Gewalt vor der Hamburger Ida Ehre Schule: Was geschah wirklich?
Über den Vorfall zwischen Schülern und Polizei berichteten die Medien aus Behördensicht. Ein Schüler, der dabei war, erzählt eine andere Geschichte.
Der Polizist brachte den Jungen zu Boden. Da gingen Tim und seine Freunde näher ran. „Er hatte ihm im Schwitzkasten. Der Typ hat laut gerufen, dass er keine Luft mehr bekommt. Der Polizist hat nicht darauf reagiert.“
Von der Situation, die Tim beschreibt, gibt es ein Video. Dort reden umstehende Schüler auf den Polizisten ein, einer berührt ihn sacht an der Schulter, sagt: „Hören Sie auf!“, „Hören Sie auf!“, „Er kriegt keine Luft mehr!“ „Der Typ ist 13!“, rufen helle Kinderstimmen aus dem Hintergrund.
„Da hat ihn einer getreten, an den Kopf“, erinnert sich Tim. „Mir wurde im Nachhinein erzählt, dass er ihn nicht deshalb treten wollte, weil er Polizist ist. Er hat versucht, ihn runterzutreten, weil er dachte, dass der andere erstickt.“
Kurz darauf traf Verstärkung der Polizei ein. Der Beamte stand mit dem Jungen unterm Arm auf. Lehrer versuchten, die Schüler von dem Ort wegzukriegen. Der 14-jährige Tim blieb da, weil er gucken wollte, ob alles mit rechten Dingen zugeht. Später wurde dieses Verhalten in einem Brief der Schulleitung „Gaffen“ genannt. Tim findet das nicht richtig. Sein Nebenmann diskutiert über das Weggehen und Bleiben mit Lehrern. Später ist er einer von elf, die suspendiert werden.
Lisa*, Schulsprecher-Team der Ida-Ehre-Schule
Die Polizei kam mit zwölf Streifenwagen. „Die haben versucht, die Leute vom Geschehen zu entfernen. Aber so sollte man mit 12-, 13-Jährigen nicht umgehen“, sagt Tim. Beamte zeigen den Schlagstock, nehmen zwei weitere Kinder im Alter von 12 und 13 fest. „Da hat jemand ausgespuckt“, erinnert sich Tim. „Die eine wurde rausgezogen. Die lag auf dem Boden und noch zwei, drei Beamte auf ihr drauf. Das war ziemlich beängstigend.“
Einige hätten eine Kette gebildet und dabei seien auch Schimpfworte wie „ACAB“ gefallen. Aber zu sagen, es hätte eine Massenschlägerei gegeben, sei „ganz falsch“.
Nun ist die lda-Ehre-Schule, vor deren Toren dies stattfand, nicht irgendeine Schule. Im Frühjahr 2019 war sie der Ort einer Auseinandersetzung, die hamburgweit Aufsehen erregte. Die AfD hatte ein „Portal“ geschaffen, bei dem linke Umtriebe gemeldet werden sollten. Und als sie Fotos von Antifa-Aufklebern an den Pinnwänden einer Oberstufenklasse der Ida-Ehre-Schule in die Finger bekam, stellte sie in den Märzferien eine Anfrage an den Senat.
Die Schulaufsicht ließ die Sticker umgehend entfernen, statt die Ferien abzuwarten und mit den Lehrern zu sprechen. Die Schule wurde als linke Kaderschmiede gebrandmarkt. Die Linke forderte Schulsenator Ties Rabe (SPD) sogar zum Rücktritt auf, weil er durch sein Handeln das „Petz-Portal“ der AfD hoffähig gemacht hatte, statt sich hinter die Schule zu stellen – die Sticker waren immerhin Teil eines Unterrichtsprojekts.
Auch am Tag nach dem Vorfall vom 19. August wiederholte sich im Grunde das damalige Schema. Rabe verschickte ein Statement an die Presse zu dem „Gewaltvorfall vor Ida Ehre Schule“. Der Senator sei entsetzt und „verurteilt das Verhalten der Jugendlichen“, heißt es dort.
Journalisten, die sie bis dahin nicht bemerkt hatten, dürfte spätestens dann die Pressemitteilung der Polizei aufgefallen sein: „Schüler greifen Polizeibeamten in Hamburg Eimsbüttel an“. Mehrere Schüler hätten einen Beamten, der Streit schlichten wollte „tätlich angegriffen“. Sie hätten sich mit dem am Boden liegenden 13-Jährigen „auf hoch aggressive Weise“ solidarisiert. Aus der Gruppe heraus hätten diese ihn „mehrfach gegen den Kopf getreten“. Nur dank Fahrradhelm sei der Mann unverletzt.
Hetze und Bedrohung im Netz
Nun gibt es die Verabredung, dass die Polizei sich bei Minderjährigen mit Pressearbeit zurückhält. Das tat sie insoweit, als sie keine Schule nannte. Zusammen mit dem Rabe-Statement waren die Berichte aber schnell geschrieben. „Brutale Prügel-Attacke in Hamburg: 80 Schüler gehen auf Polizisten los“, titelte der Focus.
Vor zwei Jahren, beim Konflikt um die AfD-Anfrage, hatte sich die Schulleitung der Ida-Ehre-Schule gegen die mediale Vorverurteilung verwahrt. Das Leitungsteam erklärte, „stolz auf ihre Schüler*innen“ zu sein, die sich politisch betätigen. Doch inzwischen gibt es dort eine neue Schulleitung. Und deren Draht zur Schulbehörde ist in diesen Tagen ganz kurz.
Am Montag nach dem Vorfall vom 19. August verbreitet die Schulbehörde das Statement von Schulleiterin Nicole Boutez: „Es hat uns entsetzt, mit welchem Gewaltpotenzial schon Kinder agieren können.“ Man sei erschrocken darüber, wie „gegafft“ werde, und über die „Empathielosigkeit“ der Zuschauer. Es solle „Konsequenzen“ geben. Elf Schüler seien vom Unterricht suspendiert.
„Die Schulleitung hat uns sehr enttäuscht“, sagt Tim. Er besuchte eine Schülerversammlung, wo der Vorgang diskutiert wurde. Die Schule ist seit Jahren Mitglied im Netzwerk „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“.
Lisa* aus dem Schulsprecherteam sagt, die Schüler seien an dem Nachmittag in eine sehr schwierige Situation gebracht worden. „Der Junge rief, er kann nicht atmen. Uns wurde beigebracht, dass wir andere nicht allein lassen, wenn sie in Not sind.“ Es sei schlimm für die Dabeigewesenen, dass ihnen die Schuld zugeschoben wurde. „Die Schulleitung hat uns in den Medien so dargestellt, als hätten wir ein hohes Gewaltpotenzial.“ Das sei auch gefährlich, führe zu Hetze und Bedrohungen im Netz.
Dabei war der 13-Jährige, den der Polizist festnahm, nicht einmal ein Schüler dieser Schule. Es liegen im „Eimsbütteler Schuldreieck“ drei Gymnasien und eine Stadtteilschule nah beieinander. Nur zu den anderen Schulen hört man von der Schulbehörde keinen Piep.
Tims Vater sagt, ihm täte auch der Polizist leid, der auch Opfer der Umstände sei. Er verstehe, dass die Polizei eine eigene Sicht der Dinge habe, doch die Schule hätte sich anders artikulieren müssen.
Der Elternrat der Ida-Ehre-Schule kritisiert, die Schüler am Ort des Geschehens würden kriminalisiert. Statt sie zu suspendieren, wären Gespräche richtig gewesen.
Gefährlicher Griff angewandt?
Die Schulleitung hatte an die Eltern geschrieben, es habe ein „Gewalt- und Bedrohungsszenario“ gegeben, „ausgehend von den anwesenden und filmenden Schülern“. Sie zählt auch „schaulustiges Verhalten“ zu einer Form von Gewalt. Den Elternrat stört die Wertung. Das Beobachten einer Situation werde als „Gaffen“ diffamiert. „Wir möchten nicht, dass jemand vorbeigeht, wenn jemand schreit: ‚Ich bekomme keine Luft‘.“
Und ohne das Handyfilmen gäbe es nicht die Videos, von denen der NDR eines veröffentlichte. Das zeigt, wie der Beamte auf dem Jungen liegt. Auch dort hört man Umstehende „Hören Sie auf!“ rufen.
Dem Bremer Kampfsporttrainer Jan Henning Bode wurden mehrere solcher Videos vorgelegt, wie die Hamburger Linksfraktion und auch der Stern berichten. Auch die taz sprach mit Bode. „Auf dem Video ist zu sehen, wie der Polizist einen ‚Scarf Hold Chest Choke‘ anwendet“, sagt er. Es handele sich um einen Würgegriff, bei dem Hüfte und Oberkörper des Obenliegenden zusätzlich Druck auf die Lunge und die obere Herzspitze ausüben. „Dieser Würgegriff kann schwere Verletzungen hervorrufen oder, wenn er länger als sechs Minuten ausgeübt wird, zum Tod führen“, sagt der Trainer.
Gefährlicher Würgegriff
Bei einem Wettkampf könne der Untenliegende die Sache durch „abklopfen“ beenden. Für den Kampf auf der Straße sei der Griff nicht geeignet, in New York sei er sogar verboten. Auch seien Wettkampfpartner meist gleich schwer, hier aber liege ein deutlich schwerer Mann auf einem Jungen. „Ich glaube, er wusste nicht, was er da tut.“
Polizeisprecher Holger Vehren sagt, dieser im Stern zitierte Griff werde bei der Polizei nicht gelehrt. „Zudem muss man festhalten, dass von hier aus auch nicht beurteilt werden kann, ob die vom Stern als Expertenmeinung gewählte Bezeichnung der Eingriffstechnik überhaupt zutrifft.“ Darüber hinaus werde der gesamte Einsatz in alle Richtungen überprüft. Dazu gehöre auch eine Untersuchung des „polizeilichen Einschreitens“ durch das Dezernat Interne Ermittlungen.
Jan Henning Bode sagt, davon sei nicht viel zu erwarten, da hier Polizei gegen Polizei ermittele. „In anderen Ländern bekommt die Polizei klar vorgegeben, welche Griffe erlaubt sind und welche nicht.“ In Deutschland sei das nicht definiert. „Aber gerade nach der Geschichte mit George Floyd muss allen klar sein, dass das nicht geht.“
Schüler hat andere bedroht
Gegenüber Elternvertretern wurde übrigens von „altersgemäßen Mitteln“ gesprochen, mit denen der Junge fixiert wurde.
Angesprochen auf die Kritik des Elternrats sagt Schulbehördensprecher Peter Albrecht, ihm fehle dort, dass Schüler gegenüber einem Beamten, der sie schützen wollte, gewalttätig wurden. Dass Schüler sich zu unrecht kriminalisiert fühlten, hätten einige Eltern, aber nur sehr wenige Schülern formuliert, sagt Schulleiterin Boutez. Ihr fehlt beim Elternrat die „Multiperspektivität“.
Tim sagt, mit seinen Klassenlehrern habe es gute Gespräche gegeben. Die fänden es auch nicht richtig, dass Schüler suspendiert und bloßgestellt wurden. Es seien nun in den Pausen die Tore zu, denn es gebe tatsächlich ein Problem mit einem Schüler einer anderen Schule. Der sei eine „arme Socke“, habe aber andere bedroht. Insofern könne er verstehen, dass die Polizei aktiv wurde. „Aber die Schulleitung sollte sich bei den Schülern entschuldigen.“
*Name geändert
Anmerkung der Redaktion: Der Text wurde nach seiner Veröffentlichung korrigiert: Nicht Tim wurde wegen „Gaffens“ von der Schulleitung suspendiert, sondern ein Schüler, der neben Tim stand.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen