Heinsberg-Studien zu Corona: Unverstandene Wissenschaft

Die Erwartungen an die ForscherInnen sind immens hoch, das zeigt die Coronakrise. Liefern sie dann erste Ergebnisse, stehen sie aber in der Kritik.

Blick in ein Laor in dem zwei ForscherInnen in weißen Laborkitteln arbeiten

Die Virologen der Universität Marburg sind an der Entwicklung eines Impfstoffs beteiligt Foto: Arne Dedert/dpa

Selten waren die mediale Aufmerksamkeit und der Einfluss auf Politik, wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bald aller Disziplinen sie aktuell erfahren, größer als im coronabedingten Lockdown. Dies ist zunächst dem – banalen – Umstand geschuldet, dass es sich, man kann es nicht oft genug wiederholen, um ein neuartiges Virus handelt, über dessen Eigenschaften wir (leider noch) zu wenige gesicherte Informationen haben. Auch über die Spätfolgen der Maßnahmen, die wir zu seiner Bekämpfung einsetzen, können wir im Moment nur spekulieren. Daten im harten Sinne sind rar, weil es sich um ein einmaliges Ereignis handelt; Expertise erscheint da wie – um die Metapher der Krise zu bemühen – ein Nebelhorn auf unser aller „Fahrt auf Sicht“.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind derzeit aber nicht nur gefragt (wie sonst so oft in Krisen), bereits vorhandenes, über die Jahre und im permanenten Diskurs gereiftes Wissen zu diskutieren und zu teilen. Sondern sie sind aufgefordert, binnen kürzester Zeit neues Wissen zu generieren, ihren eigenen Forschungsstand dabei ständig zu aktualisieren und einer selbstkritischen Überprüfung zu unterziehen. Der politische Handlungsdruck ist derweil riesig, ohne valide und reliable Datengrundlage aber erscheinen Entscheidungen willkürlich. Entsprechend immens und von Ungeduld geprägt ist die Erwartungshaltung seitens der Politik wie seitens der Bevölkerung, vermittelt auch über die Medien, an die Wissenschaft: Liefert! Endlich! Daten! (Und löst damit, das jedenfalls ist vielerorts der Subtext, gefälligst unsere Probleme.)

Zu welchen Missverständnissen dieser überzogene Anspruch an Wissenschaft, ihre Leistung und vor allem ihre vermeintliche Kapazität zur eindeutigen Problemlösung in einer globalen Krise führen kann, war in der vergangenen Woche gut zu beobachten, etwa am Gründonnerstag. Da präsentierten Naturwissenschaftler des Bonner Universitätsklinikums vorläufige Ergebnisse einer Untersuchung, die sie durchgeführt hatten in der Gemeinde Gangelt im Kreis Heinsberg, wegen des frühen Ausbruchs und der hohen Fallzahlen ein sogenannter Corona-Hotspot – und damit ideal geeignet für eine Studie zur Verbreitung des Virus.

Die Forscher wollten wissen, wie viele Menschen eine Infektion bereits durchgemacht hatten, um abschätzen zu können, wie hoch die Immunität in der Bevölkerung dort inzwischen ist. Und sie wollten wissen, wie viele der Infizierten dort an dem Virus gestorben waren. Es war Pionierarbeit; bislang liegen solche empirischen Daten für Deutschland nicht vor.

Die Enttäuschung darüber, dass die Ergebnisse erstens bloß ein Zwischenresultat darstellten, zweitens nur für die Gemeinde Gangelt Repräsentativität beanspruchten und drittens methodisch möglicherweise nicht in A-, sondern lediglich in B-Qualität daherkamen (dies möglicherweise auch geschuldet dem Druck, in der Pandemie zeitnah Daten liefern zu sollen), führte schnell zu einer Generalkritik an der Studie, in der nun alles vermengt wurde, was sich irgendwie vermengen ließ, um die maximale Diskreditierung wissenschaftlicher Leistung zu gewährleisten.

Überzogene Vorwürfe

Die Heinsberg-Studie war Pionierarbeit; bislang liegen solche empirischen Daten für Deutschland nicht vor

Die Forscher hätten sich von der Politik einspannen lassen; schließlich habe die nordrhein-westfälische Landesregierung ihre Studie mit 65.000 Euro gefördert. Die Forscher seien womöglich nicht unabhängig, denn sie hätten die Öffentlichkeitsarbeit in marktschreierischer Manier weitgehend an eine private PR-Agentur ausgelagert, die dafür zwar kein Geld verlangte, aber deren Gründer ein Ex-Bild-Chef ist (= superpfui). Die Forscher hätten voreilig Schlüsse verkündet, die in jedem Fall weiterer Überprüfung bedürften.

Alles richtig, vieles sicher im Ergebnis unglücklich. Allein: Taugen diese Umstände zum Skandal? Ein Blick in den universitären Forschungsalltag lohnt, um festzustellen: Die finanzielle Unterstützung durch Drittmittelgeber ist nicht nur die Regel an Hochschulen, sie ist von deren Leitungen auch explizit erwünscht. Wem es nicht gelingt, Mittel in nennenswertem Umfang einzuwerben, dessen universitäre Karriere läuft Gefahr, schon bald jäh zu enden. Wer sich bei der Präsentation seiner Forschungsergebnisse allein auf die Öffentlichkeitsarbeit seiner Universität verlässt, der darf befürchten, dass diese ein wohl gehütetes Geheimnis bleiben. Dies ist keineswegs vermeintlicher Inkompetenz der entsprechenden Stellen geschuldet, sondern personellen wie finanziellen Engpässen sowie langen, schwer nachvollziehbaren Verwaltungswegen.

Zwang zur Vermarktung

Zugleich aber ist Transdisziplinarität das Zauberwort der Stunde: Keine Bewilligung eines Förderantrags ohne den Nachweis, dass man seine Forschung später auch anwendungsnah wird vermarkten können – und unterdessen gewiss bereit ist, auch kleinste Zwischenergebnisse möglichst publikumswirksam zu twittern. Keine Doktorarbeit, von der nicht angenommen würde, dass sie trotz spärlicher und vorläufiger Datenbasis mindestens für eine aufgemotzte Posterpräsentation auf einer wissenschaftlichen Tagung taugte.

Diese Mechanismen kann man beklagen und strukturell bekämpfen; den Unmut hierüber einzelnen Forschern anzulasten, ist bloß billig. Die Krise zeigt, wie sehr die Wissenschaft und ihre Strukturen mit der Politik und der medialen Öffentlichkeit fremdeln. Mehr Verständnis füreinander könnte indes sensibilisieren: Die eine Seite für die an sie herangetragenen Erwartungen. Und die andere dafür, den Wert der Forschung besser einzuordnen. Wissenschaftliche Studien, das gilt auch für die aus Gangelt, sind stets nur Puzzlestücke. Sie liefern Erkenntnisse über naturwissenschaftliche oder gesellschaftspolitische Zusammenhänge, die im anschließenden Diskurs geschärft – und manchmal auch verworfen werden. Ihre Stärke sind ihre Wenn-dann-Aussagen. Politische Entscheidungen können sie nicht ersetzen. Schon gar nicht in der Pandemie.

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Heike Haarhoff beschäftigt sich mit Gesundheitspolitik und Medizinthemen. Nach einem Freiwilligen Sozialen Jahr in einem Kinderheim bei Paris ab 1989 Studium der Journalistik und Politikwissenschaften an den Universitäten Dortmund und Marseille, Volontariat beim Hellweger Anzeiger in Unna. Praktika bei dpa, AFP, Westfälische Rundschau, Neue Rhein Zeitung, Lyon Figaro, Radio Monte Carlo, Midi Libre. Bei der taz ab 1995 Redakteurin für Stadtentwicklung in Hamburg, 1998 Landeskorrespondentin für Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern und von 1999 bis 2010 politische Reporterin. Rechercheaufenthalte in Chile (IJP) und den USA (John McCloy Fellowship), als Stipendiatin der Fazit-Stiftung neun Monate Schülerin der Fondation Journalistes en Europe (Paris). Ausgezeichnet mit dem Journalistenpreis der Bundesarchitektenkammer (2001), dem Frans-Vink-Preis für Journalismus in Europa (2002) und dem Wächterpreis der deutschen Tagespresse (2013). Derzeit Teilnehmerin am Journalistenkolleg "Tauchgänge in die Wissenschaft" der Robert Bosch Stiftung und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina.

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