Jahresbericht von Amnesty International: Generalsekretärin spricht von „epochalem Bruch“
Die NGO warnt vor Attacken auf regelbasierte Ordnung. Kritik ernten die USA und Russland, aber auch Deutschland. Israel wird Völkermord vorgeworfen.

Insbesondere US-Präsident Donald Trump habe seit seinem Amtsantritt im Januar „zahlreiche Attacken“ auf die „hart erkämpften Errungenschaften der vergangenen 80 Jahre in Sachen Gleichheit, Gerechtigkeit und Würde“ verübt, erklärte Amnesty-Generalsekretärin Agnès Callamard. Trumps „Kooperation mit großen Konzernen“ katapultiere die Welt „mit hoher Geschwindigkeit in ein brutales Zeitalter“, in dem „Menschenrechte und Diplomatie von militärischer und wirtschaftlicher Macht übertrumpft“ würden.
Die Probleme beschränkten sich jedoch nicht auf die Politik Trumps. „Seit mehr als einem Jahrzehnt erlebt die Welt eine Ausbreitung autoritärer Gesetze, Maßnahmen und Praktiken“, kritisierte Callamard. So seien in verschiedenen Ländern immer mehr NGOs und politische Parteien „aufgelöst, mit einem Betätigungsverbot belegt oder willkürlich als ‚extremistisch‘ gebrandmarkt“ worden. Mindestens 21 Staaten brachten nach ihren Angaben 2024 „Gesetze oder Gesetzesentwürfe ein, die auf die Unterdrückung der freien Meinungsäußerung oder ein Verbot von Medienunternehmen abzielten“.
Amnesty-Generalsekretärin Julia Duchrow sprach von einem „epochalen Bruch“, da viele autoritäre Staatenlenker ihre menschenrechtswidrige Politik nicht einmal mehr verschleiern würden. „Rechtsstaat, Völkerrecht und Menschenrechtsschutz werden von einer Vielzahl von Staaten missachtet und angegriffen“, erklärte Duchrow. „Menschenrechtsverletzungen werden nicht mehr geleugnet oder vertuscht, sondern ausdrücklich gerechtfertigt.“
Lage in Ukraine und Sudan
Zudem seien multilaterale Institutionen und dabei „insbesondere der UN-Sicherheitsrat“ im vergangenen Jahr „häufig nicht in der Lage oder nicht willens“ gewesen, „Druck auf Konfliktparteien auszuüben, damit diese das humanitäre Völkerrecht einhalten und/oder sicherstellen, dass die humanitäre Hilfe dem Bedarf der Zivilbevölkerung entspricht“, erklärte Amnesty. Dies habe auch zur Folge, dass es „immer größere Zweifel an der Legitimität und Funktionsfähigkeit dieser Institutionen“ gibt.
Amnesty kommt neben zahlreichen weiteren Konflikten insbesondere auch auf den Krieg in der Ukraine zu sprechen. Dort seien die Lebensbedingungen für die Zivilbevölkerung wegen der russischen Angriffe „immer untragbarer“ geworden. Im vergangenen Jahr seien durch „systematische Angriffe auf die zivile Infrastruktur der Ukraine“ noch mehr Zivilistinnen und Zivilisten als 2023 getötet worden.
Im Sudan litten hunderttausende Menschen an Hunger, hieß es weiter. Das Bürgerkriegsland war mit mehr als elf Millionen Binnenvertriebenen 2024 Schauplatz der größten Vertreibungskrise weltweit, wie Amnesty weiter ausführte.
Kritik an der Bundesregierung
Auch innenpolitische Entscheidungen bei der Flüchtlings- und Migrationspolitik der Bundesregierung wurden in dem Jahresbericht kritisiert. So habe sich die damalige Ampel-Regierung bei der Verabschiedung ihres „Sicherheitspakets“ im vergangenen Jahr von „rassistischer und migrationsfeindlicher Rhetorik“ beeinflussen lassen, die insbesondere nach den Messerangriffen von Mannheim im Mai und Solingen im August sehr präsent gewesen sei. Die verabschiedeten Gesetze enthalten laut Amnesty Regelungen, „die Kriminalität mit rassistischen Zuschreibungen, ethnischer Zugehörigkeit und Nationalität verknüpften“.
Auch die Politik der wahrscheinlich künftigen Regierungskoalition aus Union und SPD biete Anlass zur Sorge, erklärte die Amnesty-Generalsekretärin für Deutschland, Duchrow. Die im Koalitionsvertrag angekündigte „Zeitenwende in der inneren Sicherheit“ bediene „rassistische Feindbilder, instrumentalisiert das Aufenthalts- und Migrationsrecht, bläht Überwachung auf und greift die Zivilgesellschaft an“, erklärte sie.
Amnesty kritisierte weiter, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) am 9. Dezember nach dem Machtwechsel in Syrien die Bearbeitung von Asylanträgen von Syrerinnen und Syrern aussetzte. Damit seien „50.000 Asylsuchende einer (…) zusätzlichen rechtlichen Unsicherheit“ ausgesetzt, was bedeute, dass sie zum Teil in Aufnahmeeinrichtungen bleiben müssten, nicht arbeiten dürften oder nur eingeschränkt Zugang zu Gesundheitsleistungen hätten.
Des Weiteren beklagte Amnesty in Deutschland eine „weitere Kriminalisierung der Klimabewegung“. So habe die Staatsanwaltschaft im brandenburgischen Neuruppin im Mai fünf Aktivisten der „Letzten Generation“ der „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ beschuldigt. Im Jahresbericht verwies Amnesty zudem auf teils „exzessive Gewaltanwendung“ der Behörden bei Klimaprotesten.
Amnesty kritisierte zudem das Vorgehen gegen pro-palästinensische Protestierende. Als Beispiel führte die Organisation das Verbot des sogenannten Palästina-Kongresses vom April 2024 an, bei dem gegen mehrere Rednerinnen und Redner „unverhältnismäßige Einreise- und Tätigkeitsverbote“ verhängt worden seien.
Amnesty wirft Israel „Völkermord“ im Gazastreifen vor
Die Menschenrechtsorganisation hat Israel vorgeworfen, mit dem Vorgehen im Gazastreifen im Krieg gegen die radikalislamische Hamas einen „Völkermord“ zu begehen und in diesem Zusammenhang auch deutsche Waffenexporte kritisiert. „Im Gazastreifen wurde Völkermord verübt“, heißt es im Jahresbericht. Israels Vorgehen in dem Palästinensergebiet „hatte katastrophale Folgen für die palästinensische Zivilbevölkerung“.
Im Westjordanland habe Israel im vergangenen Jahr „das System der Apartheid und rechtswidrigen Besetzung weiterhin gewaltsam“ durchgesetzt, hieß es weiter. Amnesty kritisierte dort „willkürliche Inhaftierungen, rechtswidrige Tötungen und staatlich unterstützte Angriffe israelischer Siedlerinnen und Siedler auf palästinensische Zivilpersonen“, die 2024 stark zugenommen hätten.
Weder die internationale Staatengemeinschaft noch einzelne Länder hätten wirksame Maßnahmen ergriffen, um Gräueltaten in Konflikten wie dem Krieg im Gazastreifen zu stoppen, heißt es weiter in dem Jahresbericht. Amnesty kritisierte insbesondere die USA, warf aber auch Großbritannien und vielen EU-Mitgliedstaaten vor, sich offen hinter das Vorgehen Israels im Gazastreifen gestellt zu haben.
UN-Experten hätten gefordert, Waffenlieferungen nach Israel auszusetzen, führte Amnesty aus. Deutschland habe nicht zu den Ländern gehört, die dieser Forderung nachgekommen seien. Stattdessen habe die Bundesrepublik weiter Waffen nach Israel und in weitere Länder geliefert, „wo ein erhebliches Risiko bestand, dass die Waffen für schwere völkerrechtliche Verstöße eingesetzt werden bzw. solchen Verstößen Vorschub leisten könnten“, darunter auch Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate. Amnesty forderte die Einstellung dieser „unverantwortlichen Rüstungsexporte“.
Die Hamas und mit ihr verbündete Islamisten hatten am 7. Oktober 2023 einen Großangriff auf Israel ausgeführt, etwa 1.200 Menschen getötet und damit den Gaza-Krieg entfacht. Israel geht seitdem massiv militärisch im Gazastreifen vor. Dabei wurden bislang nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums mehr als 52.000 Menschen getötet.
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