauen betrifft. Das US-amerikanische „Office for Victims of Crime“, also das Büro für Kriminalitätsopfer, schätzt, dass jede achte Frau in den USA in ihrem Leben Opfer einer Vergewaltigung wurde. Täglich seien das knapp 1,871 Vergewaltigungen. Zählt man versuchte Vergewaltigungen hinzu, ist jede fünfte Frau betroffen.

Und was fragen sich die Männer?

Dazu schätzt das nationale Ressourcenzentrum für sexuelle Gewalt, dass ganze 81 Prozent der US-amerikanischen Frauen in ihrem Leben sexuell belästigt wurden oder einen anderen sexuellen Übergriff erlebt haben. Dagegen sind es nur 43 Prozent der Männer. Eine Frau zu finden, die keine sexuelle Missbrauchserfahrung gemacht hat, scheint bei diesen Zahlen fast unmöglich.

Natürlich ist es in Ordnung, wenn eine Frau etwa aus Angst vor Retraumatisierung nicht an dem Prozess teilnehmen möchte. Wenn die Lebensrealität vieler Frauen jedoch sexuelle Ausbeutung durch Männer einschließt, sollte es nicht automatisch als mangelnde Objektivität gewertet werden, selbst betroffen zu sein. Ganz im Gegenteil: Erfahrungen mit Belästigung und Gewalt spiegeln eine gesellschaftliche Realität wider, die in solchen Prozessen berücksichtigt werden muss, statt sie als Vorurteil zu sehen.

Aus der Diskussion um die Objektivität ergibt sich außerdem die Frage, wer die ganzen Vergewaltigungen und Belästigungen verübt. Unter den 140 potenziellen Geschworenen, die sich im New Yorker Gericht versammelt haben, müssen rein statistisch gesehen Männer sein, die Täter waren.

Werden sie sich nach ihrer Objektivität fragen? Werden sie sich fragen, ob sie überhaupt in der Lage sind, Frauen zu glauben? Oder ob sie nicht insgeheim doch Komplizen Weinsteins sind? Nein, diese Frage wäre doch zu absurd.

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Valérie Catil
Gesellschaftsredakteurin
Redakteurin bei taz zwei, dem Ressort für Gesellschaft und Medien. Studierte Philosophie und Französisch in Berlin. Seit 2023 bei der taz.
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15 Kommentare

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  • Ähnlich wie Peter Rabe und prozessrechtlich gedacht (nach deutschem Recht) denk ich im Gegensatz zu Valérie Catil: die Frau war klug, hat erkannt, dass ihre Geschworenen Funktion gewieften Anwälten Anlass böten, am Ende des Prozesses die nächste Instanz anzusteuern - in USA möglicherweise erst recht, vgl Trump).



    Auch kann sie nicht wissen, ob der Prozess sie z.B. durch männliches Gehabe des Beschuldigten oder des neuen Staatsoberhaupts nicht retraumatisiert.

  • Weinstein ist schon seit 5 Jahren in Haft. Man kann das deutsche Rechtssystem gewiss nicht so einfach mit dem amerikanischen vergleichen. Aber 5 Jahre sitzt bei uns kaum ein Sexualstraftäter.



    23 Jahre ist ein zutiefst archaisches Strafmaß. Wir sind uns gewiss einig, die deutsche Höchstrafe von 15 Jahren als zivilisatorische Errungenschaft zu erachten. Sind wir das?

    • @naichweissnicht:

      "Aber 5 Jahre sitzt bei uns kaum ein Sexualstraftäter."

      Evtl. ein Grund, warum solche Verbrechen häufig immer noch als Kavaliersdelikte angesehen werden.

      Das amerikanische System kann für ein zivilisiertes Land gewiss kein Vorbild sein. Man muss es aber auch nicht in die andere Richtung übertreiben.

      Übrigens. Weinstein ist ein Serientäter. Da könnte man in D auch über Sicherungsverwahrung nachdenken...

    • @naichweissnicht:

      Da unterliegen Sie einem Irrtum. Auf Mord steht lebenslang. Und lebenslang bedeutet auch erst Mal lebenslang und nicht 15 Jahren. Es gibt Mörder, die seit über 30 Jahren sitzen. Auf Sexualstraftaten haben wir kürzere Strafandrohungen.

  • Wenn das Erlebnis dieser Geschworenen hinterher juristische Probleme verursachen kann, dann ist es gut wenn sie sich zurückzieht um eine sichere Verurteilung zu erlauben.



    Aber rein aus "Objektivitätsgründen" ist das ein Schmarrn, da hätte sie natürlich teilnehmen sollen. Denn wer von uns ist schon wirklich "objektiv"? Jeder hat so seine eigenen Vorerlebnisse und Vorurteile, das lässt sich nie vermeiden!

  • Absurd ist allerdings auch die implizite Vermutung, dass alle Befragten eigentlich zu gerne ihre staatsbürgerliche Pflicht erfüllen würden, wochen- oder monatelang womöglich isoliert von aktuellen Nachrichten (Gefahr der Beeinflussung durch die Berichterstattung über den Prozess) in schlecht belüfteten Gerichtssälen zu sitzen. Einige dürften die Frage nach der Objektivität als billigen Ausweg aus dem Verfahren nehmen wollen.

  • Man sollte allerdings bedenken, dass der Prozess ggf. wieder platzt, wenn die Vergangenheit der Geschworenen nach dem Urteil ans Licht kommt. Von daher hat die Dame der Sache möglicherweise mehr gedient, als die Autorin wahr haben mag.

  • Das ganze System mit Geschworenen in den USA ist sehr anfällig für Zweifel von allen Seiten. Zu viele Prozessen wird in der Öffentlichkeit mehr über die Zusammensetzung der Jury debattiert als zu Fakten in der Sache. Egal welche Kriterien man aufstellt: Es wird immer jemand meckern...

  • Die Frau hat völlig richtig gehandelt. Sie hat vermieden, Weinstein einen Revisionsgrund zu geben. Er soll sich nicht nochmal rauswinden können.

    • @warum_denkt_keiner_nach?:

      Da die Frau sich selbst so einschätzte, nicht objektiv urteilen zu können, hat sie natürlich richtig gehandelt.

      Das Problem liegt eher darin, dass es überhaupt ein Revisionsgrund sein kann, wenn eine Geschworene, die in einem Vergewaltigungsprozess amtiert, bereits selbst Opfer einer Vergewaltigung war. Es kann nicht richtig sein, Frauen, die selbst bereits Opfer einer Vergewaltigung waren, grundsätzlich als unfähig anzusehen, in einem Vergewaltigungsprozess objektiv urteilen zu können. Richter - und damit auch Geschworene - leben nicht in einer anderen Welt und bringen immer gewisse Erfahrungen mit, die natürlich auch Einfluss auf ihr Urteil haben können. Dies bedeutet aber nicht, dass sie deswegen von vornherein befangen sind. Möglicherweise kann eine Person, die bereits selbst Opfer einer Sexualstraftat geworden ist, sogar eher objektiv urteilen als jemand, der niemals mit sexueller Gewalt konfrontiert wurde. Aber wenn die betreffende Frau sich selbst für befangen hielt, ist es selbstverständlich richtig, dass sie dies auch gegenüber dem Gericht angezeigt hat.

  • "Erfahrungen mit Belästigung und Gewalt spiegeln eine gesellschaftliche Realität wider, die in solchen Prozessen berücksichtigt werden muss, statt sie als Vorurteil zu sehen"

    Das behauptet auch niemand, nur die Frau meinte "Eine Frau schätzte sich als nicht objektiv genug ein, weil sie selbst Opfer von sexueller Gewalt war."

    Sicherlich können solche Erfahrungen helfen aber sie können, wenn es z.B. ein Trauma auslöst oder oder oder, hinderlich sein.

    Deswegen finde ich es nicht OK, das die Autorin der Person ihren Wunsch/Einschätzung abspricht und es doch als "Erfahrung" sehen könnte.->

    "Natürlich ist es in Ordnung, wenn eine Frau etwa aus Angst vor Retraumatisierung nicht an dem Prozess teilnehmen möchte. Wenn die Lebensrealität vieler Frauen jedoch sexuelle Ausbeutung durch Männer einschließt, sollte es nicht automatisch als mangelnde Objektivität gewertet werden"

    So argumentiert könnte man natürlich auch einen Geschworenen nehmen, der bei einem Raubüberfall Opfer war, um in einen anderen Raubüberfall Prozess von seiner "Erfahrung" zu zerren.

    Es gibt schon ein Grund, warum Opfer ähnlicher Straftaten besser nicht in Verfahren eingesetzt werden... es soll neutral sein.

    • @Wayko:

      Ganz abgesehen davon, dass die Verteidigung (und auch die Anklage) die Juroren vor der Auswahl befragen (und dann bei Nichtgefallen eine bestimmte Zahl ablehnen können). Es ist wesentlich gesünder, gleich zu sagen, man stehe das nicht durch, als sich einen inquisitorischem Verhör zu den eigenen Erfahrungen durch Weinsteins Team auszusetzen. Die Beantwortung dieser Fragen erfolgt unter Eid - wer da lügt, und die Verteidigung kann das nachweisen, hat selber einen gar nicht harmlosen Prozess am Hals.

  • "Unter den 140 potenziellen Geschworenen, die sich im New Yorker Gericht versammelt haben, müssen rein statistisch gesehen Männer sein, die Täter waren.

    Werden sie sich nach ihrer Objektivität fragen? Werden sie sich fragen, ob sie überhaupt in der Lage sind, Frauen zu glauben? Oder ob sie nicht insgeheim doch Komplizen Weinsteins sind? Nein, diese Frage wäre doch zu absurd."

    Einfach mal eine Behauptung raushauen, dass männliche Täter nicht reflektieren können.



    Ich gehe mal weiter: Im "Voir dire", das Befragen der potentiellen Geschworenen würde bei einer potentielle Nachfrage warum man befangen sein könnte "Ich bin befangen weil ich vor X Jahren eine Frau belästigt habe.", gleichzeitig der soziale Selbstmord folgen.

    Ich möchte Täter nicht in Schutz nehmen mit meinem Text, doch wird etwas gefordert was niemand bei Verstand machen wird und eventuell Strafrechtlich für sich relevant sein könnte.

  • "Eine potenzielle Geschworene schloss sich selbst aus, weil sie sexuell belästigt wurde. Ihre Objektivität sei nicht gewährleistet. Das ist ein Fehler."



    Wer sich selbst als nicht objektiv einstuft, ist ehrlich, vor allem sich selbst gegenüber, und verdient Respekt und nichts sonst. Das aus Aktivismus heraus als falsch zu verunglimpfen, ist ein Fehler.

  • Der Ausschlussgrund ist doch nicht die Tatsache, dass sie selbst Opfer sexueller Gewalt ist, sondern dass sie deshalb aus eigener Einschätzung nicht objektiv urteilen kann. Das ist doch ein erheblicher Unterschied.