Ein Mädchen sitzt mit angezogenen Beinen auf einem grossen schwarzen Kreis

Foto: Il­lus­tra­ti­on: Jeong Hwa Min

Gesetz gegen Missbrauch:Was schützt die Kinder?

Mit einem neuen Gesetz soll Kindesmissbrauch härter bestraft werden. Viele fordern das. Trotzdem wird der Entwurf scharf kritisiert.

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20.3.2021, 14:26  Uhr

Es ist ein normaler Nachmittag im Hort einer Grundschule in Berlin. Die Kinder der Jahrgangsstufen 5 und 6 zeigen sich gegenseitig etwas auf dem Smartphone. Nachdem ein Junge, nennen wir ihn Ben, sein Handy gezückt hat, wirken die Kinder nervös. Am Ende des Nachmittags vertraut sich ein Schüler im Flüsterton der Erzieherin an. Ben habe eklige Videos auf dem Handy, die habe ihm der Lebensgefährte seiner Mutter geschickt. Die Erzieherin, die sich auch in anderer Hinsicht Sorgen um Ben macht, ist geschult im Umgang mit Verdacht auf sexuellen Missbrauch. Sie ruft bei einer Fachberatung an, die mit der Schule kooperiert.

Auf deren Rat hin dokumentiert sie die Situation und das Gespräch mit dem Mitschüler, zunächst ohne Namen zu nennen, und kontaktiert das Jugendamt. Dieses kontaktiert Bens Mutter. Sie erstattet Anzeige gegen ihren Lebensgefährten, weil er ihrem Sohn Pornos gezeigt hat.

Im Zuge der polizeilichen Ermittlungen stellt sich heraus, dass der Mann schon mehrfach wegen des Besitzes von Kinderpornografie vor Gericht stand, aber immer mit Geldstrafen davon kam. Auch hatte er mehrfach Kinder in ähnlicher Weise missbraucht, wie er es mit Ben machte, das kam aber erst im Zuge des Gerichtsverfahrens heraus. Dass er in diesem Fall endlich gestellt wurde, ist einer Mischung aus Zufall und der Aufmerksamkeit der PädagogInnen in Bens Schule zu verdanken. Und der konsequenten Haltung von Bens Mutter, die ihren Lebensgefährten angezeigt hat.

Der Lebensgefährte von Bens Mutter ist geständig, er bekommt per Post einen Strafbefehl zugestellt, er muss für ein paar Monate ins Gefängnis und eine Geldstrafe zahlen. Einige Zeit später werden wieder ähnliche Bilder bei ihm gefunden – diesmal ist auch Ben darauf zu sehen.

„Mit leichter bis mittelschwerer Kinderpornografie können Täter zehn- bis zwölfmal vor Gericht landen, ohne dass sie auch nur einen Eintrag ins Führungszeugnis davontragen – oder persönlich vor Gericht erscheinen müssen“, sagt Angelika Oetken, die den Fall von Ben gerade am Telefon geschildert hat. „Typen wie der Lebensgefährte von Bens Mutter kamen in der Vergangenheit zu billig davon – ich bin froh, dass sich das bald ändert.“

Ben und den Mann, der ihn missbrauchte, gibt es wirklich, nur heißen sie anders. Oetken hat den Fall auch etwas verfremdet, um keine Rückschlüsse auf echte Personen zuzulassen. Die 56-Jährige, die als Ergotherapeutin arbeitet, engagiert sich ehrenamtlich als Betroffene beim Fonds Sexueller Missbrauch. Dort berät sie als Mitglied des Betroffenenbeirates das Familienministerium und die Geschäftsstelle. Als Mitglied eines Gremiums Clearingstelle berät sie über komplexe und schwierig zu entscheidende Anträge. Außerdem ist sie aktiv in einem Netzwerk von Betroffenen, die sich dafür einsetzen, dass sexuelle Gewalt gegen Minderjährige nicht länger als Bagatelldelikt angesehen wird. Als Vergehen, also eine minderschwere Straftat, die strafrechtlich auf der gleichen Stufe rangiert wie Diebstahl oder Unterschlagung.

Wenn der Diebstahl eines Autos härter bestraft wird als der Missbrauch an einem Kind, dann läuft etwas gewaltig schief in unserer Gesellschaft, findet Angelika Oetken. Und damit ist sie nicht allein.

Sexuelle Gewalt ächten

In den letzten Jahren wurden die Gesetze gegen Kindesmissbrauch mehrfach verschärft: 2015 dehnte der damalige Justizminister Heiko Maas (SPD) die Strafbarkeit auf FKK-Bilder von Kindern aus und stellte den Versuch der Kontaktanbahnung im Internet unter Strafe. Seine Amtsnachfolgerin Christine Lambrecht (SPD) hat nun ein neues Gesetzespaket auf den Weg gebracht. Der Entwurf sieht vor, dass künftig in Gesetzestexten nicht mehr von sexuellem Missbrauch die Rede sein soll, sondern von sexualisierter Gewalt. Damit soll signalisiert werden, dass der Gesetzgeber alle sexuellen Handlungen an Kindern als Gewalt ächtet.

Außerdem soll der Strafrahmen bei Missbrauch (§ 176 StGB) und Kinderpornografie (§ 184b StGB) deutlich erhöht werden – alle unter diesen Paragrafen gefassten Taten gelten künftig als Verbrechen und werden mit nicht unter einem Jahr Freiheitsstrafe geahndet. Für sexuellen Missbrauch können bislang bis zu 10 Jahre verhängt werden, in Zukunft wären es dann bis zu 15 Jahre. Für Besitz und Verbreitung von Missbrauchsdarstellungen erhöht sich der Strafrahmen auf bis zu 5 Jahre. Wenn jemand gewerbsmäßig und in großem Stil mit Missbrauchsdarstellungen handelt, sind sogar bis zu 15 Jahre Gefängnis vorgesehen.

Nach dem neuen Gesetz würde der Lebensgefährte von Bens Mutter zu mindestens einem Jahr verurteilt und wäre vorbestraft – auch schon beim ersten Mal. Der Grund für die Verurteilung wäre in seinem Führungszeugnis vermerkt, er dürfte dann nicht mehr beruflich oder ehrenamtlich mit Kindern zu tun haben. „Wer einmal erwischt wird, wird auch verurteilt“, fasst Angelika Oetken die neue Lage zusammen. Sie begrüßt deshalb die Gesetzesverschärfung – „es wird Zeit, dass sich das Strafrecht an unsere Realität anpasst“, sagt sie.

Als kleines Mädchen wurde Angelika Oetken selbst von einem Freund der Eltern missbraucht. Bis ins Erwachsenenleben schwieg sie darüber. Gut so, wie sie heute findet. Damals, ist sie überzeugt, hätte eine Anzeige ihr Leben zerstört. „Man hätte mich in ein Kinderheim gesteckt – als beschädigtes, ‚nymphomanisches Mädchen‘ stigmatisiert wäre ich als Gefahr für andere angesehen worden. So war damals die Realität.“

Das ist heute anders. Vor Gericht, im Jugendamt oder bei der Polizei bringt man Kindern, die von sexueller Gewalt betroffen sind, mehr Sensibilität entgegen. In den vergangenen Jahrzehnten ist auch das Hilfesystem gewachsen – je früher die Taten entdeckt und geahndet werden, desto besser kann einem Kind geholfen werden.

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Die Realität heute, das sind aber auch: Mehr als 13.000 Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch, die 2019 den Ermittlungsbehörden gemeldet wurden – durchschnittlich mehr als 35 Fälle pro Tag. Dazu mehr als 1.000 Fälle sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen und Jugendlichen und mehr als 12.000 angezeigte Fälle von Abbildungen sexueller Gewalt an Kindern, sogenannte Kinderpornografie. Und das sind nur die bekannten Zahlen. Das Dunkelfeld schätzen Fachleute um ein Vielfaches größer.

Angesichts der vielen Fälle ist es nur folgerichtig, dass der Gesetzgeber aktiv wird, um sexuelle Gewalt gegen Kinder zu bekämpfen. Dennoch gibt es JuristInnen, die vor dem neuen Gesetz warnen, und TherapeutInnen, die ihre Arbeit dadurch bedroht sehen. Selbst BetroffenenvertreterInnen äußern Kritik. Woher kommt dieser Widerstand gegen die Gesetzesverschärfungen, wenn doch die Zahlen der Polizei so alarmierend sind?

Dass sexuelle Übergriffe gegen Kinder ein Massenphänomen sind, das in sämtlichen Gesellschaftsbereichen vorkommt, ist spätestens seit dem Jahr 2010 bekannt. Damals erschütterten zahlreiche Fälle etwa am katholischen Canisius-Kolleg oder an der reformpädagogischen Odenwaldschule die Öffentlichkeit.

Die Politik unter Zugzwang

Die jüngste Strafrechtsverschärfung entstand auch unter dem Eindruck besonders drastischer Missbrauchsfälle der letzten Jahre. Auf einem Campingplatz im nordrhein-westfälischen Lügde wurden zwischen 2008 und 2018 mehr als 40 Kinder von mehreren Männern missbraucht und dabei gefilmt. Einer der Haupttäter war der Pflegevater eines betroffenen Mädchens. 2019 wurde in Bergisch-Gladbach das größte bisher bekannte Pädosexuellen-Netzwerk ausgehoben, mit mehreren Zehntausenden Tatverdächtigen, die Unmengen brutaler Missbrauchsabbildungen von Kleinkindern im Internet getauscht hatten. 2020 wurde in Münster knapp ein Dutzend Männer beschuldigt, schweren Missbrauch an eigenen und Stiefkindern begangen und die Taten gefilmt zu haben. Als Haupttatort gilt eine Gartenlaube, die der Mutter eines der Täter gehört.

Die öffentliche Empörung über derlei Taten und der Eindruck, dass die Strafverfolgungsbehörden ihnen nur sehr ungenügend begegnen können, setzte die Politik unter Zugzwang. Etwas sollte, ja musste geschehen. Justizministerin Christine Lambrecht hatte sich noch nach dem Fall in Münster deutlich gegen Strafverschärfungen ausgesprochen, da sie den geltenden Strafrahmen für ausreichend hielt. Doch der konservative Koalitionspartner machte Druck: Besonders Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU), in dessen Bundesland alle drei Skandale ihren Ursprung hatten, forderte ein härteres strafrechtliches Vorgehen, er wollte ein Signal senden, dass der Staat gegen Missbrauchstäter entschlossen auftritt.

Lambrecht schwenkte um und arbeitete ein umfangreiches Gesetz zur „Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder“ aus, das im Oktober 2020 vom Kabinett beschlossen wurde. Mit der Härte des Gesetzes gegen Kinderschänder, eine sichere Sache, sollte man meinen.

Doch es kam anders: Bei der routinemäßigen Anhörung von Sachverständigen im Dezember im Bundestag zerpflückten die geladenen StrafrechtsexpertInnen den Gesetzentwurf gründlich: Der Begriff der „sexualisierten Gewalt“ sei nicht hilfreich, er verneble den Unterschied zwischen Handlungen mit und ohne Anwendung von körperlicher Gewalt – und relativiere so besonders brutale Taten. Die unterschiedslose Hochstufung zum Verbrechen sei bei minderschweren Fällen unverhältnismäßig – dabei sei die Abschreckungswirkung durch höhere Strafen nicht einmal bewiesen. Außerdem drohe eine Überlastung der Gerichte und Staatsanwaltschaften. Sogar von einer „Kriminalpolitik nach den Vorgaben der Boulevardpresse“ war die Rede.

So massiv war die Kritik, dass das Vorhaben seit Dezember auf Eis liegt. Seitdem streiten sich die Koalitionspartner darüber, die CDU will an den höheren Strafen festhalten, während der SPD viel an der Begriffsänderung liegt.

Zu den Kritikern des neuen Entwurfs gehört, ausgerechnet, der Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. „Die Reform hat viele gute Punkte, legt Ermittlern, Richtern und Staatsanwälten aber einige veritable Probleme auf den Tisch“, sagt Johannes-Wilhelm Rörig. Der Jurist begrüßt zwar, dass auch Taten wie das Befummeln von Geschlechtsteilen künftig ein Verbrechen sein sollen, warnt aber vor Unverhältnismäßigkeit. So gelte künftig auch der Zungenkuss eines 21-Jährigen mit einer fast 14-Jährigen als Verbrechen.

Für besonders problematisch hält Rörig, dass künftig alles vor Gericht verhandelt werden muss – die bisherige Lösung, einen geständigen Angeklagten in einem minderschweren Fall per Strafbefehl abzuurteilen, beschleunigt Verfahren und erspart dem Opfer eine Aussage vor Gericht. Bei Verbrechen ist der Einsatz von Strafbefehlen dagegen nicht möglich und die öffent­liche Verhandlung zwingend. Rörig fürchtet, dass das gut gemeinte Gesetz gerade für die Betroffenen einen Rückschritt bringt, da ihnen nun lange, quälende Verfahren drohten – und Staatsanwälte unter der vermehrten Arbeitsbelastung wohl so manchen komplizierten Fall eher zu den Akten legen könnten.

Gerhard Senf hat da noch eine entschiedenere Meinung. Er erklärt am Telefon ganz unverblümt, was er von dem Gesetzentwurf hält: „Das ist verlogener, populistischer Mist.“ Der 70-Jährige ist Sexualtherapeut und arbeitet in seiner Saarbrücker Praxis seit mehr als 30 Jahren mit Sexualstraftätern: Vergewaltigern, Inzesttätern, Pädophilen bis hin zu Serientätern mit sadistischer Gewaltneigung. Die meisten von ihnen sitzen noch im Gefängnis, wenn Senf zu ihnen Kontakt aufnimmt. Nach ihrer Entlassung bekommen sie bei ihm Psychotherapie im Rahmen ihrer Bewährungsauflagen.

Schaden für die Gesellschaft und den Täter minimieren und beim Patienten eine moralische Entwicklung herbeiführen, so beschreibt der Therapeut, der sein Handwerk bei der Familienberatungsstelle pro familia gelernt hat, seinen Ansatz. Über viele Jahre begleitet Senf seine Patienten durch ihren Alltag. Senf will die Täter verstehen, er glaubt an ihre Resozialisierung. Und daran, dass auch Menschen, die Kinder missbrauchen, eine Würde und Rechte haben. Der Erfolg seines Ansatzes ist unbestritten, die Rückfallquote seiner Patienten liegt bei sensationellen 20 Prozent, im Bundesdurchschnitt werden 80 Prozent rückfällig.

Doch Senf beklagt, dass seine Methode am Aussterben sei, es fehle an Nachwuchs. Zum einen, weil Einfühlung in die Psyche von Sexualstraftätern nicht gerade jeder oder jedem gegeben sei. Aber auch, weil die Arbeit immer mehr erschwert werde: Die therapeutische Betreuung in den Gefängnissen sei absolut ungenügend, es werde wenig Wert darauf gelegt. „Hauptsache im Knast“ beschreibt er die Einstellung vieler RichterInnen. Sexualstraftäter, die eigentlich eine engmaschige Betreuung bräuchten, würden schon mal im Maßregelvollzug „vergessen“. Ständig, so der Therapeut, müsse er sich um Erstattung seiner Fahrtkosten streiten und um die Finanzierung von Therapien, die der Staat zwar anordne, für die er aber nicht aufkomme. Dadurch seien er und seine Kollegen zu ehrenamtlicher Arbeit gezwungen – oder zur Abwälzung der Kosten auf die Krankenkassen durch eine zusammengeschusterte Krankheitsdiagnose.

Im Zweifel für den Angeklagten?

Besonders ärgert sich der Sexualtherapeut über die Strafverschärfungen bei Missbrauchsabbildungen im neuen Gesetz. Ein falsches Bild auf dem Computer – ein Jahr Knast? „Das ist, wie wenn Sie eine Mücke an der Wand mit einem Vorschlaghammer erschlagen – dann ist hinterher in der Wand ein Riesenloch“, schnaubt er. Fast alle Männer zwischen 14 und 80 Jahren guckten Pornos – und der Unterschied zwischen dem rasierten Geschlechtsteil einer 13-Jährigen und einer 18-Jährigen sei nicht offensichtlich.

„Im Zweifel für den Angeklagten? Das gilt jetzt nicht mehr.“ Senf sieht eine Überflutung der Gerichte durch Bagatellfälle kommen. „Abertausende sogenannte Täter – und wir Therapeuten sollen dann die echten erwischen!“

Während der Sexualtherapeut im Gesetzentwurf nur billige Law-and-rder-Symbolpolitik sieht, begrüßt Katja Ravat das deutliche Signal an die Täter. Die 44-jährige Strafrechtsanwältin vertritt in ihrer Freiburger Kanzlei seit 16 Jahren Betroffene von sexueller Gewalt – unter anderem den Jungen aus Staufen, der von seiner Mutter und deren Lebensgefährten gewerbsmäßig im Internet zur Vergewaltigung „angeboten“ wurde. Nebenbei ist sie ehrenamtlich tätig in der Geschädigtenbetreuung des Weißen Rings Breisgau.

Das erzieherische Moment

Ravat begrüßt die Heraufstufung zum Verbrechen. „In der Vergangenheit wurde der Strafrahmen oft eben nicht voll ausgeschöpft, viele Täter kamen zu billig davon. Wenn es künftig um Verbrechen geht, wird sich auch in der Justiz eine andere Sichtweise auf Missbrauchsdelikte durchsetzen“, hofft sie. Gerade bei Besitz und Verbreitung von Missbrauchsabbildungen habe sie viele Bewährungsstrafen gesehen und viele Geldzahlungen – „diese führen aber nicht zu einer Verhaltensänderung, dieselben Täter kommen immer wieder“.

Die Anwältin hofft auf das erzieherische Moment der Strafverschärfung; mit einer Verurteilung werde auch deutlich, dass der Täter sich Hilfe holen müsse. Das Bagatellargument hält sie für ungültig. „Ich glaube nicht an Ausrutscher. Jeder Täter fängt irgendwo an, besser man schreitet schon frühzeitig ein.“ Außerdem werde es auch nach dem neuen Gesetz die Möglichkeit geben, Kleinigkeiten milder zu beurteilen.

Tatsächlich gibt es auch in den neuen Paragrafen 176a und 176b weiterhin Taten, die als Vergehen definiert werden. Wenn Kind und Täter in Alter und Entwicklungsstand ähnlich sind und die sexuelle Handlung einvernehmlich geschieht, kann von einer Strafe sogar ganz abgesehen werden. Der vielzitierte Zungenkuss mit einer 13-Jährigen kann also straffrei bleiben.

Dass viele ihrer KollegInnen den Wegfall des Strafbefehls so schlimm finden, kann Katja Ravat nicht verstehen. „Von vielen Betroffenen wurde der Strafbefehl als lauwarme Lösung empfunden. Der Täter musste ja weder ausdrücklich noch öffentlich einräumen, was er getan hat. Er bekam lediglich Post nach Hause – und konnte seine Verurteilung so nach außen hin verbergen.“ Ravat glaubt, dass es den Betroffenen mehr Genugtuung bringe, wenn Tätern künftig die Hauptverhandlung nicht mehr erspart bleibe. Und Opfer müssten auch künftig nicht in jedem Fall aussagen – nur wenn der Täter nicht geständig sei. Allerdings, das räumt auch sie ein, werde das künftig wesentlich öfter passieren. In Ermangelung eines lohnenden „Deals“ würden Anwälte den Beschuldigten eher raten zu schweigen und konfrontativer verhandeln, wodurch sich Verfahren erheblich in die Länge ziehen könnten.

Das Problem, dass es bis zu einer Prozesseröffnung ein dreiviertel Jahr und mehr dauert, kennt die Rechtsanwältin aus Freiburg aber auch schon jetzt. Das Problem sei nicht die Gesetzesreform, betont sie, sondern der eklatante Mangel an RichterInnen, StaatsanwältInnen, KriminalbeamtInnen und ausgebildeten TherapeutInnen. Wenn Ravat etwas an den Reformplänen aus dem Justizministerium zu kritisieren hat, dann dies: „Härtere Strafen allein bringen nichts, wenn nicht zugleich der Personalmangel behoben wird.“ Selbst wenn ein Verurteilter die klare Aufforderung verstanden hat, sich Hilfe zu holen, dann findet er diese mangels qualifizierter Therapiestellen kaum.

Auch Angelika Oetken, die Bens Fall geschildert hat, sagt: „Gesetze müssen sich in der Praxis bewähren, deshalb muss man die Kritik der Fachleute hören.“ Sie habe beim Opferstärkungsgesetz von 2016 schon einmal erlebt, dass gute gesetzgeberische Absichten an der Realität im Gerichtssaal scheitern können. „Was hilft der Anspruch, die Justiz opfergerecht zu gestalten, wenn da überlastete BehördenmitarbeiterInnen sitzen, die in ihrer Ausbildung nie mit den Spezifika von Kindesmissbrauch zu tun hatten und sich an überholte Klischees und Arbeitsmethoden klammern?“

Als Beispiel nennt Oetken, dass viele RichterInnen nach wie vor mit der umstrittenen „Nullhypothese“ arbeiteten. Die geht grundsätzlich davon aus, dass BelastungszeugInnen die Unwahrheit sagen – bis zum Beweis des Gegenteils, der mit den Mitteln der Aussagepsychologie aus den ZeugInnen herausgeholt wird. Die Anwendung der Nullhypothese ist Standard und Vorgabe des Bundesgerichtshofs bei Sexualdelikten. Aber es bedarf dann eben geschulter Richter, die die sicherlich notwendigen kritischen Fragen in angemessener Weise stellen können, um Retraumatisierungen bei den Betroffenen zu vermeiden. Oet­ken teilt deshalb die Forderung des Deutschen Juristinnenbunds nach verpflichtender Fortbildung für RichterInnen und StaatsanwältInnen.

Aber, und jetzt wird ihre Stimme am Telefon leise, das Problem gehe ja noch viel tiefer, Strafrecht sei nicht alles, es sei ja gewissermaßen nur das Ende der Kette. „Nehmen Sie den Fall aus Staufen.“ Die Mutter und ihr Lebensgefährte bekamen zwar am Ende hohe Haftstrafen, ebenso mehrere „Kunden“ des Paars. Aber dem Jungen wären zwei Jahre brutaler sexueller Ausbeutung erspart geblieben, wenn das Jugendamt, das den Lebensgefährten der Mutter als vorbestraften Pädophilen kannte, die Gefahr für das Kind ernst genommen hätte. Im Idealfall wäre der Lebensgefährte bereits während und nach seiner ersten Haft von einem erfahrenen Therapeuten wie Gerhard Senf betreut worden.

Der Therapeut aus Saarbrücken sagt: „Geld in Tätertherapie zu pumpen, bringt politisch keine Punkte. Aber wenn der Staat die Keule gegen Kinderschänder rausholt, dann sind alle zufrieden. Auch wenn am Ende kein einziger Übergriff dadurch verhindert wird.“

Die Balance zwischen politischer Signalwirkung und praktischem Kinderschutz ist auch für die Verantwortlichen im Bundestag schwer zu finden. Damit das neue Gesetz in Kraft treten kann, muss man sich nun im Rechtsausschuss einigen. Einfach wird das nicht.

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