Gescheiterte Polizeitaktik beim G20-Gipfel: Alles richtig eskaliert?
Nach dem G20-Gipfel entpuppen sich Behauptungen der Polizei als falsch. Inzwischen sind zahlreiche Übergriffe durch Polizist*innen dokumentiert.
Der Aufklärungsbedarf ist groß, auch vor dem Hintergrund der besonderen, massenhaften Militanz der Gipfelgegner*innen.
Die verantwortlichen Politiker*innen und Polizeichefs haben sich derweil auf eine Sichtweise geeinigt: Die Polizei hat alles richtig gemacht – ihr ist für ihren heldenhaften Einsatz zu danken.
Unter den Bildern, die der Gipfel lieferte, sind auch jene, die den größten Tabubruch bezeugen: der Einsatz von Sondereinsatzkommandos gegen Demonstrant*innen – mit der Freigabe, im Zweifel zu schießen.
Geschossen wurde tatsächlich. Wie der Kommandoführer des sächsischen Sondereinsatzkommandos (SEK), Sven Mewes, der Nachrichtenagentur dpa sagte, wurden „geschlossene Türen mittels Schusswaffen mit spezieller Munition geöffnet“. Geplant war der SEK-Einsatz nicht, wie der sagte: „Wir waren eingesetzt, um sowohl bei Anschlägen gegen Politiker als auch gegen die Bevölkerung sofort reagieren und agieren zu können. Aber nur im Falle eines Terroranschlags oder einer Terrordrohung.“ Zur Frage, warum die Kommandos aus mehreren Bundesländern trotzdem am Freitagabend im Schanzenviertel zur Erstürmung mehrerer Häuser zum Einsatz kamen, sagte Mewes: „Nach dem, was ich gesehen habe, war das kein Demonstrationsgeschehen mehr. Das war deutlich weiter fortgeschritten.“
Böller statt Molotowcocktails
Eines der zentralen Argumente für den Einsatz: Die Polizist*innen seien von Häuserdächern aus mit Betonplatten und Molotowcocktails attackiert worden. Zumindest der Einsatz Letzterer scheint inzwischen fraglich. Die Hamburger Morgenpost zitierte die Einschätzung von Georg Dittié, Fachingenieur für Wärmebildtechnik. Dittié sagte, das von der Polizei vorgeführte und vielfach verbreitete Video des Wurfs eines brennenden Gegenstands auf einen Wasserwerfer zeige einen Böller. Darauf deuten sowohl die Infrarot-Emission auf dem Bild als auch das mehrfache Aufflackern des Feuers sowie die ausbleibende Explosion beim Aufprall auf dem Boden hin.
Sicher ist indes, zumindest der Einsatz der SEKs war wirkungsvoll. Kommandoführer Mewes schildert, wie sich die Situation allein durch das Erscheinen der militärisch hochgerüsteten Beamten sofort beruhigt habe: „Auf jeden Fall war die Dynamik der Straftäter absolut raus“, so Mewes.
Vermutlich war das auch das Ziel, als einige SEK-Teams am Samstagabend erneut zum Einsatz kamen, gegen eine überwiegend friedliche Menge am Neuen Pferdemarkt, einer großer Kreuzung zwischen St. Pauli und Schanzenviertel. Zuvor war es zu vereinzelten Flaschenwürfen gekommen, denen die Polizei mit dem Einsatz eines Wasserwerfers begegnet war. Plötzlich rückten mehrere Zivilfahrzeuge an, darin: behelmte und schwer bewaffnete Sondereinsatztruppen. Die Beamt*innen marschierten auf der Kreuzung auf, wo sie von Schaulustigen und Journalist*innen umringt wurden. Nach zwanzig Minuten war der Spuk vorbei. Die Spezialkommandos zogen ab, die Bereitschaftspolizei räumte die verbliebenen Menschen mit Wasserwerfern von der Kreuzung.
Der Leiter des gesamten G20-Polizeieinsatzes, Hartmut Dudde, sagte am Sonntag vor den Medien, bei einem solchen Ausmaß von Gewalt müsse man sich auch künftig auf den Einsatz von Spezialkräften einstellen. Doch was sollen SEK-Beamte, die mit beiden Händen schwere Waffen tragen, machen, wenn ein Verrückter sich nicht abschrecken lassen und sie attackieren sollte? Schießen?
Polizisten wurden selbst gegen kleinste Gruppen eingesetzt
Nicht nur die Taktik beim Einsatz des SEKs ist problematisch. Auch die generelle Polizeistrategie für die Zeit des Gipfels und der Proteste hinterlässt viele Fragen. Der Eindruck ist: Wo immer die Demonstranten friedlich waren – in den Camps, beim hedonistischen Massenauflauf am Dienstag, bei der Aufstellung der „Welcome to hell“-Demo oder bei der Großdemonstration am Samstag –, kamen Polizist*innen massiv zum Einsatz.
Selbst kleinste Gruppen wurden durch Hundertschaften und Wasserwerfer zerstreut. Auf der anderen Seite stehen jene Momente, in denen sich Autonome und Krawalllustige zusammenfanden, wie beim Streifzug durch Altona oder dem Abend in der Schanze, und die Polizei davon entweder nichts mitbekam oder zuschaute.
Von der Zerstörungstour der Autonomen durch die Elbchaussee und Altona schien die Polizei überrascht worden zu sein. Fragwürdig ist dennoch, warum bei annähernd 20.000 Polizist*innen in der Stadt innerhalb einer halben Stunde keine Einsatzkräfte vor Ort waren. Anders verhielt sich die Situation am Freitagabend. Hier kam es seit dem Nachmittag am Brennpunkt Neuer Pferdemarkt über Stunden zu Scharmützeln zwischen einigen Dutzend Randalierer*innen und Polizeieinheiten mit drei Wasserwerfern, die auf jeden Stein- oder Flaschenwurf sofort reagierten.
In den frühen Abendstunden dann wurden die Randalierer*innen und vielen Schaulustigen in Richtung Schanzenviertel getrieben, die ersten Barrikaden brannten. Und plötzlich spritzte keiner der zuvor eingesetzten Wasserwerfer mehr. Bei voller Leistung reicht der 10.000 Liter umfassende Tank nur für maximal achteinhalb Minuten.
Wasserwerfer schreckten kaum ab
Im Viertel selbst, auf dem Schulterblatt, der Straße, in der die Rote Flora liegt und es traditionsgemäß am 1. Mai und nach dem Schanzenfest zu Auseinandersetzungen kommt, hatte die Polizei keine Beamt*innen stationiert. Doch die Strategie der offenen Schanze geriet außer Kontrolle. Das Nichteindringen der Polizei gibt Rätsel auf. Es war den Beamt*innen an beiden Enden des Schulterblatts, wo sich die Autonomen sammelten, nicht ohne Weiteres möglich, ins Viertel zu dringen. Durch die Seitenstraßen, in denen überwiegend Partyvolk unterwegs war, hätte es jederzeit gelingen können.
Dem Einsatz wurde zuletzt immer wieder die Taktik der Berliner Polizei gegenübergestellt. Diese setzt viel mehr auf gezielte Festnahmen und eine andauernde Zerstreuung der Menge durch Polizisten, die sich direkt durch die Protestierenden bewegen. Das dauerhafte Einsetzen von Wasserwerfern in Hamburg jedoch führte kaum zur Abschreckung, die Anzahl der Festnahmen blieb über die gesamte Zeit vergleichsweise gering. Deeskalierend hat die Polizei in Hamburg zu keiner Zeit agiert. Öffentlich beschwerten sich Berliner Polizisten über die Hamburger Strategie.
Allerdings waren es vor allem Beamt*innen aus der Hauptstadt, die die Einkesselung des zweiten Blocks auf der „Welcome to Hell“-Demo vornahmen – und das, während an der Spitze der Demo noch Einsatzleiter und Demonanmelder miteinander verhandelten. Auf zahlreichen Videos ist dokumentiert, wie die Hundertschaft unvermittelt von der Seite in die Demo prescht und eine Paniksituation auslöst. Dabei soll es von einem Arzt, der schon bei der Love Parade in Duisburg im Einsatz gewesen war, vor Ort Warnungen gegeben haben, dass sich das Szenario von damals an dieser Stelle wiederholen könnte. Die attackierten Demonstrant*innen versuchten über eine Mauer zu entkommen. Teilweise wurden sie von Polizist*innen daran gehindert und mit Schlägen traktiert.
Die bislang unbeantwortete Frage hier: Kam die Order zum Sturm auf die Demonstration vom Einsatzleiter oder hat eine Berliner Hundertschaftsführer autonom gehandelt? Für letztere Version spricht, dass sich die Lage im ersten Block durch die Demaskierung der Teilnehmer schon beruhigt hatte, als die Polizist*innen weiter hinten dazwischen gingen.
Systematische Eskalation durch die Polizei?
Für die Autonomen lieferte das Vorgehen der Polizei am Donnerstagabend die Steilvorlage für alles an Randale, was in den darauf folgenden Nächten folgte. Aber auch die Polizei ging alles andere als zimperlich vor, zielte mit Wasserwerfern auf Demonstrant*innen und Schaulustige auf abschüssigen Häuserdächern, fuhr Einsatzwagen mit hoher Geschwindigkeit in Menschenmengen, trieb Protestierende mit Schlägen vor sich her und trat zu, auch wenn Menschen am Boden lagen.
Eine Gruppe Netzaktivist*innen hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Vorfälle von Polizeigewalt zu dokumentieren. Unter g20-doku.org können Augenzeug*innen Videos hochladen. „Wir sind der Ansicht, dass der G20-Gipfel eine völlig neue Dimension in Sachen rechtswidriger Polizeigewalt darstellt“, schreiben die Aktivist*innen auf ihrer Homepage. In einem der Videos sieht man zwei Polizist*innen mit Schlagstöcken auf einen flüchtenden Demonstranten einprügeln, bis ein dritter ihm von der anderen Seite die Faust ins Gesicht schlägt.
Empfohlener externer Inhalt
Auf einem anderen Video schleifen Beamt*innen einen bewusstlosen Demonstranten über den Boden, er ist halbnackt, seine Hose hängt ihm an den Knöcheln. Insgesamt ergebe sich der Eindruck einer „systematischen Eskalation“ durch die Polizei, sagte ein Mitglied der anonymen Redaktionsgruppe der taz. Er selbst habe noch nie ein solches Maß an Polizeigewalt in Deutschland gesehen – und er sei bei vielen Großaktionen gewesen.
Auch auf Seiten der Polizei soll es Aufklärung geben – allerdings mit einem anderen Fokus. Die Sonderkommission „SoKo Schwarzer Block“ hat ihre Ermittlungen aufgenommen. In den nächsten Tagen und Wochen sollen 170 Beamt*innen damit beschäftigt sein, ihr eigenes Videomaterial auszuwerten. Dazu kommen Hinweise aus der Bevölkerung, die aufgerufen ist, Handyvideos auf einer Polizeihomepage hoch zu laden. Auch Material von Überwachungskameras an öffentlichen Orten wollen die Polizist*innen auswerten.
Was aber passiert, wenn auf den Aufnahmen Fehlverhalten und mögliche Straftaten der Polizei dokumentiert sind? Vom Dezernat Interne Ermittlungen, das für Ermittlungen gegen die eigenen Beamt*innen zuständig ist, sitzt jedenfalls niemand in der Kommission, gab eine Hamburger Polizeisprecherin an. Aber natürlich seien die Beamt*innen angehalten, das Material weiterzugeben, sollten sie solche Fälle in ihren Videos finden.
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