Jüdischsein in Deutschland: Hat es sich geändert?
Der Literat und KZ-Überlebende Ivanji hat sich nach dem Ende des Nationalsozialismus nie gefragt, wie es ist, als Jude nach Deutschland zu reisen. Nun schon.
S ieben Jahre nach meiner Befreiung aus dem KZ kehrte ich nach Deutschland zurück. Am 11. April 1945 wurde ich von Amerikanern aus dem Konzentrationslager „Magda“, einem Außenlager von Buchenwald nahe dem Dorf Langenstein-Zwieberge, gerettet. 1952 reiste ich als junger Journalist nach Deutschland. Man fragte mich, wieso ich nach allem, was ich in Konzentrationslagern als Jude erlebt hatte, überhaupt wieder in dieses Land fahre. Wieso ich so gerne Deutsch spreche und nicht die Sprache der Nazis meide.
Der Schriftsteller, Essayist, Übersetzer und Dolmetscher wurde 1929 geboren. Der serbische Jude überlebte die Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald. Er war Dolmetscher des jugoslawischen Präsidenten Tito. Seit den 1990er Jahren schreibt er immer wieder für die taz. Er lebt in Belgrad.
Ich sagte, die Sprache der Nazis sei hässlich gewesen, Hitlers Reich habe den Krieg verloren, ich aber fahre zur Quelle der Sprache Goethes und Schillers. Klingt wie eine Phrase? Mag sein, aber das war nun mal meine Antwort.
Seither war ich jedes Jahr meist mehr als einmal in Deutschland. Siebzig Jahre lang habe ich die meisten deutschen Großstädte mehr als einmal besucht, das letzte Mal in diesem Jahr Ende August in Weimar, für das nächste Jahr habe ich schon drei Einladungen nach Deutschland. Nie, bei keiner Einladung, bei keiner Reise nach Deutschland habe ich je daran gedacht, dass ich Jude bin.
Ist das jetzt anders?
Hatte ich am Ende des Krieges Rachegefühle?
Eines hat mich in diesem Land immer gestört. Wo immer ich vorgestellt wurde und werde, heißt es, ich sei Jude und Titos Dolmetscher gewesen. Beides stimmt, aber ich hätte es lieber, wenn man stets zuvorderst betonen würde, ich sei Literat – obwohl ich weiß, dass Tucholsky meinte, es gäbe nichts Schlimmeres, als wenn Literaten Literaten Literaten schimpfen.
Jude sein habe ich in Deutschland stets als Bonus empfunden, hat sich das jetzt geändert?
Eine weitere Frage, die ich mir seit Neuestem stelle, lautet: Hatte ich am Ende des Krieges, als Deutschland in Schutt und Asche gelegt wurde, Rachegefühle? Noch vor kurzer Zeit hätte ich es energisch verneint. Jetzt analysiere ich mein früheres Benehmen, meine Gedanken am Ende des Krieges und stutze.
Schon meine Eltern waren Atheisten, ich kannte den jüdischen Glauben nicht.
Aber schaue ich heute noch einmal zurück, denke ich anders über mich.
Ich sah, was Bomben angerichtet haben
Am 8. April 1945 wurde im Lager Magda die Arbeit eingestellt, kein Essen mehr ausgegeben. Manche von uns, die fit genug waren, konnten von dem Berg aus, in dem wir Tunnel gebaut hatten, das 8 Kilometer entfernte Halberstadt sehen, das gegen 11 Uhr vormittags bombardiert wurde. Einzelheiten wussten wir natürlich nicht, sahen aber schwarze Wolken aufsteigen, Stichflammen zum Himmel streben. Später erfuhr ich, dass 540 Spreng- und 50 Tonnen Brandbomben abgeworfen worden waren.
Als ich am 14. April durch die Stadt wanderte, sah ich, was die Bomben angerichtet hatten: Es sah so aus wie die Bilder, die heute im Fernsehen aus der Ukraine oder dem Gazastreifen zu sehen sind. Um zu sehen, was mit den Städten passiert ist, die bombardiert wurden, haben wir heute Hubschrauber und Drohnen. 1952 musste ich noch 533 Stufen auf den Kölner Dom steigen, um diese furchtbare Ansicht in Augenschein zu nehmen.
Ich hätte früher nie eingestanden, dass meine Gedanken damals einem jüdischen Rachegefühl entsprungen seien, Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich habe meine jüdische Herkunft zwar nie geleugnet, aber betont hab ich sie eben auch nicht.
Ich war damals in Köln als Journalist den Dom hinaufgegangen und habe nicht an die Menschen gedacht, die erschlagen, verbrannt oder „nur“ ihrer Wohnungen und Häuser, ihres Hab und Gut beraubt wurden, fragte mich nicht, ob die alle Nazis gewesen seien oder „nur“ Mitläufer. Heute muss ich gestehen: ich fühlte Genugtuung.
Ein einziges Mal war ich zum Gottesdienst in einer Synagoge
In Deutschland kam ich, als Zeitzeuge vor verschiedenen Gremien sprechend, nie am Holocaust vorbei. Ein einziges Mal im Leben war ich an einem Samstag zum Gottesdienst in einer Synagoge. Und das ausgerechnet in Deutschland, in München. Ein evangelischer Pfarrer hatte mich bewogen, mit ihm hinzugehen, er war mit dem Rabbiner befreundet. In Gotteshäusern, die ich gerne besuche, benehme ich mich als höflicher Gast, setze in Synagogen den Hut auf, nehme ihn in christlichen Kirchen ab, ziehe mir in Moscheen die Schuhe aus. Den Anfang einiger jüdischer Gebete kenne ich, das Vaterunser merkwürdigerweise auf Ungarisch auswendig.
Angeregt, mich mit den verschiedenen Formen von Glauben näher zu beschäftigen, haben mich die Bücher des Philosophen Karl Jaspers. Ich stellte verwundert fest, dass der erste und bisher letzte Begründer großer Religionen, Prinz Siddharta Gautama, der Buddha, der Prophet Mohammed historische Personen waren, bei Moses und Jesus ist man sich da nicht so sicher.
Wenn sich gute Legenden so lange halten wie der Glauben der Juden und das Christentum, werden sie wahrer als jede Wahrheit. Ich habe die Thora auch als Liebesroman und Krimi gelesen, Abrahams nur kurz angedeutete Liebe zur Sklavin Hagar, die die Urmutter des Islam wurde, in Gedanken so weit ausgebaut, dass es ein Roman mit dem Titel „Hineni“ geworden ist.
Warum erzähle ich das alles? Weil ich folgendes feststellen muss: Ich bin siebzig Jahre lang durch deutsche Städte spaziert und nie auf Antisemitismus gestoßen. Einschränkend muss ich sagen: spaziert bin ich hier wie dort ohne Kippa oder andere Besonderheiten, die mich als Jude gekennzeichnet hätten. Es ist nun mal meine Erfahrung, dass ich in Deutschland keine Antisemiten kannte. Und jetzt soll alles anders sein?
Sollte ich Angst haben?
Was mache ich denn nun, wenn ich nächstes Jahr unterwegs auf einer deutschen Straße auf einen antiisraelischen, brüllenden Protestmarsch mit aufregender Polizeibegleitung stoße? Ich werde wohl stehen bleiben und die wahrscheinlich meist jungen Gesichter betrachten, die mir im Prinzip sympathisch wären, die sich für mich, einen bürgerlich gekleideten Greis, nicht interessieren.
Sollte ich trotzdem Angst haben? Jude sein auf deutschen Straßen, geht das überhaupt noch?
Wie gerne würde ich mit den jungen Leuten ins Gespräch kommen, ihnen sagen, dass ich ihre Sache im Grunde genommen bis zum 7. Oktober 2023 befürwortet habe. Ich würde sie fragen, ob sie diese Blutrünstigkeit, diesen Mordwahn gutheißen. Ich habe einmal etwas Ähnliches versucht. Es ging schief.
Es war in einer staatlichen Berufsschule ausgerechnet in Dachau 2017. Ich hielt dort einen Vortrag über Konzentrationslager. Danach kamen einzelne Schülerinnen und Schüler zu mir, um Fragen zu stellen. Ein junger Mann fragte gehässig: „Warum ermordet ihr Juden uns Palästinenser?“ Ich versuchte, ruhig zu bleiben, sagte, es komme nun einmal zu gegenseitigen Einzelangriffen mit Todesfolgen und wie schrecklich bedauerlich das sei, aber er hörte gar nicht zu, sondern fragte weiter: „Warum habt ihr uns unser Land gestohlen?“
Ich schlug vor, er solle im Koran nachlesen, dass Ismail, der Erzvater aller Araber, und Isaak, der Erzvater aller Juden, Söhne des gemeinsamen Urvaters Abraham oder auf Arabisch Ibrahim gewesen seien und dass die beiden geschworen hätten, friedlich miteinander zu leben, und also beide Nachfahren Anspruch auf das Land haben.
Aber der junge Mann ging einfach weg.
Als Schüler dieser Eliteschule hatte er sicher Aussichten auf ein gutes Leben. Er sprach gut Deutsch, kleidete sich wie die meisten seiner Schulkameraden, überwiegend Deutsche. Und trotzdem: ich hielt es für möglich, dass dieser Junge einen Sprengstoffgürtel unter seinen Pullover anziehen und möglichst viele Menschen in den Tod reißen würde. Dieser junge Mann, er war um die siebzehn, blieb als die Personifizierung des Todes in meinem Gedächtnis, ich hatte es nur jahrelang verdrängt, jetzt aber, nach dem Massaker in Israel, ist er wieder aufgetaucht. Vielleicht wird er, wenn ich im nächsten Jahr wieder in Deutschland bin, an mir vorbeigehen, vielleicht Fahnen schwenkend, vielleicht schreiend und marschierend. Und ich kann nur hoffen, dass er sich wieder von mir abwendet und weggeht und nichts Schlimmes passiert.
Vor mehr als zweihundert Jahren schrieb Goethe: „Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen.“ Ich frage mich ernsthaft, ob das noch gilt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anbrechender Wahlkampf
Eine Extraportion demokratischer Optimismus, bitte!
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei