Irina Scherbakowa über Putin: „Donbass ist nicht gleich Krim“
Russland überfällt die Ukraine. Historikerin Irina Scherbakowa über Putins Lügen, die Stimmung in Moskau und die Blindheit des Westens.
taz am wochenende: Frau Scherbakowa, seit wann gingen Sie davon aus, dass Putin den Angriffsbefehl auf die Ukraine tatsächlich erteilen würde?
Irina Scherbakowa: Die Gefahr wurde in den letzten Wochen immer deutlicher, als sich die Berichte über die hohe Konzentration russischer Truppen an der ukrainischen Grenze häuften. Etwa, dass dort schon Feldlazaretts aufgebaut werden. Aus verschieden Quellen sickerte dann die Information durch, dass der Angriff nach der Pekinger Olympiade erfolgen werde. Das wurde von offizieller russischer Seite stets revidiert, aber wir sind daran gewöhnt, dass die Signale, die von der Macht ausgehen, irreführend sind. Dennoch wollte es der gesunde Menschenverstand einfach nicht glauben, dass so eine fürchterliche Sache, so ein Verbrechen wie der Überfall auf die Ukraine passieren kann. Doch das waren sich selbst Trost spendende Überlegungen. Spätestens mit der Sitzung des russischen Sicherheitsrats und Putins Rede – das Spektakel konnte man im Fernsehen beobachten –, wurde für alle deutlich, dass der Angriff auf die Ukraine beschlossene Sache ist.
Wie nehmen Sie die Stimmung in Moskau derzeit wahr? Was denkt die städtische Bevölkerung über den Krieg Putins?
Nicht leicht zu sagen. Wenn man in den Geschäften und auf den Straßen die Menschen sieht und hört, hat man schon das Gefühl, dass sie mitkriegen, dass Krieg ist. Doch scheinen die meisten gleichgültig. Sie sind mit den galoppierenden Preisen, der Inflation und den schweren Folgen der Pandemie beschäftigt. Es herrscht eine gewisse Trägheit, wie so oft in Russland ein gewisser Fatalismus: „Es kommt, wie es kommt …“ Doch auch das: Wer gehofft haben sollte, mit diesem Krieg würde sich der Krim-Effekt wiederholen, der sieht sich getäuscht. Die nationalistische Freude und Euphorie von 2014 bleibt dieses Mal aus.
Irina Scherbakowa ist eine der prominentesten Stimmen der russischen Zivilgesellschaft. Die 1949 in Moskau geborene Historikerin ist Mitbegründerin der Menschenrechtsorganisation Memorial. Die Organisation erforscht die Verbrechen der stalinistischen Gewaltherrschaft. Memorial ist seit Ende letzten Jahres in Russland verboten. In Deutschland wurde Scherbakowa u.a. mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet. Sie ist Autorin und Herausgeberin zahlreicher Schriften zu Gulag und Stalinismus. Zuletzt erschien von ihr auf Deutsch das Buch „Die Hände meines Vaters. Eine russische Familiengeschichte“.
Warum?
Donbass ist nicht gleich Krim. Die Krim beinhaltet im russischen Gefüge einen starken kulturellen Mythos, ein nostalgisches Gefühl. Der Donbass nicht. Viele Menschen glauben, dass man dort Russen – inzwischen sind dort Hunderttausende mit russischen Pässen ausgestattet – schützen sollte. Man kann hier auch punkten, wenn man dem Westen militärisch seine „Stärke zeigt“. Doch Umfragen wie die des unabhängigen Levada-Zentrums zeigen, dass bei der Bevölkerung die Angst vor bewaffneten Konflikten hoch ist. Auch wenn die Verantwortung für die Bedrohungen eher auf die andere Seite verlagert wird – sehr wenige glauben, dass die Aggression von der Seite Russlands ausgeht.
Auch, wenn Putin angreift?
Ich denke, dass die Stimmung sich noch ändern wird. Dass die Menschen begreifen werden, dass es ein blutiger Krieg gegen ein Brudervolk ist. Es gibt ja kaum eine Familie in Russland ohne einen Bezug zu den Menschen in der Ukraine. In vielen Städten Russlands, auch in Moskau und in Sankt Petersburg, sind sofort Menschen gegen den Krieg auf die Straße gegangen, oft sehr junge, um zu protestierten. Das ist sehr mutig und sehr gefährlich. Viele werden brutal zusammengeschlagen, verhaftet, zu mehreren Tagen Haft verurteilt. Gerade werden viele Menschen, die ich kenne, die Nacht bei der Polizei verbracht haben. Und natürlich ist mein Social Media voll mit Antikriegsparolen.
Was erfährt man überhaupt über die Militäraktion?
Das Internet funktioniert noch. Es gibt unabhängige Medien in und außerhalb Russlands, die berichten. Zeitungen wie Nowaja Gazeta, Radio wie Echo Moskwi, den Fernsehkanal Doschd. Die staatlichen Kanäle betreiben aggressive Propaganda. Sie verbreiten Lügen und Fake News. Und viele Menschen glauben ihnen, leider.
Sie sprachen davon: Es gab zuletzt bemerkenswerte Inszenierungen Putins vor laufenden Kameras. Was geht in ihm vor, hat er sich überhaupt noch unter Kontrolle?
Ich glaube schon. Aber er folgt einer Logik, die mit einer normalen menschlichen nichts zu tun hat, die Aggression, Rache, Gewaltanwendung einschließt. Im Fernsehen inszenierte er die angeblich kollektive Entscheidung zum Überfall als eine gemeinsame seines engsten Kreises. Es sollte der Anschein einer Teilung der Verantwortung entstehen. Die Mitglieder des Sicherheitsrates sollten so tun, als wollten sie einer nach dem anderen Putin überzeugen, die Entscheidung über den Donbass zu treffen. Dabei wurde aber vor allem deutlich, wie wenig die anderen zu sagen haben. Wie ängstliche Schüler traten sie auf, mussten auswendig gelernte Texte vor ihrem strengen und missmutigen Lehrer Putin vortragen. Ihre Angst war greifbar und jeder sollte sie fühlen. Eine Warnung an alle, deren Loyalität plötzlich als unzureichend erscheinen sollte. Ein Signal an alle, die man im weiteren Sinne zur Elite zählen kann. Wehe dem, der die Signale der Macht nicht richtig versteht. Und wehe denen, die seine Kritiker sind.
Aber schadet ein dauerhafter Krieg in der Ukraine nicht auch den ökonomischen Interessen der Eliten der Russischen Föderation?
Das ist ganz sicher so, die Sanktionen tangieren viele ihrer Interessen. Aber es scheint, als ob ihre Meinung und Stimmung gerade keine Rolle spielt.
Putin sagt, ihm und der russischen Wirtschaftselite würden die verhängten Wirtschaftssanktionen gar nichts anhaben. Glauben Sie das?
Ich bin keine Wirtschaftsexpertin. Aber auch wenn es Putin verächtlich negiert, die Sanktionen dürften auf Dauer wirkungsvoll sein. Viele Menschen werden das bald spüren, gerade im Bankensystem. Die Prognosen sind sehr pessimistisch. Der Rubel, die russische Währung, hat binnen weniger Tage ein Drittel seines Wertes verloren. Die Inflation wird bald 15 Prozent erreichen. Russland wird faktisch von der Weltwirtschaft isoliert. Nicht mal Gas und Ölpreise werden die Situation retten können. Doch für die Unterstützung der Ukraine ist das jetzt auf keinen Fall ausreichend.
Stichwort: großrussische, imperiale Bewegung. Wie stark sind die innenpolitischen Motive für den Angriff auf die Ukraine?
Die großrussisch-imperialen Vorstellungen sind für Putin bedeutsam. Die Macht ist nicht in der Lage, die reale Situation im Lande zu verbessern. Weder im demokratischen, noch im wirtschaftlichen Sinn. Ein ideologischer Ersatz muss her. Und da ist die Erzählung von der Großmacht Russland im postsowjetischen Raum. Die Zustimmung der Bevölkerung sucht man durch das Beschwören äußerer Feinde. Man inszeniert künstlich Spannungen mit der EU, den USA. Und jetzt der Überfall auf die Ukraine.
Der Schriftsteller Sasha Filipenko spricht von einem Realitätsverlust bei Putin. Putin ignoriere, dass die Mehrheiten in der Ukraine oder Belarus nicht Teil Russlands sein wollten. Warum ist ihm die territoriale Ausdehnung seines Imperiums so wichtig?
Nach Putins Rede gibt es die Ukraine als unabhängigen und souveränen Staat gar nicht. Er leugnet die Geschichte und sagt, man hätte die Ukraine nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 nicht gehen lassen sollen. Sie sei einzig ein Sprungbrett für Nato, Amerika, Neonazis und Nationalisten. Dieses völlig falsche Bild von der heutigen Ukraine war auch im Westen präsent. Ja, der Weg der Ukraine in Richtung Demokratie ist ein mühseliger. Seit 2014 und den Ereignissen auf der Krim unterliegt sie zudem einem kriegerischen Konflikt. Es gibt starke Probleme mit Korruption, die ein schwacher Staat nicht so leicht beseitigen kann. Aber es ist eine starke, sich entwickelnde Zivilgesellschaft entstanden, die ihre Meinung anders als im heutigen Russland offen äußern kann. Vor allem auch bei Wahlen. Und eben diese Entwicklung will die russische Führung stoppen. Das wurde auch am Beispiel von Belarus schon klar deutlich. Das Regime Lukaschenko wird gestützt, damit es in Belarus nicht in die demokratische Richtung gehen kann. Die Behauptung, beim Krieg gegen die Ukraine ginge es um eine „Entnazifizierung“, ist eine dreiste Lüge.
Sozial- und Christdemokraten propagierten im Umgang mit Russland lange den „Wandel durch Handel“. Durch die wechselseitige Verflechtung der Ökonomien sollten auch politische Annäherungen stattfinden. Warum ist das Ihrer Meinung nach gescheitert? Hätte es dazu eine Alternative gegeben?
Eine nachhaltige ökonomische Entwicklung kann ohne Rechtsstaat und Freiheit kaum existieren. Das wurde auf ziemlich zynische Weise ignoriert. Es gab stets süßsaure Erklärungen, es brauche noch Zeit, Russland sei noch nicht reif für die Demokratie. Putin selbst sei jedoch ein „lupenreiner Demokrat“. Man solle „auf Augenhöhe“ mit ihm reden, man setze auf für beide Seiten gewinnbringende Interessen. Das wurde von der russischen Seite missbraucht, als Zeichen von Schwäche und Käuflichkeit interpretiert. Eine Alternative hierzu? Die gab es genau in diesem Sinne.
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