Herbert Reul und der Hambacher Forst: Pinkelpause als Polizeieinsatz
Die Besetzerszene sei gewaltbereit, sagt der NRW-Innenminister. Und legt eine Statistik vor. Nur: Die ist komplett zusammengebastelt.
Der Bericht, den der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul (CDU) dem Innenausschuss am 14. Februar vorgelegt hat, erzählt eine spektakuläre Geschichte. Die „veränderte Besetzerszene“ am Hambacher Forst sei eine „gewalt- und zerstörungsaffine Straftätergruppe“. Das sehe man eindeutig an über 1500 Polizeieinsätzen in vier Monaten und knapp 1.700 Straftaten in vier Jahren: Zu entnehmen den Tabellen im Anhang des Berichts. Leider bestätigen die Tabellen, die Reul anführt, seine Geschichte nicht. Sie zeigen nur, dass seine Zahlen zusammengebastelt sind.
Wegen der vielen angeblichen Straftäter*innen im und am Hambacher Forst soll es laut Reuls Bericht über 1.500 Polizeieinsätze gegeben haben, allein in vier Monaten. „In der beigefügten Tabelle […] sind die polizeilichen Einsätze für diese außergewöhnliche Lage vom 03.10.2018 bis zum 28.01.2019 abgebildet“, schreibt der Minister.
Es ist faszinierend zu sehen, was unter „außergewöhnlicher Lage“ alles gefasst werden kann. Denn die 44-seitige Tabelle listet jeden Einsatz auf, den die Polizei im Umkreis hatte: Auch reguläre Streifenfahrten durch die Ortschaften, die Unfälle im Straßenverkehr. Zwei Unfälle in Buir stehen direkt auf der ersten Seite.
Zudem listet die Tabelle nicht über 1.500, sondern nur 616 Einsätze auf. Dies, so Reul, sei zur besseren Lesbarkeit: Gleiche Einsätze am selben Tag seien zu einem Punkt zusammengefasst, „z. B. Aufklärungseinsätze“. Damit sind die Streifenfahrten gemeint, die die Polizei anlasslos fährt, um Präsenz zu zeigen. Und zwar vor allem in den Ortschaften: Berrendorf, Elsdorf, Buir, Manheim, Morschenich, Heppendorf. Von allen 616 Einsätzen sind nur 137 keine Streifenfahrten.
Aus 1.500 mach 56 Einsätze
Rechnet man auf 1.500 hoch, ist der Anteil an Streifen sogar noch höher, weil von den Streifenfahrten fast alle stellvertretend für eine Mehrzahl von bis zu 16 Streifen stehen. Einige dieser Fahrten haben eine „Einsatzdauer“ von einer Minute: Das reicht zwar nicht für eine Pinkelpause, aber um als Einsatz gezählt zu werden, offenbar schon.
Was übrig bleibt von „über 1.500 Einsätzen“ wegen der „zerstörungsaffinen Straftätergruppe“, sind 56 Einsätze, die mit Hintergrund Hambacher Forst in der Tabelle extra gekennzeichnet sind: mehrere Räumungen von Barrikaden im Wald, Räumungen von Hausbesetzungen in Manheim und Morschenich, zweimaliges Ausrücken wegen Eindringens in den Tagebau, eine Durchsuchung von Wald, Wiesencamp und der Werkstatt in Düren, unter anderem wegen Verdachts auf schweren Landfriedensbruch und gefährliche Körperverletzung, außerdem mehrere Demobegleitungen und Waldbegehungen, Rufbereitschaften und Raumschutz. Und selbst unter der Annahme, dass jede einzelne Strafanzeige im Umkreis auf das Konto der Aktivist*innen ginge, schrumpfen „über 1.500“ auf 79 Einsätze zwischen dem 3. Oktober 2018 und dem 28. Januar 2019.
Bei den „1.674 Straftaten“ zwischen 2015 und 2018 ist es nicht viel besser. Zunächst zeigt die Tabelle keine Straftaten, wie Reul wörtlich behauptet, sondern den Verdacht auf Straftaten. Die Tabelle zeigt, wie viel und was in vier Jahren angezeigt wurde – aber eine Anzeige macht noch keine Straftat. Auch, dass von 1.674 Strafanzeigen in vier Jahren mehr als ein Drittel wegen Verstößen gegen das Versammlungsgesetz erfolgten, und davon 90 Prozent im Jahr 2015, kann nicht als Beleg für die von Reul behauptete zunehmende Kriminalität dienen.
Was einem vollständigen Bild der Kriminalität hingegen dienlich wäre, wären weitere Zahlen zu Verurteilungen. Doch Reul hat – so zitiert er selbst den Leitenden Oberstaatsanwalt von Köln – den Staatsanwaltschaften nicht genügend Zeit gelassen, um die Zahlen aus vier Jahren zusammenzutragen. Im Anhang von Reuls Bericht findet sich eine Auflistung von insgesamt 19 Verurteilungen. 13 aus Aachen und 6 aus Köln.
Was bleibt vom Bericht des Innenministers? Vor allem die Schlagzeilen. Denn die Deutsche Presse-Agentur (dpa) sowie Welt, Bild und andere Medien haben Behauptungen des Ministers zunächst ungeprüft weiterverbreitet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Repression gegen die linke Szene
Angst als politisches Kalkül
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“