Grünes Desaster: Der Fall Gelbhaar und die Partei
Die Grünen wollten vorbildlich mit sexualisierter Gewalt umgehen – doch gefälschte Vorwürfe überfordern ihre Ombudsstelle.
Zehn Jahre nach dem Beschluss ist wieder Wahlkampf. Wieder kommt den Grünen ein Skandal in die Quere. Und plötzlich stehen die Strukturen, mit der die Partei doch vorbildlich im Umgang mit sexualisierter Gewalt werden wollte, voll im Fokus.
Ab dem 11. Dezember erreichen 18 Beschwerden über den Berliner Bundestagsabgeordneten Stefan Gelbhaar die Ombudsstelle der Bundespartei. Am 13. Dezember gibt es ein Gespräch zwischen Gelbhaar, einer Mitarbeiterin der Ombudsstelle und Vorstandsmitglied Manuela Rottmann – als „Mitglied des Kriseninterventionsteams“, wie es aus der Parteizentrale heißt. Die Frauen teilen Gelbhaar mit, dass ein Verfahren gegen ihn läuft, und „beraten“ ihn zu „Risiken“. Oder, wie es bei Gelbhaar ankommt, der darüber in dieser Woche mit der Zeit redete: Sie drängen ihn dazu, auf dem Landesparteitag am Tag darauf nicht für die Liste zur Bundestagswahl zu kandidieren.
Der Rest ist bekannt: Gelbhaar zieht wirklich zurück und begründet dies knapp mit dem eingeleiteten Verfahren. Einen Tag vor Heiligabend beschließt der Kreisverband Pankow, im neuen Jahr auch über Gelbhaars Wahlkreiskandidatur erneut abzustimmen. An Silvester berichtet der RBB über Details der Vorwürfe, der Sender schildert vermeintliche Übergriffe mit strafrechtlicher Relevanz. Kreis-, Landes- und Bundesvorstand rufen den Abgeordneten öffentlich auf, auch auf die Direktkandidatur zu verzichten. Er tritt trotzdem an und verliert.
Sieben Weitere bleiben bei ihren Vorwürfen
Erst in der Woche darauf kommt die Wende: Durch Recherchen von Gelbhaars Anwälten und dem Tagesspiegel wird öffentlich, dass zentrale Vorwürfe mutmaßlich erfunden sind – unter falschem Namen erhoben von der grünen Bezirkspolitikerin Shirin Kreße. Das Motiv ist unklar, Strafanzeigen gegen sie sind gestellt.
Sieben weitere Personen, die sich bei der Ombudsstelle über Gelbhaar beschwert hatten, bleiben laut Parteichef Felix Banaszak weiter bei ihren Vorwürfen. Wie gut die Identitäten dieser Personen geprüft wurden, worum es in den Vorwürfen geht und ob sie durch Indizien oder Beweise gestützt sind, ist unklar.
Der Vorgang ist ein Desaster. Die Karriere eines Abgeordneten ist zerstört und sein Ruf beschädigt, das Misstrauen gegen tatsächliche Opfer von Belästigungen und Übergriffen wieder gestiegen. Und die Grünen-Spitze, die vor dem Parteitag am Sonntag eigentlich eigene Themen im Wahlkampf setzen wollte, wird von Journalist*innen zu kaum etwas anderem befragt als zum Fall Gelbhaar/Kreße.
Der Parteivorstand versucht, mit einer neuen Kommission aus dem Debakel herauszukommen. Geleitet werden soll sie von den erfahrenen Rechtspolitiker*innen Anne Lütkes und Jerzy Montag. Sie dient als Bad Bank für unangenehme Fragen, stets wird nun auf die Kommission verwiesen. Das Gremium soll aufklären, was an den verbliebenen Vorwürfen gegen Gelbhaar dran ist und Vorschläge für eine Reform der internen Strukturen machen, die offensichtlich versagt haben.
Aufklärung sei nicht die Aufgabe der Ombudsstelle
Das grüne Desaster ist zwar nicht der Ombudsstelle allein anzulasten. Kurz bevor sie sich mit dem Fall befasste, hatte Shirin Kreße schon auf einer Konferenz des linken Parteiflügels einen ersten Vorwurf erhoben. Gut möglich, dass er ohnehin an die Medien gelangt wäre. So oder so hätten die politischen Verantwortlichen in Bezirk, Land und Bund dann vor der Frage gestanden: Setzen wir auf die Unschuldsvermutung? Oder nehmen wir Gelbhaar aus dem Rennen, damit niemand sagen kann, die Grünen ignorierten Hinweise auf sexualisierte Gewalt?
Aber es ist auch nicht erkennbar, dass die Ombudsstelle etwas dafür getan hätte, die Vorwürfe aufzuklären. Die Identitäten derjenigen, die Beschwerden eingereicht hatten, hat sie nicht geprüft. Offenbar ermöglichte sie Gelbhaar nicht mal, sich zu verteidigen: Seinen Angaben zufolge erhielt er keine Details zu den Vorwürfen. Erst als der RBB berichtete, hatte Gelbhaar Anhaltspunkte, die er widerlegen konnte.
Aufklärung sei auch gar nicht die Aufgabe der Ombudsstelle, heißt es jetzt vielfach aus der Partei. Sie sei keine Ermittlungsbehörde. Stellt sich die Frage: Was macht sie dann?
Mit solchen Fragen stößt man in diesen Tagen bei den Grünen auf Schweigen. Verantwortliche im Bund und in den Ländern wollen noch nicht mal darüber sprechen, wie die Strukturen grundsätzlich aussehen. Aus wie vielen Menschen besteht eine Ombudsstelle? Keine Antwort. Noch nicht mal eine vertrauliche Antwort? Nein.
Vertraulichkeit als Grundprinzip
Empfohlener externer Inhalt
Nach taz-Informationen sind auf Bundesebene regulär drei Mitarbeitende der Parteizentrale als Ombudsleute eingesetzt. Auch in den Landesverbänden gibt es Zuständige. Es sind keine Vollzeitjobs, die Personen haben auch noch andere Aufgaben. Für die Ombudsverfahren wurden sie extern fortgebildet.
Bei der Einführung vor zehn Jahren war eine Überlegung der Grünen, dass es für Opfer von Belästigungen und Übergriffen Anlaufstellen jenseits der Justiz geben müsse. Die Hemmschwelle, Anzeige zu erstatten, ist schließlich hoch. Für Vorfälle, die nicht strafbar sind und in einer progressiven Partei trotzdem nicht erwünscht, sind Gerichte ohnehin nicht zuständig.
Es gibt ein öffentlich einsehbares Leitbild, das sich die Ombudsleute von Bund und Ländern zu Beginn selbst gegeben haben. „Wir bieten einen geschützten Raum“, heißt es in einem der wenigen Punkte. „Wir begleiten den Prozess, so lange es notwendig ist.“ Und: „Je nach Verdacht leiten wir geeignete Schritte ein.“ So etwas wie eine formale Verfahrensordnung, demokratisch beschlossen und transparent einsehbar, existiert aber zumindest auf Bundesebene nicht. Im Bundesvorstand gab es in den letzten Jahren zwar Überlegungen dazu, aber kein Ergebnis.
Für viele Fälle funktioniert die Ombudsstelle dem Vernehmen nach trotzdem gut. Normalerweise dringt aus ihren Verfahren nichts an die Öffentlichkeit. Vertraulichkeit ist ein Grundprinzip und wenn es gut läuft, wird noch nicht mal der Parteivorstand behelligt. Ein Beispiel für einen solchen Vorgang aus der Vergangenheit veröffentlichte Stefan Gelbhaar selbst zwischenzeitlich auf seiner Internetseite: Eine Person, mit der er auf Instagram gechattet hatte, beschwerte sich demnach schon 2021. Seine Nachrichten waren ihr offenbar zu persönlich geworden. Dem Abgeordneten zufolge wurde die Angelegenheit in Ombudsgesprächen geklärt, und er selbst kam zur Erkenntnis, dass er mehr auf „Kommunikation und Grenzen“ achten müsse.
„Im Zweifel für die Betroffenen“
Wenn Fälle aber komplizierter werden, wenn der Vorwurf massiver ist, wenn Aussage gegen Aussage steht und wenn dann auch noch die Zeit drängt: Dann fehlen den Grünen belastbare Strukturen.
Auf der Suche nach neuen Regeln, die jetzt läuft, geht der Blick auch nach Brüssel. Die Grünen im Europaparlament haben schon länger ein festes Regelwerk, 18 Seiten lang und von der Fraktion verabschiedet. Für verfahrene Fälle sieht es ein klar definiertes Untersuchungsverfahren vor. Die mutmaßlich betroffene Person muss den Prozess namentlich beantragen. Mit dem Fall werden dann externe Expert*innen beauftragt. Der Beschuldigte erfährt, was ihm genau vorgeworfen wird. Beide Seiten können Stellung nehmen, Zeug*innen benennen und Beweise vorlegen. Nach spätestens fünf Monaten liefern die Expert*innen einen Bericht ab, auf dessen Grundlage die Verantwortlichen über Konsequenzen entscheiden.
Das Verfahren ist gegen Missbrauch gewappnet. Wer einen Vorwurf unter falschem Namen erhebt, kommt damit nicht weit. Allerdings überarbeitet die Fraktion ihr Regelwerk derzeit und es ist gut möglich, dass sie Hürden senkt. Im vergangenen Jahr berichtete der Stern über Belästigungsvorwürfe gegen einen bayerischen Europa-Abgeordneten, die der Brüsseler Ombudsstelle bekannt gewesen seien, dort aber nicht zu Konsequenzen führten. Es folgte öffentliche Kritik an den Europa-Grünen, auch in der taz: Die Vorgaben würden es Betroffenen zu schwer machen, sich zu wehren.
Dem Stern zufolge landete der Fall des EU-Abgeordneten schließlich vor der Ombudsstelle der bayerischen Grünen. Drei Tage, bevor ein Parteitag die Liste für die nächste Europawahl aufstellte, seien dort Beschwerden eingegangen. Die Landesvorsitzenden hätten mit dem Mann gesprochen und ihm Druck gemacht. Seine Kandidatur auf dem Parteitag zog er zurück.
Was folgt aus einem Vorfall?
Als der Vorgang Monate später öffentlich wurde, erklärte der Abgeordnete, er habe sich nichts zuschulden kommen lassen, begrüße aber die Aufklärung im bayerischen Ombudsverfahren. Das ist der letzte Stand.
Jette Nietzard, Bundessprecherin der Grünen Jugend
Wie im EU-Parlament gibt es auch dort ein mehrseitiges Regelwerk für die Verfahren, beschlossen vom bayerischen Landesvorstand. In zentralen Punkten ist es ein Gegenstück zu den Brüsseler Vorgaben. Von Untersuchungen ist keine Rede. Folgt man dem Papier, ist es auch gar nicht nötig, Vorwürfe zu prüfen: Betroffenen könnten sich „im Vertrauen darauf, dass ihnen geglaubt wird“, bei der Ombudsstelle melden. Entscheidungen fielen „im Zweifel für die Betroffenen“.
Auch nach dem Fall Gelbhaar/Kreße gibt es für diesen Ansatz Unterstützung in der Partei. „Es gilt als feministische Partei, Betroffenen zu glauben“, sagte in dieser Woche Jette Nietzard, die Bundessprecherin der Grünen Jugend. Die Unschuldsvermutung, die andere in der Partei jetzt stärken wollen? Gelte vor Gericht, nicht für die Grünen.
Das sind die beiden Pole, zwischen denen sich die Partei bewegt, wenn sie ihre Strukturen in den nächsten Monaten mithilfe der neuen Kommission erneuert. Und wenn die eine Grundsatzfrage geklärt ist, bleibt noch die andere: Was folgt aus einem Vorfall, wenn er denn erst mal als wahr gilt? Wenn die Partei das Vergehen als bestätigt wertet: Muss sein Mandat verlieren, wer dreimal ungeschickt flirtet? Muss es dafür körperlich werden? Oder gar strafrechtlich relevant? Und wer entscheidet am Ende darüber?
All diese Fragen sind in der Partei strittig. Nur eine Erkenntnis zeichnet sich schon ab: Die schweren Fälle nach außen zu geben, so wie in der Europa-Fraktion, kann nicht schaden. Zum einen, damit die Verfahren frei sind von politischen Interessen. Und wohl auch: Damit die Verantwortlichen von all den Abgründen ein bisschen weniger an der Backe haben.
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