piwik no script img

Hochschulforschung in DarmstadtStadt der Zukunft

Die Hochschule in Darmstadt will eine zukunftsorientierte Stadtentwicklung. Dafür arbeiten Forscher gemeinsam mit Ver­waltung und Aktivisten.

Lastenfahrrad von „LieferadDA“, einem Lieferrad-Dienst, der während Corona gegründet wurde Foto: Ewald Breit

Berlin taz | Darmstadt, Hessens viertgrößte Stadt, ist nach eigenem Verständnis eine Wissenschaftsstadt und hat dies sogar, einem Doktortitel gleich, zum Namensbestandteil gemacht. Auf allen Briefköpfen und Verlautbarungen der von einem grünen Oberbürgermeister geführten Stadtverwaltung prangt der Eigenname „Wissenschaftsstadt Darmstadt“. Vielleicht nur eine vorübergehende Mode, denn vor Jahren war ein anderer Terminus im Schwange: „Digitalstadt“.

Doch Fakt ist, dass die südhessische Metropole (160.000 EinwohnerInnen 50.000 Studierende) von ihren Forschern und Gelehrten viel hält: Neben der renommierten Technischen Universität und einem Kontrollzentrum der Europäischen Raumfahrtbehörde ESA ist auch das Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung in Darmstadt angesiedelt. Zugleich erwartet man einiges von der Wissenschaft. Aus dem Ansatz, die Produkte und Fähigkeiten der Wissenschaft systematisch für die weitere Entwicklung der Stadt zu nutzen, sind auch die „Tage der Transformation“ entstanden, die in der kommenden Woche zum dritten Mal stattfinden.

Die Kooperation von Wissenschaft, Wirtschaft und Stadtverwaltung hat in Darmstadt nach den Worten von Oberbürgermeister Jochen Partsch dazu geführt, „dass wir in einer besonderen Art und Weise die Wertschöpfungsketten in unserer Stadt abbilden können“. Damit meint er den Transfer von der Grundlagenforschung über die angewandte Forschung, die Produktentwicklung, die eigentliche Produktion in den Unternehmen bis bin zum Vertrieb im Handel. „Das findet man in dieser Form in wenigen anderen europäischen Städten unserer Größenordnung“, hebt Partsch hervor. „Und das gibt uns die Chance, unsere städtische Politik mit sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit zu verbinden“.

Darmstadt hat sich in den vergangenen fünf Jahren „stark in Richtung einer nachhaltigen Entwicklung aufgemacht“, sagt Torsten Schäfer, der an der Hochschule Darmstadt, einer Fachhochschule, die erste Professur für „grünen Journalismus“ innehat. Dieser Trend habe mit vielen Faktoren zu tun, „sicher auch den starken Grünen, einer sehr lebendigen Verbands- und AktivistInnen-Szene, aber auch den Hochschulen, die hier zunehmend mehr aktiv sind“.

Eine Graswurzel-Gruppe

An seiner Hochschule sei das Thema Nachhaltigkeit mittlerweile zu einer festen Dimension in Lehre, Forschung und auch im Betrieb geworden. „Darmstadt ist sicher eine der Städte bundesweit, die gerade besonders schnell ergrünt und hier im Spitzenfeld dabei ist“, beobachtet Schäfer.

Zentraler Motor innerhalb der Hochschule, der vieles in Bewegung bringt, ist die „Initiative für Nachhaltige Entwicklung“ (INE), die Schäfer als eine „Graswurzel-Gruppe, die von unten wirkt“ beschreibt. In ihr arbeiten Profs, MitarbeiterInnen und Studierende zusammen.

„Und von hier gingen auch wichtige Impulse für alle anderen Ebenen aus.“ In dieser Woche war das jüngste Treffen der Gruppe. Vom Elan der Studis ist der Professor begeistert, wenn er ihre Projekte aufzählt: „Hochbeete anlegen und Vogelhäuser, Achtsamkeitsspaziergang im Wald, Nachhaltigkeitspreis für Abschlussarbeiten, den sie planen, Selbsthilfegruppe zu Überkonsum und das Projekt Kleiderstange an mehreren Orten in Darmstadt für Kleidertausch“.

Beim großen Exzellenzwettbewerb um Deutschlands Super-Unis hat Darmstadt zwar nicht punkten können. Dafür war sie 2018 beim „kleinen Exzellenzwettbewerb“, dem Bund-Länder-Programm „Innovative Hochschule“, erfolgreich. Mit ihm werden Projekte von Fachhochschulen und kleinen Unis gefördert, die sich der sogenannten „Dritten Mission“ widmen – das ist nach Lehre und Forschung der Transfer des Wissens in die Gesellschaft und die Wirtschaft. Die Hochschule Darmstadt zog mit ihren Projekt „s:ne – Systeminnovation für Nachhaltige Entwicklung“ einen der großen Fische an Land. Zehn Millionen Euro stehen für fünf Jahre zur Verfügung.

Eigener Radbelieferungsdienst für Darmstadt

Inzwischen sind im großen S:NE-Verbund 50 Personen an der Arbeit, berichtet Projektleiterin Silke Kleihauer. Das „S“ im Projektkürzel, die Systeminnovation, erklärt sie mit der Beeinflussung „soziotechnischer Systeme“. Es gehe in heutigen Zeiten des Klimawandels nicht mehr nur um Technologietransfer für Nachhaltigkeit. „Die Menschen müssen auch ihr Verhalten verändern“, sagt Kleihauer. Daher werde in Darmstadt Transfer als „rekursiver Prozess“ verstanden, bei dem die Gesellschaft und ihre Akteure von Anfang an mit einbezogen werden.

Konkret geht es bei den S:NE-Themen um zukunftsorientierte Stadtentwicklung am Beispiel des Quartiers Mollerstadt, die Digitalisierung zur Unterstützung von Prozessen Richtung einer nachhaltigen Stadtentwicklung sowie nachhaltige Konsum- und Produktionsweisen am Beispiel der Wertschöpfungsketten von Ledererzeugnissen. Besonderen Drive hat in der Pandemiezeit das Projekt eines elektrischen Lastenfahrrads mit Namen „LieferradDA“ (die DA-Buchstaben stammen vom Darmstädter Autokennzeichen) erfahren. Weil durch Corona viele Läden geschlossen seien, „hat das Projekt eine richtigen Schub bekommen“, sagt Michèle Bernhard, die bei der Schader-Stiftung das Transformationsprojekt betreut.

Ziel ist es, einen Radbelieferungsdienst für Darmstadt aufzubauen, der den lokalen Einzelhandel unterstützt und dabei die Umwelt schont. Seit dem Start Mitte 2020 wurden 1.068 Lieferungen mit dem Lastenrad ausgefahren und dabei 3.053 Kilometer zurückgelegt. Ein Problem, das als nächstes gelöst werden muss: Es gibt zu wenig öffentliche Stromtankstellen in Darmstadt.

Derweil geht die Transformation auch in der Wissenschaft weiter. So wurde an der Hochschule Darmstadt das Promotionszentrum Nachhaltigkeitswissenschaften eingerichtet, an dem – bundesweit einmalig – der akademische Grad eines Doktors der Nachhaltigkeitswissenschaften (Dr. rer. sust.) erworben werden kann. Am 1. April tritt Nicole Saenger, Professorin für Wasserbau am Fachbereich Bau- und Umweltingenieurwesen, ihr Amt als Vizepräsidentin für Forschung und Nachhaltigkeit an – auch dies ein Novum.

Fahrradschnellweg zwischen Darmstadt und Frankfurt

„Unsere Transferstrategie ist bisher einmalig in der deutschen Hochschullandschaft“, sagt Saeger gegenüber der taz „Wir wollen direkt vom Wissen ins Handeln kommen und haben hierbei die Akteure im Blick, die an der Transformation mitwirken sollen.“ Beispiel sind in Darmstadt neben dem Ausbau der Fahrrad-Infrastruktur und dem bereits bestehenden Fahrrad-Schnellweg zwischen Darmstadt und Frankfurt die Beteiligung am Klimaschutzbeirat der Stadt oder die Unterstützung der Partnerstadt Uschgorod (Ukraine) im Abfallmanagement. Die schwierigste Trans­formationsaufgabe für Darmstadt sieht Saenger in der klimaverträglichen Sanierung des Gebäudebestands und der Nutzung gebäudenaher regenerativer Energiequellen wie der passiven Nutzung von Solarenergie.

An den Transformationstagen ist auch das Frankfurter Institut für sozial-ökologische Forschung ISOE mit einem Workshop beteiligt. Unter dem Titel „Navigating the Infodemic“ sollen neue Wege der Wissenschaftskommunikation im Zeitalter von Fake News und Nachrichtenüberflutung eruiert werden.

Für ISOE-Chef Thomas Jahn ist es wichtig, das S-NE-Projekt nach dem Auslaufen der Förderung Ende 2022 weiter fortzusetzen: „Es geht darum, die an vielen Orten entstandenen neuen Ansätze weiterzuführen, also zu verstetigen“, so Jahn gegenüber der taz. Dazu wäre es wichtig, „immer wieder auch Räume zu gestalten, an denen relevante Akteure der Region sowie weitere Hochschulen, außeruniversitäre Forschung und die Zivilgesellschaft zusammenkommen“. Hierzu zählten auch die „Darmstädter Tage der Transformation“ der Schader-Stiftung, wenngleich sie in diesem Jahr nur im Internet stattfinden können.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!