Geplantes Primärarztmodell: Ist da wirklich was, Frau Doktor?
Die Bundesregierung plant, dass Patient:innen künftig zuerst Hausärzt:innen aufsuchen müssen. Würde das den Kampf um Facharzttermine erleichtern?

Die Hilfesuchende konnte noch am selben Tag in der Praxis der Hausärztin im niederbayrischen Velden vorsprechen. Doch die Untersuchung zeigte: Eine Überweisung war überflüssig. Der Gehörgang war lediglich verstopft. Eine medizinische Fachangestellte spülte das Ohr, entfernte das Ohrenschmalz – und die Patientin hörte wieder einwandfrei.
„Viele Patienten wollen möglichst schnell zum Facharzt und haben gar nicht auf dem Schirm, dass der Hausarzt ihr Problem lösen könnte“, sagt Kollmer. Die Allgemeinmedizinerin verfügt über ein Ultraschallgerät, einen Apparat zur Lungenfunktionsprüfung, ein Gerät für ein EKG und ein Auflichtmikroskop zur Hautkrebsfrüherkennung. Hausärzt:innen könnten 80 Prozent der Patient:innen ohne Überweisung versorgen, sagt Kollmer, die auch Bezirksvorsitzende für Niederbayern im Hausärztinnen- und Hausärzteverband ist.
Wer zum Beispiel einen Hexenschuss habe oder einen auffälligen dunklen Fleck auf der Haut entdecke, der könne auch in einer Allgemeinarztpraxis behandelt werden, ohne zum Orthopäden oder zum Dermatologen gehen zu müssen, erklärt Kollmer. Die meisten Hausärzt:innen, sie eingeschlossen, haben eine fünfjährige Facharztausbildung in Allgemeinmedizin absolviert. Kollmer, 47, unterstützt das geplante „Primärarztmodell“ der schwarz-roten Koalition.
Nach diesem Modell sollen Hausärzt:innen künftig in der Regel die erste und oft auch einzige Instanz für Beschwerden werden. Ziel ist es, Facharztbesuche zu reduzieren, Kosten zu senken und Termine schneller zu vergeben. Die Regierung setzt „auf ein verbindliches Primärarztsystem bei freier Auswahl durch Haus- und Kinderärzte“ heißt es im Koalitionsvertrag. Die Hausärzt:innen fungieren dann als „Primärärzte“, die „den medizinisch notwendigen Bedarf für einen Facharzttermin“ und auch den dafür notwendigen „Zeitkorridor“ festlegen sollen, so der Koalitionsvertrag.
Regelung soll nur für gesetzlich Versicherte gelten
Falls die Patient:innen trotz Überweisung keinen Facharzttermin erhalten – auch nicht über die Terminservicenummer 116 117 der Kassenärztlichen Vereinigungen – sollen sie Anspruch auf eine ambulante Behandlung im Krankenhaus haben, was im Koalitionsvertrag als „Termingarantie“ bezeichnet wird. Für die Besuche bei Augenärzt:innen und Gynäkolog:innen soll weiterhin keine Überweisung von Hausärzt:innen nötig sein.
Derzeit sind nur 38 Prozent der Arztbesuche Hausarzttermine, teilt das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (ZI) auf Anfrage der taz mit. Da wäre also noch Luft nach oben.
Der Vorschlag würde nur für gesetzlich Versicherte gelten und birgt hohes Konfliktpotenzial. Es schränkt die „freie Arztwahl“ ein, etwa bei Akne direkt zum Dermatologen zu gehen. Zudem stellt sich die Frage, ob es genug Hausärzt:innen gibt, vor allem auf dem Land, um den Ansturm zu bewältigen.
Der Chef des Fachärzteverbandes Spifa, Dirk Heinrich, warnt davor, dass eine hausärztliche Primärversorgung mit generellem „Überweisungsvorbehalt“ zur fachärztlichen Versorgung „aus Gründen der hausärztlichen Kapazität ein Supergau für die medizinische Versorgung“ wäre.
Odysee bei der Terminsuche
Auch ein Primärarztmodell schafft keine neuen Hausärzt:innen. Für die Odyssee von Patient:innen ist ein Post wie dieser im Nachbarschaftsnetzwerk nebenan.de in Berlin-Schöneberg symptomatisch: „Ich suche einen Hautarzt, bei dem ich nicht einen automatischen ‚Sprachassistenten‘ am Hörer habe, nicht online Termine buchen muss und als Kassenpatient nicht sechs Monate warten muss. Ich suche dringend einen Termin für meinen Sohn“ schreibt eine verzweifelte Mutter.
Die Frau, die zuvor schon vergeblich versucht hat, online über Doctolib als gesetzlich Versicherte einen Termin innerhalb der nächsten drei Monate zu buchen, bekommt von den Nachbarn im Internet den Tipp, zum Hausarzt zu gehen und sich eine Überweisung mit Dringlichkeitscode geben zu lassen. Oder die offene Akutsprechstunde eines Hautarztes am anderen Ende der Stadt zu nutzen, die er an einem einzigen Tag in der Woche anbietet. „Man muss früh genug in der Schlange stehen. Es wird nur eine bestimmte Anzahl von Patienten angenommen“, berichtet jedoch eine Nachbarin.
In den Akutsprechstunden der Fachärzte werden oft aber nur dringende Fälle behandelt. Ein Berliner Orthopäde etwa bietet täglich am Morgen eine halbstündige Akutsprechstunde mit „Kurztermin“ an. Es werden nur Patienten mit „akuten Verletzungen, Unfällen oder postoperativer Betreuung“ versorgt, heißt es aber mahnend auf der Website. Wer da etwa mit einem seit zwei Wochen bestehenden Hexenschuss bei Orthopäd:innen auftaucht, könnte kritische Worte riskieren.
Es wäre aber nicht fair, die Fachärzt:innen allein für die Terminmisere verantwortlich zu machen. Sie unterliegen einer Honorardeckelung und nehmen daher oft keine neuen gesetzlich Versicherten auf, da die Vergütung begrenzt ist. Diese Deckelung, auch Budgetierung genannt, wurde noch von der Ampelregierung nur für Allgemeinärzt:innen aufgehoben und wird seit dem vierten Quartal 2025 für diese nicht mehr gelten.
In Großbritannien geht ohne Überweisung nichts
Doch auch Hausärzt:innen priorisieren nach Dringlichkeit. Deren geschultes Personal kann schon am Telefon eine Ersteinschätzung der Beschwerden geben. Die Praxisgemeinschaft „die Hausärzte“ in Berlin-Prenzlauer-Berg bietet täglich offene Akutsprechstunden an für Patienten, deren Beschwerden „in den letzten zwei Tagen neu aufgetreten sind“ oder die sich innerhalb der letzten zwei Tage „deutlich verschlechtert“ haben, heißt es auf der Website. Der Termin beinhalte nur fünf Minuten. Für andere Behandlungen muss ein Termin mit längerem Vorlauf vereinbart werden.
Ob das Primärarztmodell die Arztsuche erleichtern würde, bleibt also fraglich. Für Rheumapatient:innen, die nur alle vier Monate einen Termin beim Spezialisten bekommen, dürfte sich wenig ändern, ebenso wenig für andere chronisch Kranke, die von überlaufenen Fachärzt:innen versorgt werden müssen. Doch Beschwerden wie Hexenschuss, Akne oder Hautflecken könnten häufiger direkt von Hausärzt:innen behandelt werden.
In anderen europäischen Ländern, etwa Großbritannien, spielen Allgemeinärzt:innen schon jetzt die zentrale Rolle in der Versorgung. Ohne Überweisung läuft gar nichts. Auf einer Website des britischen Gesundheitsdienstes NHS etwa wird bei einer Erkrankung wie Akne erst mal zur Selbsthilfe und richtigen Hautpflege geraten, dann kommt der Tipp, die örtliche Apotheke zu konsultieren und nach Salben und Gels zu fragen. Nur bei schweren Fällen soll der Allgemeinarzt konsultiert werden. Ein Facharzt wird gar nicht erwähnt.
Ein Gesetzentwurf zum Primärarztmodell liegt noch nicht vor. Unklar ist etwa, wie Patient:innen sanktioniert werden, die Fachärzt:innen ohne Überweisung aufsuchen. Versicherte, die „weiterhin direkt und ungesteuert Fachärzte aufsuchten“, sollen sich künftig „an den Kosten beteiligen“, forderte der Vorstandsvorsitzende der kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, der das Modell unterstützt.
Der Hausärztinnenverband ist ebenfalls für das Modell. Auf dem Bundesfortbildungskongress für Allgemeinmedizin kürzlich in Berlin warnten Fachleute jedoch vor einem Gesetz, das in der Öffentlichkeit dann möglicherweise nur als Verbot der freien Arztwahl wahrgenommen werden könnte. Die Co-Vorsitzende des Hausärzteverbandes, Nicola Buhlinger-Göpfarth, sagte, „wir müssen aufpassen, dass wir aus dem Ding kein zweites Heizungsgesetz machen.“
Wie stark das Patientenaufkommen bei Hausärzt:innen bei Einführung des Modells steigen würde, hat das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung ausgerechnet. Dabei wurde berücksichtigt, dass die meisten Menschen neben ihren Facharztkontakten auch jetzt schon eine:n Hausarzt:in haben. Es erwartet, dass Hausärzt:innen mit zwei bis fünf zusätzlichen Patient:innenkontakten pro Sprechstundentag rechnen müssten.
Doktor Margit Kollmer in Velden sorgt sich nicht um einen möglichen Mehraufwand. Sie behandelt bereits 65 Patient:innen täglich. Die Ärztin wünscht sich, „dass die Patientinnen und Patienten mehr eigene Kompetenz entwickeln, ihre Beschwerden einzuschätzen und selbst etwas für ihre Gesundheit tun. Wenn die Patienten selbstständiger wären auch im Umgang mit sich selbst, wäre das der größte Fortschritt“, ist sie überzeugt.
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