Polizeigewalt oder nicht?: Ein zerstörtes Leben
Vor knapp zehn Jahren wurde Johannes M. nach dem Hamburger Schanzenfest durch einen Schlag verletzt. Seitdem ist er arbeitsunfähig.
Mit Freunden hat er auf dem alljährlichen Schanzenfest gefeiert, getrunken und von dem Festflohmarkt noch ein paar Platten abgestaubt. Es ist kurz vor halb zwei, Johannes schon müde, doch die Freunde, mit denen er unterwegs ist, sind noch in Feierlaune. Die Polizei hat begonnen, das Schanzenfest, das vom Umfeld der Roten Flora veranstaltet wird und nicht offiziell angemeldet ist, zu räumen.
Polizeieinheiten drängen mit zwei Wasserwerfern ins Schulterblatt vor, die Freunde verlassen die Piazza vor dem linksautonomen Zentrum, sammeln sich etwas abseits, dort wo die Eifflerstraße ins Schulterblatt mündet. Johannes M. ist ins Gespräch vertieft. Er merkt spät, dass Hektik aufkommt.
Plötzlich beginnen seine Freunde zu laufen, intuitiv läuft er mit. Er hört die Polizeieinheit hinter sich, die überraschend in die Eifflerstraße hineinläuft. Im Laufschritt vor ihr die Straße hochlaufend schießt Johannes M. eine Frage durch den Kopf: „Warum laufe ich denn weg? Ich habe doch nichts getan.“
Es ist die richtige Frage zum falschen Zeitpunkt. Johannes M. stoppt. Will sich an die Häuserwand pressen, die Einheiten vorbeilaufen lassen. Er dreht sich um, sieht nur kurz das, was sich ihm als „schwarze Wand, die auf mich zukam“ einprägen wird. Er sieht schwarze Uniformen, schwarze Helme, die ihn spontan an „Darth Vader“ erinnern. Dann wird alles schwarz. Im Fall sieht er noch Pflastersteine, auf denen sein Körper den Bruchteil einer Sekunde später aufschlägt.
Als das Bewusstsein zurückkehrt, wird er von Passanten die Eifflerstraße hoch geschleppt. Er sieht sein Blut, seine ganze Kleidung ist damit verschmiert. Dann Krankenwagen, schließlich ein Polizeizelt an den Messehallen, wohin die Polizei die Verletzten bringen lässt, um ihre Personalien festzustellen. Erst eine Stunde später landet er in der Klinik Altona. Dort wird zunächst ein offenes Schädel-Hirn-Trauma festgestellt, dass von dem Sturz aber auch von einem Schlag herrühren kann.
Genauere Untersuchungen ergeben schließlich, dass alles noch viel schlimmer ist. Das Schädeldach ist durchschlagen, die Stirnhöhlenvorder- und -hinterwand sind gebrochen. Eine wegen hoher Infektionsgefahr lebensgefährliche Verletzung.
Und die rührt, so wird ein Sachverständigengutachten des Hamburger Instituts für Rechsmedizin ein gutes dreiviertel Jahr später eindeutig feststellen, eindeutig von einem Schlag her. Die Wunde ist geformt wie ein Abdruck. Und der kann, so das Gutachten, „sehr gut in Deckung gebracht werden“ mit der Form eines Tonfa, der Sorte Schlagstock, mit der die Polizeieinheit, die die Eifflerstraße hinaufstürmte, bewaffnet war. Radius und Querdurchmesser von Schlagstock und Narbe stimmen exakt überein.
Kopfschmerzen, Übelkeit, Tinnitus
Seit diesem 13. September ist im Leben von Johannes M. nichts mehr, wie es war. Ständige Kopfschmerzen, morgendliche Übelkeit, gravierende Konzentrationstörungen, ein rapider Abfall seiner Belastungsfähigkeit und ein beidseitiger Tinnitus sind seine ständigen Begleiter. Permanent muss er Tabletten nehmen.
Die Auswirkung der Kopfverletzung sind so schwer, dass Johannes M. seine Ausbildung als Technischer Zeichner abbrechen muss. Er muss aufhören, als Gitarrist Musik in einer Band zu machen. Er kann nicht mehr arbeiten, selbst Hilfstätigkeiten überfordern ihn. Seit 2011 ist Johannes M. auch offiziell „voll erwerbsgemindert“. Seitdem versucht er, mit einer Rente von knapp 500 Euro über die Runden zu kommen.
Natürlich hat Johannes M. bald nach dem Vorfall Strafanzeige gegen Unbekannt gestellt. Der Täter konnte nicht ermittelt werden, das Verfahren wurde eingestellt. Bekannt ist nur, dass es die „Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit Blumberg der Bundespolizei“ war, die den Ausfall in die Eifflerstraße probte. Videosequenzen der Polizei zeigen das Geschehen kurz vor der Tat, doch in dem Bildmaterial fehlen erstaunlicherweise genau die Momente, in denen Johannes M. zu Schaden kam.
Ermittlungen eingestellt
Schließlich stellt die Staatsanwaltschaft Hamburg im Oktober 2010 die Ermittlungen ein. Der Kernsatz der Einstellungsverfügung lautet: „Die durchgeführten Ermittlungen haben (…) nicht zur Identifizierung einer konkreten Person geführt, die ihren Mandanten in jener Nacht verletzt haben könnte.“
„Es wurde nie versucht, den Täter wirklich ausfindig zu machen“, sagt Johannes M. Dabei wird ihm sogar DNA abgenommen. Sieben Monate nach dem Vorfall werden die 24 Tonfa-Stöcke der Einheit Blumberg daraufhin untersucht, ob einem von ihnen genetisches Material des Geschädigten anhaftet. Wenig überraschend finden sich keine DNA-Anhaftungen an den Schlagstöcken.
Bereits 2014 hat der Hamburger Rechtsanwalt Dieter Magsam eine Schadensersatzklage vor dem Zivilgericht angestrengt. Es geht um rund 250.000 Euro Schmerzensgeld und Verdienstausfall. Eine viertel Million Euro als Preis für ein zerstörtes Leben. Über vier Jahre hat die überlastete Hamburger Justiz gebraucht, um die Klage zuzulassen und den ersten Verhandlungstag auf den 8. Januar 2019 zu terminieren.
Die Theorie vom unbekannte Störer
Es gibt eine Erwiderung der Beklagten, der Freien und Hansestadt Hamburg, die den Polizeieinsatz geleitet hat. Danach könnte theoretisch auch ein anderer Gegenstand als ein Tonfa die Verletzung verursacht haben. Und selbst wenn es ein Tonfa gewesen sei, so heißt es im Schreiben, käme auch „einer der Störer“ als Täter infrage, da ein Tonfa auch im Internethandel von jedermann zu erwerben sei.
Dass die Polizei nach Anwaltsrecherchen während der gesamten Ereignisse rund um das Schanzenfest bei keiner einzigen Zivilperson das Mitführen eines Tonfastocks festgestellt hat, ficht diese Argumentation nicht an.
Denn wenn tatsächlich ein Polizeibeamter den Schlag ausgeführt hätte, so der Schriftsatz, hätten andere Mitglieder der Einheit Blumberg das bemerken müssen – doch keines habe solch eine Beobachtung zu Protokoll gegeben. Dass dies nicht geschehen sei, sei eine eindeutige „Indiztatsache“, dass solch ein Übergriff der Einsatzkräfte nicht stattgefunden habe. Oder, wie ein Hamburger Bürgermeister acht Jahre später nach dem G20-Gipfel erklärt hat: „Polizeigewalt hat es nicht gegeben.“
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