Grünen-Politiker Saleh zu Nahost-Debatte: „Eine unerträgliche Stimmung“
Als im Irak geborener Grünen-Politiker steckt Kassem Taher Saleh beim Thema Nahost zwischen zwei Welten. Er fordert von seiner Partei eine differenziertere Haltung.
taz: Herr Taher Saleh, anders als viele Kolleg*innen haben Sie sich in den letzten Monaten nicht öffentlich zum Nahost-Krieg geäußert. Warum nicht?
Kassem Taher Saleh: Erstens hatte ich in den letzten Monaten in meinem Fachgebiet, der Baupolitik, viel zu tun. Zweitens standen bei uns sächsischen Grünen die Vorbereitungen auf die Wahlkämpfe dieses Jahres an. Ich wusste: Wenn ich mich öffentlich zum Nahen Osten äußere, brauche ich dafür meine volle Kraft und die gesamte Power meines Teams. Die habe ich erst jetzt.
Warum fordert Ihnen das Thema Kraft ab?
ist 1993 im Irak geboren und im sächsischen Plauen aufgewachsen. Seit 2019 ist der gelernte Bauingenieur Mitglied der Grünen und seit 2021 Abgeordneter im Bundestag.
Ich befürchte, dass ich von Springer und Co in eine Ecke gedrängt werden könnte: Dass ich wegen meiner Positionen, meiner Biografie und meines religiösen Hintergrunds als muslimischer Antisemit betitelt werde.
Woher kommt diese Befürchtung?
Mir ist klar, dass Deutschland in einer historischen Verantwortung steht. Das heißt aber nicht, dass wir alles, was Israel macht, zu 100 Prozent unterstützen müssen. Ich lehne das israelische Vorgehen im Gazastreifen und den Bruch des Völkerrechts ab. Seit Monaten sterben Zivilisten. Leider entstand aber nach dem 7. Oktober in der migrantischen Community und bei mir der Eindruck: Wir müssen uns jetzt ohne Wenn und Aber zu Israel bekennen – sonst sind wir nicht mehr Teil dieses Landes.
Es gab Fälle von Profisportlern und Künstlern, die sich nicht mehr frei äußern konnten. Auf Demos wurden Menschen von der Polizei herausgezogen, weil sie den falschen Schal trugen. Jugendliche bekamen in der Schule unangenehme Fragen gestellt, bloß weil sie einen muslimischen Hintergrund haben. Das waren schmerzhafte Erfahrungen, und von politischer Seite wurde diese spalterische Stimmung auch noch befeuert.
Was meinen Sie damit?
Ich meine damit auch die Social-Media-Rede von Robert Habeck, die im November viral ging. Darin hat er gesagt, Muslime in Deutschland müssten sich klipp und klar von Antisemitismus distanzieren, um nicht ihren eigenen Anspruch auf Toleranz zu unterlaufen. Warum so pauschal? Und was ist mit antisemitischen Anschlägen wie dem in Halle? Der Täter dort war kein Migrant, sondern ein Nazi. Ich habe in den letzten Monaten eine unerträgliche Stimmung erlebt, in der Muslime pauschal als Antisemiten bezeichnet wurden.
Es gab und gibt auf migrantisch geprägten Demonstrationen aber nun mal antisemitische Vorfälle – und einen Mangel an Empathie für die jüdischen Opfer der Hamas.
Da gebe ich Ihnen recht. Ich hätte mir auf den Demonstrationen auch klarere Positionen zu den Morden des 7. Oktober gewünscht, genauso wie eine klare Distanzierung von all jenen, die das Massaker gefeiert haben. Die Hamas ist eine Terrororganisation, will den Staat Israel auslöschen und muss vernichtet werden.
Trotzdem frage ich mich, warum Israel in Kauf nimmt, dass durch den Beschuss von Krankenhäusern und Schulen so viele Unschuldige sterben. Daneben hätte ich mir gewünscht, dass man das und den Schmerz der migrantischen Communitys stärker in unsere politischen Debatten aufnimmt. Auch da hat es mir an Empathie gefehlt, gerade von Regierungsmitgliedern und insbesondere von Bundeskanzler Olaf Scholz.
Sie sind im Irak geboren und mit zehn Jahren nach Deutschland gekommen. Ihr Vater ist Kurde, Ihre Mutter Araberin. Wie genau prägt Ihre Biografie Ihre Sicht auf den Konflikt?
Seit meiner Geburt ist das Thema Israel und Palästina immer wieder Gesprächsthema in meiner Familie – verstärkt natürlich nach Militäraktionen im Westjordanland und im Gazastreifen. Ehrlicherweise habe ich da nicht immer ein differenziertes Bild mitbekommen. In der Hinsicht hätte ich mir als Gegengewicht in der Schule mehr Aufklärungsarbeit in Deutschland gewünscht.
Die gab es nicht?
Was bedeutet es, jüdisch zu sein in Deutschland? Was bedeutet es, jüdisch zu sein in Israel? Das hätte ich gerne in der Schule erfahren, aber das hat komplett gefehlt. Und das gibt es bis heute nicht genug. Bei einem Besuch in einer Schule hier in Dresden-Johannstadt haben mir die Lehrerinnen und Lehrer offen gesagt: Bitte halten Sie mal eine Stunde ein Referat über den Konflikt – wir sind in der Hinsicht überfordert.
Ich würde mir wünschen, dass die Politik hier ansetzt und die Bildungsarbeit ausbaut, anstatt nur pauschal zu sagen: Entweder du bekennst dich zum Existenzrecht Israels oder du bist kein Deutscher. Das Existenzrecht Israels darf nicht angetastet werden, aber die Menschen müssen auch verstehen, warum. Für diese Debatte braucht es mehr Aufklärung.
Sie haben Ihre familiäre Prägung erwähnt. Steht der Nahost-Krieg heute zwischen Ihnen als Grünen-Abgeordnetem und Ihrem Umfeld?
Aus dem Familienkreis höre ich: Warum äußerst du dich nicht? Und warum sieht die Bundesregierung nur die eine Seite? Mein Freundeskreis ist auch sehr divers und migrantisch geprägt, dort höre ich ähnliche Fragen.
Was antworten Sie?
Ich antworte verständnisvoll: Ich verstehe euren Schmerz und euer Leid komplett, ich melde mich zu dem Thema auch in Fraktionssitzungen. Ich bin aber in vorderster Linie Baupolitiker und nicht Außenminister. Bitte habt Verständnis dafür, dass ich nicht alle eure Erwartungen erfüllen kann.
Gibt es auch Momente, in denen Sie inhaltlich in den Widerspruch gehen?
Ja, das gab es vereinzelt auch – wenn jemand die Taten des 7. Oktobers mit dem palästinensischen Leid der letzten Jahrzehnte legitimiert hat. Da muss man ganz klar widersprechen.
Die Grünen bemühen sich seit Längerem, diverser zu werden und mehr Menschen mit Migrationshintergrund anzusprechen. Sehen Sie dieses Ziel aktuell in Gefahr?
Ich fürchte, ja. Ich kenne einige aus der migrantischen Community, die bei der Bundestagswahl 2021 mit breiter Brust für uns geworben haben und jetzt nicht mehr wissen, wen sie wählen sollen.
Ist bei den Grünen denn Platz für Positionen wie Ihre?
Ja. Ich war auch nicht der Einzige, der das in Fraktionssitzungen angesprochen hat. Auch andere haben von Anfang an die zivilen Opfer gesehen. Nur in der Kommunikation kam das leider kaum vor. Die migrantischen Communitys wurden nicht mitgenommen.
Im November gab es einen Beschluss des Grünen-Parteitags. Darin geht es sowohl um das Recht Israels auf Verteidigung als auch um seine völkerrechtlichen Pflichten und die zivilen Opfer im Gazastreifen. Das müsste doch in Ihrem Sinne gewesen sein?
Ich habe den Beschluss gerade nicht Wort für Wort vor Augen. Insgesamt kam aber für mich der Schutz der Zivilistinnen und Zivilisten auch darin nicht klar genug zum Ausdruck.
Aber mit Ihrer Außenministerin müssten Sie zufrieden sein? Bei ihrem Besuch in Israel sagte sie diese Woche, die angekündigte Offensive auf die Stadt Rafah wäre eine „humanitäre Katastrophe mit Ansage“.
Annalena Baerbock hat das Leid der Menschen in Gaza und die hohe Zahl der zivilen Opfer immer wieder klar benannt. Ich hätte mir das zwar früher gewünscht, aber mir ist auch bewusst, dass der Zeitpunkt und die Art der Ansprache gegenüber Israel sehr gut überlegt sein müssen. Das ist Diplomatie. Das kann ich als politischer Neuling nur begrenzt werten. Insgesamt hat sich in Deutschland die politische Bewertung des Kriegs in den letzten Wochen zum Glück stark gewandelt. Ich hätte mir diesen Switch einfach früher gewünscht.
Wir haben bis hierhin viel über Kommunikation und Gefühle gesprochen. Welche konkreten Forderungen haben Sie aber an die deutsche Außenpolitik?
In drei Wochen ist Ramadan. Was passiert da mit den Menschen in Gaza? Wie sollen sie auf halbwegs menschenwürdige Art und Weise ihre Religion ausüben? Ich würde mir wünschen, dass die Menschen zumindest diesen einen Monat ohne Angst um ihr Leben, ohne Krieg und ohne Waffen begehen können. Eine Feuerpause für die Zeit des Ramadan wäre das Mindeste. Das sollte auch unsere deutsche Außenministerin fordern.
Für Feuerpausen hat sich Annalena Baerbock schon mehrfach ausgesprochen.
Dann braucht es jetzt noch mal mehr Nachdruck.
In den Niederlanden hat ein Gericht gerade Rüstungslieferungen an Israel unterbunden. Sollte auch die Bundesregierung Exporte an Israel einschränken?
Lange Zeit habe ich Waffenlieferungen generell kritisch gesehen. Ich habe aber eine differenziertere Haltung, seitdem ich vor Kurzem in der Ukraine war und dort einen russischen Raketenangriff miterlebt habe. Israel hat das Recht, sich zu verteidigen. Insofern würde ich sagen: Verteidigungswaffen ja. Aber Angriffswaffen an Israel zu liefern, halte ich persönlich für schwierig. Ich würde mir wünschen, dass die Bundesregierung auch hier ihren Kurs ändert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Verfassungsklage von ARD und ZDF
Karlsruhe muss die unbeliebte Entscheidung treffen
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los