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Identitätspolitik-DebatteWie woke soll es sein?

Dirk Knipphals
Essay von Dirk Knipphals

Ein Sommerspaziergang über das Tempelhofer Feld in Berlin. Mit dem aktuellen Backlash gegen emanzipative Identitätspolitik im Hinterkopf.

Wie soll man einander begegnen? Menschen auf dem Tempelhofer Feld Foto: Emmanuele Contini/imago

M an denkt keineswegs immer an Identitätspolitik, wenn man auf dem Tempelhofer Feld in Berlin spazieren geht, an diesem besonderen Ort, an dem sich die Geister scheiden. Man denkt daran, sich vor den Drachen der Paraglider in Acht zu nehmen, die einen treffen könnten. Man überlegt sich, ob man nicht doch Rollschuhfahren lernen sollte, wie das hier so viele machen. Man sieht den Grillenden beim Grillen zu, den Chillenden beim Chillen und den Vögeln beim Trillern (es gibt wirklich viele Vögel auf dem Tempelhofer Feld).

Aber manchmal denkt man eben auch: Eigentlich ist das hier jetzt gelebte Identitätspolitik. Es geht darum, dass sehr unterschiedliche Menschen miteinander auskommen müssen. Manche kiffen sehr viel. Manche trinken noch nicht mal Alkohol. Manche brutzeln Fleisch satt. Andere liegen halbnackt herum. Es gibt Hipster, Migranten der ersten, zweiten, dritten Generation, Traditionsberliner. Und alle machen sie ihr Ding.

Berlin halt, werden jetzt viele denken, Ausnahme in Deutschland, aber das stimmt eben nicht, wenn man hier spazieren geht. Hier fühlt es sich nach Normalität an. Leben und leben lassen.

Begegnung oder Profit

Einen großen Unterschied zur Identitätspolitik gibt es: Auf dem Tempelhofer Feld existiert keine Dominanzkultur, die durchbrochen werden müsste. Rennradler versus Herumschlenderer. Brutflächen versus Liegewiesen. Hundebesitzer versus junge Eltern. Der Platz muss immer ein bisschen ausgehandelt werden, wobei Regeln helfen, an die sich die meisten auch halten.

Dafür kann man wiederum auf den Gedanken kommen, dass es in den jeweiligen Debatten Strukturähnlichkeiten gibt. Die Initiative 100% Tempelhofer Feld e. V. wirbt für den vollständigen Erhalt des Geländes als „Ort der Begegnung“. Doch viele sehen das anders. Als Olaf Scholz noch Bundeskanzler war, konnte er hier nichts anderes als leeren Raum erkennen, „der da gewissermaßen ungenutzt rumliegt“. Andere sehen nur die Möglichkeiten der Bebauung und, auch das, des Profitmachens.

Solche fundamental unterschiedlichen Perspektiven gibt es auch auf die Identitätspolitik. Bis hin dazu, sie als Gelegenheit zum Kulturkampf zu benutzen, der wiederum von einem Kampf um Aufmerksamkeit – und Buchverträge – schwer zu trennen ist.

Es gibt jedenfalls da draußen in der Gesellschaft und vor ihren Rechnern mit den geöffneten Apps der sozialen Medien viele Menschen, die Identitätspolitik kritisieren, in Wahrheit aber die multikultureller gewordene Gesellschaft selbst attackieren wollen – zum Beispiel also solche konkreten Orte wie das Tempelhofer Feld. Klar, wer Einwanderung als Unglück empfindet, Interkulturalität als Stress und zu einer herkunftszentrierten deutschen Identität zurückkehren möchte, für den ist jedes Nachdenken darüber eine Zumutung.

Reaktionäre Form der Kritik

Diese Kritik von rechts rekurriert allein auf die fragwürdigen Seiten der Wokeness und nutzt sie aus zur Legitimation ihrer eigenen Identitätspolitik, sei diese nun sentimentalisch-reaktionär zurückwollend zu einem angeblich heilen Zustand in der Vergangenheit, an dem man etwa noch unhinterfragt „Winnetou“ gucken durfte, oder auch direkt völkisch getrieben à la „Deutschland den Deutschen“ (und „Ausländer raus“). Darüber hinaus, dass der Hintergrund dieser Form der Kritik reaktionär ist, macht sie es sich also auch in der Beschreibung ihres Gegenstandes zu leicht.

Das alles ist relativ schnell zu durchschauen. Wer nun aber meint, Identitätspolitik allein dadurch verteidigen zu können, indem er diese reaktionäre Art, sie zu kritisieren, entlarvt, der macht es sich auch zu leicht. Denn es gibt ja die Fragwürdigkeiten, die von allen möglichen Seiten als Triggerpunkte ausgenutzt werden können: haarspalterische bis verstiegene Handlungsanweisungen, allzu professoral rüberkommende Sprachexerzitien, der essenzielle Kulturbegriff der Debatten um kulturelle Aneignung. Und es ist schon die Frage, ob das alles nur Übereifer ist oder im Kern der Identitäts­politik angelegt.

Keineswegs zu leicht macht es sich die Jungle World, was schon mal gut ist. In der Wochenzeitung läuft derzeit eine teilweise kontroverse Debatte über Wokeness. Die rechte Kritik an der Identitätspolitik wird dabei zurückgewiesen. Dass „rechte Kulturkämpfer“ ihre Positionen mit dem Argument aufwerten, „dass sie wenigstens nicht woke seien“, und dass Politiker wie Putin und Trump sich dieser Entwicklung bedienen, wird im Vorspann der Reihe ausdrücklich angemerkt. Vor diesem Hintergrund aber werden andere Möglichkeiten, Identitätspolitik zu kritisieren, in aller Schärfe durchgespielt.

Auf zwei Kritikpunkte lässt sich die Debatte im Wesentlichen bringen. Der erste: Wokeness schwächt die Linke, indem sie erstens: von anderen wichtigen Problemen ablenkt (so Dierk ­Saathoff in seinem Beitrag), zweitens: der Bourgeoisie einen Deckmantel bietet, Klassengegensätze zu verschleiern (so Holger Marcks), und drittens: indem sie Praktiken des Kulturkampfs und Cancelns eingeübt hat, derer sich in den USA die Rechte nur zu bedienen brauchte, um in einem vibe shift Trump erneut zum Präsidenten zu machen (so Ralph Leonard).

Wokeness als Lifestyle

Daran, dass man über der Identitätspolitik andere emanzipative Konfliktfelder keinesfalls vergessen sollte, ist natürlich etwas dran – aber lässt sich das so klar trennen? Dass Wokeness auch Lifestyle ist oder zumindest eine Zeitlang war, stimmt – aber muss man sie deshalb insgesamt erledigen?

Und die vibe shift-Analyse ist ihrerseits fragwürdig. Sie unterschlägt, dass es etwas vollkommen anderes ist, von einer machtlosen Position aus zu agieren als von einer mit aller repressiven staatlichen Macht ausgestatteten. Und sie unterschätzt die faschistoide Energie, mit der in den USA gerade vorgegangen wird – das als rechte Identitätspolitik mit links-emanzipativer letztlich gleichzusetzen, geht nicht auf.

Der zweite zentrale Kritikpunkt besteht darin, dass die Identitätspolitik mit ihren Denk- und Sprechverboten einen „autoritären Tribalismus“ betreiben würde und damit eine über die jeweiligen Opfergemeinschaften hinausweisende, aufgeklärt universalistische Perspektive verunmöglicht.

Genau hier erhebt nun der vierte Beitrag der Reihe Einspruch: Lea Susemichel und Jens Kastner verteidigen nämlich an diesem Punkt die Identitätspolitik gegen manche ihrer eigenen Vertreter. Sie erinnern daran, dass der Kampf um Emanzipation und gesellschaftliche Partizipation durchaus eine über die jeweils kämpfenden Gruppen hin­ausweisende universalistische Seite hatte oder zumindest haben kann.

Stretegischer Essenzialismus

In dem weiterhin gut lesbaren Buch „Identitätspolitiken“ der beiden Au­to­r*in­nen (Unrast-Verlag, 2018) kann man etwa das Konzept des „strategischen Essenzialismus“ nachschlagen. Es besteht darin, dass man die identitären Gruppenzuschreibungen erst einmal annimmt, sie vom Negativen ins Positive wendet – also Gay Pride, Blackness, Queerness und Feminismus feiert –, sich dabei aber der gesellschaftlichen Konstruiertheit dieser Identitäten bewusst bleibt, um nicht selbst ausschließend zu werden.

Ergänzen lässt sich, dass aus dem Bereich der Philosophie derzeit interessante Ansätze kommen, den Universalismus nicht mehr als abstraktes Prinzip zu begründen, was von Vertretern der Identitätspolitik oft als Trick kritisiert worden ist, in dieses Prinzip in Wahrheit den weißen westlichen Mann einzuschreiben.

Jule Govrin leitet ihren „Universalismus von unten“ (Suhrkamp-Verlag) aus der Verletzlichkeit menschlicher Körper ab. Hans Joas kommt in seiner großen historischen Rekonstruktion der Entstehung des Universalismus (auch Suhrkamp) auch auf die Sklavenaufstände im Haiti des 18. Jahrhunderts zu sprechen. Der strikte Gegensatz zwischen dem Westen und dem globalen Süden, auf dem manche Vertreter der Identitätspolitik aufsitzen, weicht so auf.

Von den Eindrücken des Tempel­hofer Feldes aus lässt sich noch auf etwas anderes hinweisen: nämlich dass die Identitätspolitik eingebunden ist in gesellschaftliche Praxis, und das auch bleiben sollte. Sie ist kein Intellektuellenprojekt, sondern sollte stets reflektieren, wie sie zu einem emanzipativen Miteinander beiträgt – als dessen fast utopischer Vorschein das Treiben auf dem Tempelhofer Feld nicht immer, aber doch manchmal aufscheint.

Leisere Sprache versteht die Macht nicht

Manche Verstiegenheiten der Identitätspolitik der vergangenen Jahre lassen sich dabei mit einer Wendung verteidigen, die der Schriftsteller Rainald Goetz auf die #MeToo-Bewegung gemünzt hat, die sich aber auch hier anwenden lässt: „[…] es geht nur so, eine leisere Sprache versteht die Macht nicht“ und weiter: „[…] öffentlich, streitig, wahnhaft rechthaberisch wird dabei verhandelt, […] wie die Menschen in jeder konkreten Interaktion einander begegnen wollen“. Genau darum ging es in den vergangenen Jahren.

Inzwischen aber sollte klar geworden sein, dass die Macht verstanden hat und sich massiv wehrt. In dieser Situation sollte man vielleicht das wahnhaft Rechthaberische nicht überbetonen und auf Bündnisfähigkeit innerhalb des emanzipativen Lagers setzen. Die Möglichkeiten für Bündnisse, denkt man jedenfalls mit einem letzten Blick übers Feld, sind dabei vorhanden.

Es ist verständlich, wenn Vertreter der Identitätspolitik angesichts von Trump und AfD von einem Backlash sprechen. Aber vielleicht handelt es sich auch um einen spiralförmigen Fortschritt. Vielleicht ist die Lage jetzt so, wie sie einst, lange her, nach 1968 gewesen ist: Die Revolution bleibt aus, aber viele emanzipative Forderungen sinken allmählich in die Gesellschaft ein.

Hinter dem gegenwärtigen Genervtsein von Identitätspolitik lässt sich doch auch beobachten: Die möglichen Sprecherpositionen haben sich vervielfältigt, der Zugriff des Normalen auf die Lebensentwürfe hat sich verringert. Kurz, die Gesellschaft ist in den vergangenen Jahren woker, im guten Sinn, geworden.

Aber kann auch sein, dass das Tempelhofer Feld demnächst bebaut wird und die gesellschaftlichen Errungenschaften wieder abgewürgt werden. Es gibt viel zu verteidigen.

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Dirk Knipphals
Ressortleiter Kultur
Dirk Knipphals, Jahrgang 1963, studierte Literaturwissenschaft und Philosophie in Kiel und Hamburg. Seit 1991 Arbeit als Journalist, von 1994 bis 1996 bei der taz.hamburg, seit 1999 in Berlin.
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26 Kommentare

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  • Identitätspolitik ist gelebtes Grundgesetz und der Kampf so dafür, dass jedermensch nach dem obersten Grundsatz des GG das Recht hat, seine Persönlichkeit in Gleichheit und Solidarität frei zu entfalten. Da das GG für ewig gilt, ist mensch also immer positiv zuverstehen als en woke in Übersetzung dieses Wortes nach dem Duden nämlich darin, sich "in hohem Maß politisch wach und engagiert gegen Diskriminierung" eines Jedermenschen einzusetzen. Wir leben nach dem GG im Recht des Individuums und nicht des Kollektivs, das sich solidarisch für die Rechte des Individuums in Gleichheit und Würde einsetzt, es im Gegensatz dazu aber mit einer kollektiven Identität nicht unterdrücken darf.

  • Sprecherposition ältere weiße westliche Frau mit Misshandlungshintergrund:



    Identitätspolitik wird dann erfolgreich, wenn sie Privilegien, deren Preis und Profit der einzelnen Person in einer individuellen Begegnung korrekt einschätzen kann. Dies ist ein extrem schwieriges und anstrengendes Unterfangen. Daher sind Pauschalisierungen und Unterstellungen unvermeidlich, auch innerhalb der Opfergemeinschaften. Nun ist es wichtig, der Seite der Gegner von sozialer Gleichheit die Möglichkeit, das auszunutzen, möglichst vorzuenthalten.

  • Identitätspolitik scheitert an sich selbst, wenn sie als Voraussetzung die Gruppenidentität von Individuen annimmt.



    Und bestimmten Gruppen im 2. Schritt dann Bevorrechtungen geben will.



    Weiß, Mann, reich gegen Frau, schwarz, arm? Schon die Gruppenidentät "Frau" ist kaum aufrechtzuerhalten, wenn Bio-Frauen dann Trans-Frauen nicht in ihren Kreis aufnehmen wollen.

    Dass die Rechten auf Gruppenidentitäten aufbauen und damit argumentieren, macht die Sache nur noch unappetitlicher.

  • Ein Recht auf Identität-Ausleben gibt es nicht, wenn das gegen universale Grundsätze verstößt. Der Chor der R*ssisten-Rechtsextremen etwa darf leider nicht beim großen Festival unserer Politik grölend mitsingen, so zumindest die Absicht des Grundgesetzes.



    Recht, sich als X, Y, Z zu bezeichnen und sich in solidarischen Gruppen zu formieren: na klar. Sich dabei letztlich auf universale Prinzipien beziehen: kaum anders zu machen. Grundsätzlich gleiche Rechte, Pflichten. Niemand muss auch in einer Schublade bleiben müssen.



    Das schützt davor, der nationalistischen Grüppchenbildung der neuen Rechtsextremen auf den Leim zu gehen und ferner die soziale, ökologische und ökonomische Frage - schwere Frage, gewiss - durch Lifestyle-Symbolik zu verdrängen.

  • Die Aussagen zum "strateischen Essenzialismus" sind nicht korrekt. Was der Autor beschreibt, ist die Strategie der "Resignifizierung", die sowohl von der Linken, als auch von der Rechten eingesetzt wird, um Begriffe mit der jeweils eigenen, neuen, Bedeutung aufzuladen (nachzulesen bswp. bei Judith Butler oder Volker Weiß). Die genannten Beispiele stimmen: ursprüngliche negative konnotierte Worte werden positiv umgedeutet.

    Allerdings wird dies auch bei Begriffen wie "Gerechtigkeit" vollzogen; nach Lesart der postmodernen Position ist "Gerechtigkeit" nicht mehr "Gleiche Rechte für alle Menschen unabhängig ihrer Hautfarbe, Herkunft, Sexualität usw.", sondern: Unterschiedliche(!) Zugänge zum politischen System aufgrund von Hautfarbe, Herkunft, Sexualität usw.

    "Strategischer Essenzialismus" hingegen beschreibt eine Strategie nach Spivak, essentialistische Konzepte strategisch(!) zu nutzen, obowohl die Position der Postmoderne diese fundamental ablehnt (Wahrheit als soziales Konstrukt). Beispiel: Geschlecht wird als soziales Konstrukt verstanden und ein Essenzialismus des Geschlechts geleugnet, im politischen Kampf soll nach Spivak Geschlecht aber, wenn weiter Essenz sein.

  • "an dem man etwa noch unhinterfragt „Winnetou“ gucken durfte, "

    Darf ich das heute nicht mehr? Oder gibt es eine Sprachpolizei, die irgendwo erscheint,wenn ich Winnetou gucke und davon erzähle?

    BTW ich vermute, es würde mir heute nicht mehr gefallen.

  • Identitätspolitik wird es geben solange es Straftaten an Personen aufgrund ihrer Identität gibt. Was ist daran so schwer zu verstehen?

    Der Universalismus dient vor allem der bequemen Mehrheit, die die Realität anderer gern bagatellisiert und die Opfer mundtot machen möchte weil die die Illusion der Harmonie stören. Wir können wie in der Diktatur Begriffe mit Identitätsbezug wie Femizid oder Rassismus aus dem Vokabular streichen und "alle werden gleich behandelt" als Mantra verordnen- das macht es noch lange nicht wahr.

    Die Arbeiterbewegung ist aus der politischen Selbstermächtigung der Arbeiterklasse entstanden. Auch das war Identitätspolitik, genau so wie die Bewegung der Suffragetten. Von daher ist die Kritik an dem Konzept nicht nachvollziehbar.

    • @Schwabinger :

      "Identitätspolitik wird es geben solange es Straftaten an Personen aufgrund ihrer Identität gibt."

      Eher so lange sich Gruppen benachteiligt fühlen. So fühlen sich auch die AfDler und die Identitäre Bewegung. Das ist die andere Seite derselben Medaille.

    • @Schwabinger :

      Identitätspolitik, die die Unterschiede betont, wird immer auch stärkere Identitätsgefühle bei den anderen Gruppen hervorrufen.

      Die Gegenidentitäten blühen ebenfalls.

      Das wurde nicht bedacht und fliegt uns gerade um die Ohren.

      Der Wohlstand in der Arbeiterklasse kam nicht, als deren Identität als Klasse am stärksten war.

      Er kam, als man nicht mehr drüber redete.

      Wer eine diskiminierungsfreie Gesellschaft will, muss die Gemeinsamkeiten betonen.

      Anders kann es gar nicht funktionieren.

    • @Schwabinger :

      Das Beispiel "Femizid" illustriert ein weiteres Probem ganz gut: Frauen werden in Beziehungen massiv Gewalt ausgesetzt. Der Grund dafür ist aber nicht "weil sie Frauen sind". In den jeweilige Statistiken wird das klar, aber in der Öffentlichkeit nicht beachtet:

      „Bei der Ausgestaltung der Fallgruppe Femizide sind zwei zentrale Herausforderungen zu beachten: Zum einen fehlt bislang eine bundeseinheitliche Definition von Femiziden, zum anderen ist auf Basis der PKS-Daten nur eine Annäherung an die tatsächliche Anzahl der als Femizide zu bezeichnenden Tötungen von Mädchen und Frauen möglich. Eine Erfassung von tatauslösenden Motiven erfolgt in der PKS nicht. Damit ist unklar, ob es sich bei den erfassten Fällen um geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichtete Straftaten handelte. Tötungsdelikte an Frauen können also über die Daten der PKS nicht als Femizide im Sinne des allgemeinen Verständnisses ‚Tötung einer Frau, weil sie eine Frau ist‘ interpretiert werden.“,

      Bundeskriminalamt(2024): Geschlechtspezifisch gegen Frauen gerichtete Straftaten. Bundeslagebild 2023. Berlin, S. 36

    • @Schwabinger :

      "...und "alle werden gleich behandelt" als Mantra verordnen- das macht es noch lange nicht wahr." Was ist denn Wahrheit? Dafür muss es objektive, für jeden (im logischen Sinn) nachvollziehbare d.h. an der Realität abzugleichende Kriterien geben.



      Sie haben das Problem der "Identitätspolitik" ja selbst benannt: die Selbstermächtigung. Wenn diese das Prinzip sein soll, kann jeder subjektiv natürlich alles als neue oder eigene "Identität" ausgeben, auch wenn es einen Nachweis für das je eigene, real Abgrenzende nicht erbracht wird bzw. erbracht werden kann.

  • Was der Autor beschreibt, ist doch das Gegenteil von "woke" und "Identitätspolitik" - wie sie kritisiert werden. Da ist man nämlich gerade nicht ein Individuum, das nach seinen Vorstellungen leben darf, solange niemand geschädigt wird - sondern zunächst mal Teil einer Gruppe, der Eigenschaften zugeschreiben werden, am schlimmsten also männlich, gesund, weiß und wenn man irgendwo nicht so privilegiert ist, dann muss man Vorfahrt haben. Dann muss der alte Weiße Mann mal zur Seite gehen, wenn die lesbische dunkelhäutige Frau gern seinen Schattenplatz hätte. Er hat genug Privilegien jeden Tag, jetzt ist mal Rücksicht angesagt. Einfach nur, weil er alt und weiß und männlich ist. Die Gruppe ist wichtiger als das Individuum. Genau das Gegenteil von dem, was da positiv beschrieben wird: " Eigentlich ist das hier jetzt gelebte Identitätspolitik. Es geht darum, dass sehr unterschiedliche Menschen miteinander auskommen müssen."

    Daher kann ich nicht nachvollziehen, was der Artikel überhaupt ausdrücken will.

    • @Dr. McSchreck:

      Auch aus einer liberal-atomistischen Betrachtung heraus kann ein alter weißer Mann mal zur Seite gehen, wenn die lesbische dunkelhäutige Frau gern seinen Schattenplatz hätte. Früher nannte mensch dies Gentleman, heute eher Empathie.

      Es ist komplex: Um strukturelle Diskriminierung aufzubrechen, ist eine Art Gruppen-Solidarität und -Selbstbewusstsein sinnvoll bis nötig. Jedoch als Zwischenschritt, um den Universalismus der grundsätzlich gleichen Rechte um seine blinden Flecke zu erweitern, wohl nicht als letztliches Ziel.

      • @Janix:

        "Früher nannte mensch dies Gentleman, heute eher Empathie."



        Zum Glück sind wir da inzwischen weiter. Gentlemen-Verhalten ist ja reiner Sexismus.

        • @Encantado:

          Ich kann mir gut vorstellen, dass manche Zeitgenossen es tatsächlich als großes Glück empfinden, sich aus Sorge vor Sexismusvorwürfen nicht zu benehmen.

      • @Janix:

        Der Unterschied ist, dass in dem Beispiel, das sie als "empahtisch" beschreiben, die beiden Personen das miteinander klären.



        Dagegen stellt die kritisierte Strömung der Identitätpolitik einfach anhand der Gruppenzugehörigkeit fest, wer sich wie zu verhalten hat. Der Mann hat Platz zu machen, er darf nicht mal ein Danke erwarten.

        • @Dr. McSchreck:

          Danke für Ihre Erläuterung. Ich finde es völlig in Ordnung, die "natürliche Ordnung" in Frage zu stellen, dass (Beispiel) der Schatteninhaber eben ein Mann ist, denn Männer sind ja auch (mann setze hier eine Rationalisierung ein). Das darf auch gerne solidarisch in einer Gruppe geschehen. In einem 1:1 wird sich herkömmliche Macht eher durchsetzen, und liebe Mitmänner, wer will denn unverdiente Privilegien weiterhin geschenkt bekommen? Igitt.

          Ich kann auch mit zeitweiligen Quoten leben, obwohl sie mich konkret von gewissen Chancen eher ausschließen - zeitweilig, weil das Ziel m.E. universalistische gleiche Rechte und Chancen sein muss, eine solche Ausnahmeregelung also nur zur Herstellung davon dienen sollte.



          Es hat auch dies mehrere Aspekte.

  • Kulturelle Aneignung? - Also die Verwendung von kulturellen Errungenschaften eines fremden Kulturkreises?



    So wie das Tragen eines dreiteiligen Anzugs, das Spielen von Violine oder Klavier, Hochschulen oder Schulmedizin - für Nichteuropäer?



    Oder geht es dabei ausschließlich nur um ganz bestimmte Kulturen oder Errungenschaften?



    "Weißer Mann = Böse" ist auch nur Rassismus, sonst nix.



    Ich mach mir die Welt, widde widde wie sie mir gefällt.

    • @DenkeDran:

      Exakt formuliert. Dankeschön von einem alten weißen Mann....sry böser weißer alter Mann.

      • @nurmalsonebenbei:

        "sry böser weißer alter Mann."



        Das hätten Sie jetzt nicht erwähnen müssen. Das ist doch inzwischen ein Pleonasmus.

  • Ich fand nach der Lektüre des Textes wirklich erstaunlich, dass nicht einmal das Wort "Solidarität" auftaucht. Zwar wird viel über Emanzipation gesprochen, aber vielleicht verfällt die Argumentation auch innerhalb des Artikels erneut auf einen identitätspolitischen Individualismus zurück. Ein zentrales Problem der besagten Essentialismen ist ja, dass diese häufig lieber ihre Unterschiede kultivieren, als gruppenübergreifend (auch) nach Gleichheiten zu suchen, die dann wiederum zu solidarischen Bündnissen führen können. Wieso man in diesem Zuge dann eher Hans Joas erwähnt als (bspw.) Judith Butler oder Jacques Rancière, die sich seit Jahrzehnten philosophisch in ihren Werken u.a. an diesen Fragen abarbeiten, bleibt ein Geheimnis oder will man innerhalb bestimmter linker Kreise eben nicht wahrnehmen.

  • Mir fehlen die offensichtlichen Widersprüche der identitätspolitischen Theorie und Praxis:

    Gegen Ethnozentrismus sein, aber selbst auf Amerikazentrismus basieren (die Welt als "Weiß vs. Schwarz/Nichtweiß"; "BIPoC")

    Forderung des konsequenten Antirassismus, bei gleichzeitiger Unterstellung von Rassemerkmalen.

    Dominanzkultur wird kritisiert, gleichzeitig eine eigene Dominanzkultur angestrebt.

  • Ich war und bin für Randbebauung. Wenn erstmal die Ränder weg sind, ist quasi schon mal einiges gewonnen.

    • @Vigoleis:

      Ich war und bin gegen Randbebauung. Wenn erstmal die "Ränder" weg sind, ist der Rest auch bald verloren.

      • @rbcattell:

        Ich war und bin für Rand-Rückbau. Berlin ist sowieso viel zu voll.

  • mit Vögeln gefällts mir dort am besten.