Homofeindliche Gewalt in Aue: Warum musste er sterben?

Drei junge Rechtsextreme quälen ihren schwulen Freund, bis er stirbt. War das eine politische Tat? Ein Gericht findet: Nein.

Christopher W. aus Aue

Christopher W. aus Aue. Drei seiner besten Freunde prügelten ihn zu Tode Foto: Michael Szyszka

Christopher W. starb an einem warmen Aprilabend im Jahr 2018 in einem alten Bahnhofsgebäude in Aue. Drei seiner besten Freunde prügelten ihn zu Tode. Sie schlugen so lange auf ihn ein, bis sein Gesicht nur noch eine rote geschwollene Masse war. Auf den Gerichtsfotos sind der verrutschte Mund, der zertrümmerte Kiefer dokumentiert; dort wo die Nase war, tut sich ein Krater auf.

Als hätten sie ihm das Gesicht nehmen, seine Person auslöschen wollen.

Christopher W. war schwul – seine vermeintlichen Freunde, junge Rechtsextreme, hatten ihn mehrfach deswegen beschimpft. Er galt als schwach, als Opfertyp, über Monate hinweg war er von diesen Freunden ausgenutzt worden, sie schickten ihn zum Klauen, kauften sich von seinem Geld Drogen. Eine Bekannte sagte später vor Gericht, er sei ein „Sklave“ gewesen. Ab und zu züchtigten sie ihn auch körperlich, sie brachen ihm die Nase und schnitten seinen Arm mit einem Cuttermesser auf. Trotzdem war er oft fröhlich und gut drauf; hatte er Drogen genommen, war er aufgedreht. Auch das nervte seine Freunde offenbar, erzählten Zeugen vor Gericht.

An dem Abend seines Todes trug er ein T-Shirt, auf dem stand: „Do you think, I am too crazy? You will miss me, when I’m gone“ – „Glaubst du, ich bin zu durchgeknallt? Du wirst mich vermissen, wenn ich weg bin.“

Das Gericht kann kein Motiv benennen

Die Polizei fand schnell heraus, dass es die drei jungen Männer waren, die Christopher W. umgebracht haben. Im Zuge der Ermittlungen stellen sie fest: Die Tat ist möglicherweise politisch rechts motiviert, sie meldeten sie dem Innenministerium. Das Innenministerium veröffentlichte die Tat in der Statistik über politisch motivierte Kriminalität; als einziges rechtsextremes Tötungsdelikt des Jahres 2018.

Die Staatsanwaltschaft und das Gericht kamen jedoch im Juni 2019 zu einem anderen Schluss: Sie können zwar kein Motiv benennen, die Tat lässt sie ratlos zurück; für sie ergibt sich jedoch aus der Hauptverhandlung kein rechtsextremer Hintergrund der Tat und kein Hinweis auf ein Hassverbrechen.

Am Abend seines Todes trug er ein T-Shirt, auf dem stand: „Do you think, I am too crazy? You will miss me, when I’m gone“

Terenc H., Stephan H. und Jens H. werden schließlich verurteilt, wegen Totschlag. Stephan H. und Jens H. zu 11 Jahren Haft, Terenc H. zu 14 Jahren, weil die Richterin davon ausgeht, dass Terenc H. der Initiator der Tat war. Einziger Beleg dafür ist allerdings die Einlassung von Stephan H., die das Gericht für am glaubwürdigsten hielt.

„Ich sehe hier vor Gericht selten so junge Gesichter. Sie haben in menschenverachtender Weise jemanden getötet“, sagte die Richterin in ihrer Urteilsbegründung. „Es ist eine Tat, die für die Kammer außergewöhnlich bleiben wird. Sie haben einen getötet, der in Ihrem Kreis gelebt hat. Sie haben den ganzen Tag sinnlos verbracht. Mit dem Geld vom Staat haben Sie den Kauf von Alkohol finanziert.“

Opferberatung: Die Tat ist schwulenfeindlich

Die Worte der Richterin sind hart, aber für sie ist die Tat kein Fall von Hasskriminalität, sondern eher ein Exzess im Drogen- und Alkoholrausch. Eine rechte Motivation erwähnt sie nicht. Stattdessen sagt sie: „Die Motivation der Täter konnten wir uns in der Hauptverhandlung nicht erschließen.“

Als das bekannt wird, protestiert die Opferberatungsstelle der RAA Sachsen, die den Fall vor Gericht begleitet hat. Für sie war die Tat schwulenfeindlich und wurde begangen, weil die Täter das Opfer als minderwertig ansahen. Dafür sprächen das Verhalten der Täter vor und nach der Tat, die Brutalität des Verbrechens und auch die rechtsextreme Vergangenheit der Täter.

Das Opfer ist tot, die Täter sind verurteilt. Ob die Tat politisch motiviert war, ist diese Frage wirklich so wichtig? Und wenn ja, wie lässt sie sich beantworten?

Die Recherche zu diesem Fall umfasst Gespräche mit dem psychiatrischen Gutachter, mit dem Staatsanwalt, den Anwälten der Täter, der Opferberatung der RAA Sachsen, mit lokalen Abgeordneten und Aktivisten, mit Geschwistern, Nachbarn und Bekannten der Täter und des Opfers. Außerdem war es möglich, einen Teil der Gerichtsakten einzusehen.

Im Zuge der Recherche wird deutlich, dass nicht eindeutig geklärt ist, wann eine Tat politisch motiviert ist. Wenn drei Rechtsextreme einen jungen, schwulen Mann quälen und töten, kann man ihre Ideologie dann als handlungsleitend verstehen? Wie kann das Gericht das herausfinden und belegen?

Die vielleicht noch wichtigere Frage: Will sich das Gericht überhaupt mit einer politischen Motivation befassen? Zumindest im Fall Christopher W. zeigt sich: eher nicht.

Der Staatsanwalt ist ratlos

Staatsanwalt Stephan Butzkies hat in seinem Plädoyer gesagt: Er habe versucht, eine Erklärung für die Tat zu finden, aber er sei daran gescheitert. Wenn er nachts darüber nachdenke, frage er sich: Was hat die denn da geritten? Und er sagt: „Die Tat überschreitet meinen Verstand.“

Sie ließen Christopher W. liegen und bedeckten die Grube mit der Tür. Dann wuschen sie sich das Blut ab und gingen in eine Kneipe, um Fußball zu schauen

Hasskriminalität und rechte Gewalt zeichnen sich dadurch aus, dass die Taten scheinbar sinnlos sind. Denn sie ergeben nur dann Sinn, wenn man der rechten Ideologie folgt, die davon ausgeht, dass bestimmte Menschen aufgrund ihrer Abstammung oder Sexua­lität weniger wert sind als andere.

Wenn der Staatsanwalt so ratlos war, warum hat er nicht nach der einzigen Erklärung gegriffen, die im Raum stand? Nämlich dass die Tat einen homophoben Hintergrund haben könnte, wie die Polizei bereits festgestellt hatte? Warum ist er in seinem Plädoyer mit keinem Wort darauf eingegangen?

Stephan Butzkies erklärt sich zu einem Treffen bereit, im Gebäude des Amtsgerichts Chemnitz, wo er sein Büro hat.

„Ist nicht nachzuweisen“

Butzkies fühlt sich ungerecht behandelt. Es regt ihn auf, dass bei der Beurteilung des Falls nicht abgewartet wurde, zu welchem Schluss das Gericht kommt, und dass die Tat schon vorher in der Statistik über politisch motivierte Kriminalität geführt wurde. Das liegt aber im Wesen der Statistik: Sie ist eine Eingangsstatistik. Die Polizei beurteilt die Delikte und leitet sie ans Innenministerium weiter, das Gerichtsverfahren wird nicht abgewartet. Die Statistik gilt als Frühwarnsystem.

Staatsanwalt Butzkies sagt: „Dass ein Tatbeteiligter sich vor der Tat abfällig über die Sexualität des Opfers geäußert hat, das steht fest. Auch dass alle drei Täter rechtsgerichtet waren. Aber nicht jeder, der rechtsgerichtet ist, begeht aus dieser Motivation heraus Straftaten. Man muss schauen: Was ist belegt, was ist keine Spekulation? Das mit der rechten Motivation stand mal im Raum, ist aber nicht nachzuweisen. Wenn man etwas nicht nachweisen kann, dann kann man es nicht als gegeben annehmen.“

Nur: Das Gericht hat keine Anstrengung unternommen, eine rechte Motivation nachzuweisen. Der psychia­tri­sche Gutachter hatte keinen Auftrag, das herauszufinden. Er sollte lediglich entscheiden, ob bei den Tätern psy­chia­trische Krankheiten vorliegen und ob ein Entzug im Maßregelvollzug sinnvoll ist. Der Gutachter gab jedoch auch ohne konkreten Auftrag an, dass aus seiner Sicht kein rechtes Motiv handlungsleitend war. Wie er darauf kommt? Die Täter haben es in der Befragung nicht als Motiv angegeben. Aber er sagt auch: „Wer würde das schon in einer strafrechtlichen Begutachtung so zum Besten geben?“ Auch für ihn ist die Tat bis heute rätselhaft geblieben.

Die Täter und das Opfer feierten gerne zusammen

Aue ist eine Stadt mit 16.000 Einwohnern am Rande des Erzgebirges, von hier aus sind es 30 Kilometer zur tschechischen Grenze. Seit der Wende hat die Stadt 38 Prozent der Bevölkerung verloren, vor allem junge Leute ziehen weg.

Terenc H., Jens H. und Christopher W. lebten hier und kannten sich seit mehreren Jahren. Sie wohnten in einem Haus und hingen fast täglich zusammen ab. Jens H. war bei Terenc H. eingezogen, weil er aus seiner Wohnung geflogen war. Christopher W. lebte im Stockwerk darunter, Jens H. hatte seine Möbel bei ihm untergestellt. Stephan H. stieß etwa einen Monat vor der Tat zu der Gruppe. Er lebte etwas außerhalb in einem Heim für Suchtkranke und kam mit dem Bus zum Postplatz in Aue, wo sie sich oft trafen, um Drogen zu nehmen und zu trinken. Ab und zu feierten sie auch im Gebäude des alten Güterbahnhofs Partys. Dort wurde Christopher W. später umgebracht.

Es ist schwierig, etwas über die Vorgeschichte und den Charakter von Chris­to­pher W. herauszufinden, denn seine leiblichen Eltern sind tot, sein Halbbruder wohnt weit entfernt, und seine Stiefmutter möchte nicht mit der Presse sprechen. Vordergründig führte er ein stabileres Leben als die Täter: Er machte eine Ausbildung zum Koch und hatte eine eigene Wohnung. Er lebte offen schwul, ein paar Monate lang hatte er auch einen Partner.

Stephan H., der erst einen Monat vor der Tat zu der Gruppe dazugestoßen war, ist der Täter, der durch homophobe Äußerungen aufgefallen ist. Es ist denkbar, dass sich durch ihn die Gruppendynamik verändert hat.

Am Tag der Tat hörte er noch die Rechtsrockbands Sleipnir und Blitzkrieg, erzählte er dem Gutachter im Gespräch. Auf seine beiden Hand­rücken hatte er jeweils eine Triskele tätowiert, eine Variante des Hakenkreuzes, die zum Beispiel von der Neonazi-­Organisation Blood and Honour verwendet wird. Am Tag der Urteilsverkündung erschien er in einem Sweatshirt von Thor Steinar, einer in der rechtsextremen Szene beliebten Marke.

Christopher W. hatte Angst vor Stephan H.

Mehrere Zeugen sagten im Prozess aus, dass Stephan H. sich abfällig über die Homosexualität von Christopher W. geäußert habe und dass Christopher W. Angst vor Stephan H. gehabt habe.

Der Zeuge Tommy H. sagte vor Gericht: „Das Verhältnis von H. zu Christopher war nicht so gut, weil Christopher schwul war. Er hat ,Du Schwuchtel, verpiss dich' gesagt. Es war ein Schwulenhass. An dem Tag, wo wir auf dem Postplatz standen, sagte er: ,Die Schwuchtel ist auch noch dran.'“

Die Zeugin Sina H. schildert in einer E-Mail an die Polizei den Abend vor der Tat: „Stephan hatte mit Christopher am Montagabend einen Streit, wo Stephan Christopher sehr aggressiv entgegentrat. Stephan hatte deutlich zu Christopher gesagt, dass er ein sehr starkes Problem mit homosexuellen Schwulen hätte und dann meinte er: ,Ich schlage dir deinen Kopf ab.' “

In seiner Einlassung deutet Stephan H. sogar selbst ein homophobes Motiv an. An der einzigen Stelle, an der er sich dazu äußert, warum er Christopher W. umgebracht hat, schreibt er: „Ich wollte dem Christopher eine Lektion erteilen. Ich wollte dem sozusagen begreiflich machen, dass es nicht geht, dass der es akzeptieren soll. Zum Beispiel mit dem Tanzen. Ich hab nichts gegen Schwule. Die haben alle ihre eigene Welt, aber wenn die mir aufs Schwein gehen und ich sage, ich möchte das nicht, dass er tanzt oder irgendwas sagt, wo gerade gar nichts lustig, sondern alles zur Zeit tragisch ist, weil ich ja dachte, weil ich meine Freundin verloren habe und er tanzt, da hat mich das alles aggressiv gemacht. Na ja, da habe ich dem eine geschlagen und wollte dem die Lektion somit erteilen, dass er aufwacht. Dass er mal von seiner Welt dort wegkommt. Aber dass das dann wirklich so ausartet, das hätte ich nie gedacht.“

Ein Hakenkreuz als Schlüsselanhänger

Im Jahr 2015, mit 18 oder 19, wurde Stephan H. zu einer „erzieherischen Maßnahme“ verurteilt, weil er auf Face­book eine SA-Standarte mit Hakenkreuz gepostet hatte. Schaut man sich seine vier verschiedenen Facebook-Seiten heute an, sieht man Reichskriegsflaggen, ein Cover der Neonazi-Band Die braunen Stadtmusikanten, das in der rechten Szene beliebte heidnische Symbol Thorshammer und sehr viel den Nationalsozialismus verherrlichendes Material zum Zweiten Weltkrieg. In seinem Zimmer im Wohnheim hingen Bilder von Soldaten mit SS-Stahlhelm und ein Reichskriegsadler mit Hakenkreuz. Seine Polizeiakte umfasst 22 Einträge, darunter Nötigung, schwerer Diebstahl, Hausfriedensbruch in einer Behindertenwerkstatt, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Raub. Vor Gericht gibt ein Ausbilder der Holzwerkstatt, in der er arbeitet, an, dass Stephan H. bei ihm einen Hakenkreuzschlüsselanhänger aus Sperrholz gebastelt hatte.

Stephan H. kommt wie die beiden anderen Täter aus schwierigen Familienverhältnissen. Der Vater von Stephan H. hat einen Menschen getötet, die Mutter war Alkoholikerin. Sie leben getrennt voneinander. In einer schriftlichen Einlassung schildert Stephan H. folgende Erinnerung aus der Kindheit: „Meine Mutter bevorzugte den Alkohol mehr als ihre eigenen Kinder. Als ich dann anfing, mich so weit selber zu erziehen, sagte meine Mutter mir und meinem Zwillingsbruder nach unseren Fragen, wo unser Vater sei, dass er meine Mutter in den Magen schlug, als sie schwanger mit uns war, weil er keine Kinder wollte. Wir wussten nicht, wie wir uns nach dieser Nachricht verhalten sollten.“ Stephan H. begann, exzessiv zu trinken.

Stephan H. hatte wohl einen großen Anteil an der Tat. Terenc H. und Jens H. beschreiben in ihren Einlassungen übereinstimmend, dass Stephan H. wie von Sinnen war. Er soll mit einer Stange und einer Tür auf Christopher W. eingeschlagen haben.

Stephan H. schildert in seiner schriftlichen Einlassung ebenfalls einen erheblichen Tatanteil, er gibt aber auch an, dass Terenc H. ihn angestiftet habe: „Er hatte gesagt, dass er den Christopher weghaben will. Und da habe ich gesagt, wie ihn weghaben. Und da hat er gesagt, er will ihn halt umbringen, und ich habe mir da erst einmal nichts dabei gedacht.“

Einer der Täter ist geistig behindert

Die Einlassung wird vom Gericht als glaubwürdig bewertet, weil Stephan H. immer dabei geblieben ist und weil er darin auch beschreibt, wie er selbst gewalttätig wurde. Sie ist der einzige Grund dafür, dass Terenc H., der als geistig behindert gilt, letztlich als Anstifter verurteilt wird.

Auch Terenc H., der angeblich beste Freund von Christopher W., hat eine komplizierte Familiengeschichte. Zu seinem Vater und seiner Mutter hat er keinen Kontakt mehr. Als er klein war und zeitweise beim Vater lebte, sperrte dieser Terenc H. und seinen Bruder in einen Raum und reichte ihnen Essen durch eine Luke. Terenc H. hat selbst eine Tochter, die 2012 geboren wurde, zu der aber kein Kontakt besteht. Er hat einen IQ von 64, ist Analphabet, lebt von Sozialhilfe und ist schwer alkohol­abhängig. Der Grund für seine geistige Behinderung ist unklar. Der Gutachter ist aber überzeugt davon, dass er trotz seiner Behinderung erkennen kann, was richtig und falsch ist – deshalb gilt er als schuldfähig.

Auch seine Polizeiakte ist lang, sie umfasst 27 Einträge. Darunter sind Körperverletzungen, Diebstähle und Betrug, aber auch zwei rechte Delikte: Im Jahr 2013, im Alter von 22 Jahren, soll er mit nacktem Oberkörper über den Postplatz in Aue gelaufen sein, mit einem Hakenkreuz auf seiner Brust. Das Verfahren wurde eingestellt. Im Jahr 2017 wurde er zusammen mit Jens H. auffällig, wegen „Beleidigung durch lautstarke Äußerung antisemitischer Parolen“. Dieses Verfahren wurde ebenfalls eingestellt.

24 Einträge in der Polizeiakte

Auch der dritte Täter, Jens H., hatte eine komplizierte Kindheit. Er wurde von Heim zu Heim geschickt. Zeitweise lebte er wieder bei seiner Mutter, sein Vater ist 2012 gestorben. Ihr neuer Freund, der auch schon in Haft war, hat die Mutter oft geschlagen. Seine Ausbildung als Schlosser hat Jens H. abgebrochen, auch er trank.

In seiner Polizeiakte stehen 24 Einträge. Darunter sind Brandstiftung, gemeinschädliche Sachbeschädigungen, Körperverletzungen und Einfuhr von illegalen Feuerwerkskörpern.

Im Jahr 2010, als er 13 oder 14 war, wurde er auffällig, weil er „Heil Hitler!“ in der Öffentlichkeit rief. Das Verfahren wurde eingestellt. Fünf Jahre später wiederholte sich das, auch dieses Verfahren wurde eingestellt. Im Jahr 2017 rief er zusammen mit Terenc H. antisemitische Parolen. Verfahrenseinstellung.

Im Juni 2014 traf Jens H. auf einen älteren Mann, der im Garten seines Hauses arbeitete. Jens H., der seinen Oberkörper mit einem Hakenkreuz und mit SS-Runen bemalt hatte, näherte sich mit zwei Freunden. Aus einem mitgeführten CD-Player hörten sie Rechtsrock von der Gruppe Landser. Die Jugendlichen grölten und riefen „Sieg Heil!“. Nach einem Wortwechsel, in dem der ältere Mann sie zurechtwies, bewarfen sie ihn mit Glasflaschen, Jens H. verpasste ihm einen Kinnhaken. Schließlich riefen sie „Wir kommen wieder“ und verschwanden. Die herbeigerufene Polizei zeigte sich unwillig, die Angreifer zu verfolgen. Der ältere Mann fühlte sich nicht ernst genommen; heute sagt er, die Polizisten hätten ihn als linksradikal hingestellt. Hätte der Mann keine Beschwerde gegen die Einstellung des Verfahrens eingelegt, wäre auch dieser Vorgang ad acta gelegt worden. So wurde Jens H. zu Sozialstunden verurteilt.

Straftaten wie Warnlampen

Wer die Biografien dieser drei jungen Männer über die Jahre verfolgt, den beschleicht das Gefühl, dass ihre Straftaten wie Warnlampen sind, die immer häufiger aufleuchten. Alle drei hatten mal Betreuer, lebten in einem Heim oder einer Entzugseinrichtung, hatten also Zugang zum staatlichen Hilfesystem; trotzdem hat sich offenbar niemand für sie verantwortlich gefühlt. Man hoffte wohl, dass sie trotz der Vernachlässigung, die sie erfuhren, keinen größeren Schaden anrichten würden.

Was die vier jungen Männer verband, ist schwer zu fassen. Es war eine Beziehung, die sie Freundschaft nannten, die aber darauf beruhte, dass einer von ihnen ausgenutzt und erniedrigt wurde. Sie schickten Christopher W. regelmäßig zum Klauen und forderten einen Teil seines Einkommens. Sie zerschnitten seine Krankenkarte und nahmen ihm seinen Schlüssel ab.

Und sie verletzten Christopher W. immer wieder. Einige Wochen bevor sie ihn umbrachten, hatte Terenc H. bereits am späteren Tatort auf Christopher eingeschlagen und ihm die Nase gebrochen; im alten Bahnhofsgebäude waren noch Blutspuren davon zu sehen.

Der Zeuge David T. sagte dazu: „Terenc H. war, wenn er nüchtern war, immer sehr zurückhaltend; wenn er getrunken hatte, war er das Gegenteil. Es gab auch eine Gegebenheit, das war etwa einen oder zwei Monate vor der Tötung des W., da kam der Terenc H. uns hibbelig entgegen und sagte, dass er gerade einen Schwulen zusammengehauen hat.“

„Du weißt gar nicht, wie die sind“

Eine Woche vor der Tat schlug Terenc H. Christopher W. eine Bierflasche ins Gesicht.

Die Zeugin Karin L. sagte vor Gericht über Christopher W.: „Ich war für ihn eine Person, wo er mal was loswerden konnte, ich habe ihn auch mal ins Krankenhaus gebracht. Er sagte mir: ­Terenc H. hat schon wochenlang meine Schlüssel. Christopher kam selbst über das Fenster in die Wohnung. Er war der Sklave, ist zu Dingen benutzt worden. Er sagte: Du weißt gar nicht, wie die sind. Die haben die ganze Wäsche zu ihm gebracht. Das Geld wurde dem Christopher immer abgenommen von denen im Haus. Er sagte, er habe solche Angst, er mache manchmal ins Bett.“

Christopher W. muss wohl sehr verzweifelt gewesen sein und schwer alkohol- und drogenabhängig.

Wenige Monate bevor er getötet wurde, fand ihn die Bundespolizei in einem Ort an der tschechischen Grenze. Der Drogentest war positiv, er habe auf Ansprache nicht reagiert und wurde ins Klinikum Aue eingewiesen.

Stephan H. zerschnitt Christopher W. den Arm

Schon in den Monaten davor war Christopher W. immer wieder hilflos und betrunken aufgefunden worden, oft hatte er Suizidgedanken geäußert, einmal hat er in seiner Wohnung randaliert und wollte von der Bahnhofsbrücke springen. Er wurde immer wieder ins Klinikum Aue eingewiesen.

War er deshalb so verzweifelt, weil er über Monate von den Tätern, seinen vermeintlichen Freunden, drangsaliert worden war?

Als der Fall vor Gericht verhandelt wurde, hörte man zwar vom Staatsanwalt oder den Anwälten öfter die Formel „Pack schlägt sich, Pack verträgt sich“, die die Beziehung zwischen Christopher W. und seinen Peinigern charakterisiert haben soll. Aber tatsächlich war es so, dass Christopher W. niemanden schlug. Er wurde geschlagen. Die Beziehung zwischen den jungen Männern beruhte darauf, dass Christopher W. sich als Opfer darbot. Dafür durfte er Teil der Gruppe sein.

Am Tag vor der Tat zerschnitt Stephan H. mit einem Cuttermesser den Arm von Christopher W.

Er wolle ihm den Kopf abschlagen

Der Zeuge Philipp S. sagte dazu vor Gericht: „Ich habe H. einen Tag vor der Tat kennengelernt. H. war aggressiv zu Christopher, was das Thema schwul angeht. H. war alkoholisiert. Es kam das Thema auf, wie man es richtig macht, sich selbst zu verletzen. Ich gab dazu mein Cuttermesser. Er hatte ihn am Arm gepackt und das Messer auf den Arm gedrückt. Dann wurden seine Hände in Glasscherben gerieben. Hinterher waren Terenc H. und Jens H. bedrückt. Ein Großteil der Gruppe hat gesagt, Stephan H. soll aufhören. H. ließ sich kurzzeitig beruhigen. Er wollte sich dann noch entschuldigen. Christopher hat seine Hand nicht genommen. Ich habe das als provokant gesehen.“

Am selben Abend sagte Stephan H. zu Christopher W., dass er ein starkes Problem mit Schwulen habe und dass er ihm den Kopf abschlagen wolle.

Am Tattag selbst war Christopher W. ziemlich bekifft und gut gelaunt, erzählen Zeugen.

Die Zeugin Jasmin M. erzählte vor Gericht: „Wir waren am Tattag im Dönerhaus gegenüber und dann sind wir auf den Postplatz gegangen. Jens und Terenc hatten Alkohol getrunken, das hat man teilweise gemerkt. An dem Tag waren sie fröhlich. Zwischendurch gab es mal Streit. Christopher hat getanzt, dann hat Stephan gesagt, er solle aufhören zu tanzen, sonst ramme er ihm eine Bierflasche in die Kehle. Christopher stand unter Drogen, war deswegen fröhlicher. Stephan hat das Tanzen gestört. Er hat dann versucht, das zu unterdrücken.“

Christopher W. ging freiwillig

Warum genau Christopher W. wenig später mit den drei anderen am Tattag zum alten Bahnhofsgebäude aufbrach, ist unklar, die Täter haben dazu verschiedene Angaben gemacht. Fest steht: Christopher W. ging freiwillig. Und das, obwohl er im selben Gebäude bereits gequält worden war. Im Vorübergehen fragte er Bekannte, wie es ihnen gehe und ob alles gut sei.

Stephan H. beschreibt in seiner Einlassung, wie der weitere Abend verlief: „Der Christopher rannte voraus. Der wollte Fangen spielen und ich hatte keinen Bock auf Fangen und die anderen hatten auch keine Lust. Der ist da nur rumgerannt. Ich habe mit Jens bloß gequatscht, ob wir uns morgen wieder treffen wollen, vielleicht Bier zusammen trinken wollen. Wir sind dann rein in so ein Gebäude, also eine große Halle war das und da lag übelst viel Plunder rum, übelst viel Müll und da waren wir dann zu viert drinne und der Christopher war an der Wand und hat gezeigt, weil ich wissen wollte, was das ist. Da hat er gesagt, das ist mein Blut. Da hatte Terenc mich hier mal zusammengeprügelt, und da habe ich gesagt, aha und warum sind wir jetzt hier.“

Jens H. und Terenc H. geben in ihren Einlassungen an, dass es auf dem Weg zum Bahnhofsgebäude schon Streit gab, weil Christopher W. über die Täter herumerzählt haben soll, dass sie Drogen nehmen.

„Wie in einem Blutrausch“

Der anschließende Tatverlauf ist unklar, jeder der Täter macht unterschiedliche Angaben. Alle wollen Christopher den ersten Schlag versetzt haben. Unstrittig ist, dass es in den nächsten zwanzig Minuten zu einem Gewaltexzess kam, bei dem die Täter auf Christopher W. mit einer Tür und einer Stange einschlugen. Christopher W. wurde bewusstlos und fiel in eine Grube, die bei früheren Gelegenheiten zum Pinkeln benutzt worden war. Dort schlugen sie weiter auf ihn ein, bis er starb.

Jens H. und Terenc H. schrieben in ihren Einlassungen übereinstimmend, dass Stephan H. den Hauptanteil an der Tat hatte. Bei Terenc H steht: „Stephan H. war wie in einem Blutrausch.“ Er war der, der mit Stange und Tür auf Christopher W. einschlug. Beide geben an, Angst vor ihm gehabt zu haben.

Das Gericht bewertete jedoch die Einlassung von Stephan H. als glaubwürdiger. In der gibt er an, dass Jens H. mit der Eisenstange auf Christopher W. eingeschlagen und Terenc H. die Tür benutzt habe.

Sie ließen Christopher W. liegen und bedeckten die Grube mit der Tür. Dann wuschen sie sich das Blut ab und gingen in eine Kneipe in der Stadt, um Fußball zu schauen. Als ihn später Bekannte zu Hause besuchten, hob Terenc H. die Hand zum Hitlergruß, begrüßte sie mit „Sieg Heil!“. Er führte einen von ihnen ins Bahnhofsgebäude, um ihm die Leiche zu zeigen. Von dort rief Terenc H. die Polizei und gab an, den Toten gefunden zu haben. Zwei Tage nach der Tat postete er bei Facebook: „Ich vermisse dich so sehr, Christopher“.

Stephan H. prahlte dagegen mit der Tat. Auf dem Weg zu seiner Ausbildungsstätte am Tag danach traf er auf Tommy H. Der berichtete bei der Polizei: „Er fing von sich aus an zu erzählen, dass er gestern jemandem aufs Maul gehauen habe. Er prahlte förmlich damit. H. meinte, derjenige würde auch nie wieder etwas essen können.

Christopher W. wurde 27 Jahre alt.

Aus einer sozialdarwinistischen Motivation heraus

Wer sich damit beschäftigt, wann eine Gewalttat politisch motiviert ist, sollte mit Kati Lang sprechen. Die Rechtsanwältin, die in Dresden lebt, hat mit ihrer Dissertation „Vorurteilskriminalität“ ein Standardwerk geschrieben. Für sie spricht nach der Schilderung der Vorgeschichte und des Tatablaufs viel dafür, dass Christopher W. aus einer homophoben und sozialdarwinistischen Motivation heraus umgebracht wurde.

Einen schwachen Menschen in der Gruppe zu wählen und ihn zu quälen ist ein Charakteristikum von rechten Taten, sagt sie. „Man muss sich vom klassischen Verständnis von ,politisch' lösen. Auf Schwächste draufzuhauen wird oft noch als Norm gesehen.“ Dabei ist das Recht des Stärkeren ja das eigentliche Kernelement des Rechts­ex­tre­mismus.

Zu rechter Gewalt, die aus sozialdarwinistischer Motivation heraus begangen wird, gebe es allerdings ganz wenig Empirie, sagt sie. „Das ist der Bereich der Hasskriminalität, der am schlechtesten beleuchtet ist. Es handelt sich oft um Taten im Milieu; um Taten, bei denen es eine persönliche Beziehung gibt.“ Täter greifen dann jemanden aus ihrer Gruppe an, der nicht der Gruppennorm entspricht. Homosexualität sei eine klassische Abweichung von der gängigen Gruppennorm. Es kann sich dann auch um eine Tat handeln, die nicht nur aus Schwulenfeindlichkeit, sondern vor allem infolge eines heteronormativen Menschenbilds begangen wird. „Man schlägt den scheinbar schwächsten Mann.“

„Dumme können politische Täter sein“

Kati Lang hat vor Gericht schon oft gehört, jemand sei „grundlos“ angegriffen worden. „Man kann das positiv sehen – für die Justiz ist das einfach kein Grund“, sagt sie. „Das ist aber die völlig falsche Herangehensweise. Dass jemand als ,minderwertig' gilt, ist für die Täter sehr wohl ein Handlungsgrund, ein Motiv.“ Die Bildungselite könne sich oft nicht vorstellen, wie so etwas funktioniert. „Richterinnen und Staatsanwälte haben eine bestimmte Vorstellung davon, wie ein Rechtsex­tre­mer so ist. Für sie muss jemand ein Staatsfeind sein, um rechte Gewalt zu begehen. Jemandem, den man als wenig intelligent wahrnimmt, dem traut man keine politische Haltung zu. Vermeintlich Dumme können aber natürlich auch politische Täter sein.“

Ob die Tat nun eine politische Tat war oder nicht – macht das wirklich einen so großen Unterschied?

Ja, juristisch: Hätte das Gericht festgestellt, dass die Täter Christopher W. aus einer schwulenfeindlichen oder sozialdarwinistischen Motivation heraus getötet haben, wäre es möglich gewesen, sie wegen Mordes zu verurteilen – wegen des Mordmerkmals der niederen Beweggründe. Dann wären sie unter Umständen zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden.

Ja, gesellschaftlich: Die Gesellschaft hat sich daran gewöhnt, dass es Verrückte gibt, die sinnlose Taten begehen. Wenn es aber keine sinnlose Tat war, sondern eine, die auf Grundlage einer Ideologie geschehen ist, dann hätte die Gesellschaft eine Verantwortung. Und diese Verantwortung wirkt sich ganz konkret aus: auf die Finanzierung von Beratungsstellen, auf den Schutz von exponierten Gruppen, auf die Ausstattung und die Sensibilität des Staatsschutzes.

Ja, für die Angehörigen und für andere Opfer: Indem politische Taten entpolitisiert werden, lässt das Gericht Opfer und Angehörige hilflos zurück. Oft handelt es sich dabei um besonders verstörende und brutale Taten wie im Fall von Christopher W. Sie waren „sinnlos“, heißt es dann immer. Aber wenn eine Tat sinnlos war, ist es schwer, sie zu verarbeiten. Man kann sie nicht verstehen, sie nicht einordnen, keine Menschen finden, denen etwas ähnliches passiert ist.

Das Gericht hätte alle Möglichkeiten gehabt, den Fall umfassend aufzuklären; die rechte Vergangenheit der Täter zu beleuchten, die homophoben Äußerungen und die Gruppendynamik zu bewerten und den Hitlergruß nach der Tat zu einzuordnen. Es hat diese Chance versäumt.

Der Staatsanwalt, der Gutachter und die Richterin – sie alle sagen, sie haben keine Ahnung, warum Christopher W. sterben musste. Wirklich, nicht einmal eine Ahnung?

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