GEW-Vorsitzende über neues Schuljahr: „Ich würde mein Kind impfen lassen“

Masken und Schnelltests werden uns auch im Herbst begleiten, sagt GEW-Vorsitzende Maike Finnern. Krisenfest seien die Schulen damit aber nicht.

Schülerin mit Maske in einem Klassenzimmer packt einen Schnelltest aus

Laut der GEW-Vorsitzenden werden im neuen Schuljahr auch weiterhin Hygienekonzepte gebraucht Foto: Rolf Vennenbernd/dpa

taz: Frau Finnern, die Delta-Variante breitet sich zunehmend auch in Deutschland aus. Kinder und Jugendliche sind aktuell aber noch weitgehend ungeimpft. Glauben Sie, dass die Schulen nach den Sommerferien im Regelbetrieb öffnen?

Maike Finnern: Das hängt davon ab, was in den kommenden Wochen passiert. Prinzipiell ist es richtig, dass die Schulen wieder für möglichst alle Schü­le­r:in­nen in Präsenz öffnen. Ich glaube aber, dass wir auf jeden Fall weiter Hygienekonzepte brauchen werden: Abhängig von der Infektionslage und dem Impffortschritt Masken tragen im Unterricht, aber auch verpflichtende Schnelltests. Wie es jetzt aussieht, werden die meisten Jugendlichen im Herbst wohl noch nicht gegen Corona geimpft sein. Die Schutzmaßnahmen werden uns deshalb auch im neuen Schuljahr begleiten. Anders kann ich es mir ehrlich gesagt nicht vorstellen.

Ähnlich hat sich vor kurzem Gesundheitsminister Jens Spahn geäußert – und damit heftige Reaktionen ausgelöst. Liegen die Nerven so blank, dass wir der Realität nicht ins Auge blicken wollen?

Es ist momentan sehr schwer, sachlich über diese Themen zu sprechen. Mein Eindruck ist, dass sich die Fronten verhärtet haben. Man darf nicht vergessen, dass die 15 Monate Pandemie den Familien alles abverlangt haben. Im letzten Lockdown waren die Kinder sehr lange zuhause, viele Eltern gingen auf dem Zahnfleisch. Jetzt sind wir in einer Phase, wo viele denken, es ist ja schon fast wieder vorbei. Die Zahlen sind gut, das Wetter ist gut, es läuft die Fußball-EM. Es sieht nach Normalität aus. Da verstehe ich, dass man ungern über mögliche Einschränkungen im Herbst spricht. Trotzdem muss man sich der Situation stellen. Sonst machen wir denselben Fehler wie letzten Sommer, wo viele dachten, Corona sei schon überstanden.

Viele Eltern haben das Gefühl, der Staat stellt die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen hinten an. Was können die Ministerien denn tun, um die Schulen besser zu schützen? Außer für Corona-Impfungen zu werben?

Gegen die sehr ansteckende Delta-Variante brauchen wir alle Schutzmaßnahmen. Für die Schulen ist es erst mal eine Erleichterung, dass alle Lehrkräfte, die sich impfen lassen möchten, bis zum Schulstart im Herbst durchgeimpft sind. Bei den Kindern ist die Frage natürlich schwieriger. Ich persönlich würde mein Kind impfen lassen, obwohl die Ständige Impfkommission dies momentan nicht empfiehlt. Ich kann aber auch verstehen, wenn Eltern da zurückhaltend sind. Deshalb kommt es jetzt darauf an, die Schulen über den Sommer krisenfest zu machen, etwa indem endlich Luftfilter eingebaut werden.

Beim Thema Luftfilter schütteln Viele die Köpfe. Über ein Jahr lang passierte so gut wie nichts. Seit Mitte Juni nun unterstützt der Bund die Ausstattung der Klassenzimmer mit Luftfiltern – aber nur für die Grundschulen.

Es passiert viel zu wenig, keine Frage. Darauf weisen wir ja schon lange hin. Von Seiten der Politik hören wir immer: Schulen sind ganz wichtig, Kinder und Jugendliche haben in der Pandemie stark gelitten. Aber dabei bleibt es dann häufig. Dabei muss jetzt dringend gehandelt werden. Sonst haben wir wieder die Situation wie letzten Winter, wo die wichtigste Maßnahme neben der Maskenpflicht das Durchlüften der Klassenzimmer war und Fördervereine Decken an frierende Schü­le­r:in­nen verteilen mussten. So einen Winter wollen wir nicht noch mal erleben.

Wo sehen Sie außer bei den Luftfiltern noch Handlungsbedarf?

Vor allem beim Personal. Wenn wir mehr Lehrkräfte an den Schulen hätten, dann könnten wir mit kleineren Gruppen arbeiten. Das wäre wichtig, um im Herbst die Abstandsregeln gut einhalten zu können. Aber es wäre auch gut, um besseren Unterricht machen zu können. Das haben wir in den Phasen, in denen wir im Wechselunterricht waren, gelernt. Viele Leh­re­r:in­nen haben uns rückgemeldet: In kleinen Gruppen schaffen sie mehr Stoff und können auch besser individuell auf die Schü­le­r:in­nen eingehen. Das würde vor allem denen guttun, die besonders unter der Pandemie gelitten haben.

52, ist Bundesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW)

Für abgehängte Schü­le­r:in­nen stellt die Bundesregierung eine Milliarde Euro zur Verfügung. Reicht das, um Lernrückstände und Versäumnisse bei den sozialen Kompetenzen aufzuholen?

Erst mal freut mich sehr, dass Sie den sozialen Bereich mit angesprochen haben. In der öffentlichen Debatte wird ja sehr häufig reduziert auf Stoff. Jetzt stellen Sie sich aber mal einen Jugendlichen vor, der während der Pandemie zuhause wenig Unterstützung bekommen hat und jetzt in den Ferien, wenn seine Freunde in den Urlaub fahren, Mathe oder Deutsch nachholen soll. Ich bin mir nicht sicher, ob das mit der Motivation so klappt. Dazu braucht es auch ganz andere Instrumente. Deshalb kann es nicht reichen, eine Milliarde Euro zur Verfügung zu stellen und damit zum Beispiel Nachhilfeinstitute zu beauftragen. Wir müssen das Schulsystem so verändern, dass es tatsächlich gleiche Chancen für alle Kinder und Jugendlichen gibt. Und das kostet viel Geld. Deshalb kann die eine Milliarde nur der erste Schritt sein.

Was wären Schritt zwei und drei?

Kleine Unterrichtsgruppen und Ganztagsangebote. Idealerweise wären die Schulen auch einladend und gut ausgestattet, mit digitalen Endgeräten für alle und mit ausreichenden Schul­so­zi­al­ar­bei­te­r:in­nen und Sonderpädagog:innen. Natürlich sind das alles Punkte, die man nicht von heute auf morgen umsetzen kann. Bis zum Beispiel genügend zusätzliche Lehrkräfte ausgebildet sind, vergehen einige Jahre. Aber man muss diese Punkte endlich angehen, wenn man die Chancengleichheit ernst nimmt.

Nimmt man offenbar aber nicht. Vergangenen Freitag scheiterte der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung an Grundschulen im Bundesrat. Streitpunkt war wieder mal die Frage, wer bezahlt: Bund oder Länder.

Das ist leider ein typisches Beispiel dafür, warum im Bildungsföderalismus zurzeit sinnvolle Vorhaben scheitern. Anstatt dass sich Bund, Länder und Kommunen gemeinsam überlegen, wie man den Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz im Grundschulalter gemeinsam gestaltet, streiten sich die Beteiligten über die Finanzen. Gescheitert ist das Gesetz ja, weil die Länder wollten, dass der Bund, der den Rechtsanspruch einführen will, alle Kosten selbst trägt. So kommen wir aber nicht weiter.

Wie denn? Bildungsföderalismus abschaffen? Oder im Gegenteil das Bundesbildungsministerium abschaffen, wie Winfried Kretschmann gerade etwas polemisch ins Spiel gebracht hat?

Ich würde den Bildungsföderalismus nicht abschaffen. Er hat auch viele Stärken. Gleichzeitig sehe ich aber nicht, dass es ohne die Finanzierung über den Bund geht. Dann sollte der aber komplett mit den Ländern kooperieren dürfen. Momentan darf der Bund bei Bildungsprogrammen ja nur zeitlich befristet und nicht in Personal investieren. Das Kooperationsverbot muss ganz fallen, damit diese Einschränkungen endlich wegfallen.

Das löst aber höchstens ein Teil der Probleme. Stichwort Uneinheitlichkeit. Warum ein Bundesland in der Pandemie die Schulen bei der Inzidenz 100 schließt, ein anders bei 200, versteht doch kein Mensch…

Das stimmt. Deswegen war auch die Bundesnotbremse richtig, die für einheitliche Regeln gesorgt hat.

Also hadern Sie doch mit dem Föderalismus?

Wir brauchen auf jeden Fall eine Debatte darüber, wie Bund und Länder besser miteinander kooperieren. Unabhängig davon müssen sich die Länder untereinander stärker auf gemeinsame Ziele verständigen.

Worauf sich die 16 Bil­dungs­mi­nis­te­r:in­nen prima verständigen können: dass auch in einer Pandemie möglichst alle Prüfungen geschrieben werden sollen. Finden Sie das richtig?

Nein, es ist allerhöchste Zeit, die Leistungsfixierung zu überdenken. In manchen Schulen waren erst nach Pfinsten wieder alle Schü­le­r:in­nen im Präsenzunterricht. Und die mussten dann am laufenden Band Prüfungen schreiben. Das war unnötiger Stress für die Schüler:innen. Aber auch für viele Kol­le­g:in­nen war das ein Dilemma: Sie mussten ja die Prüfungen abnehmen. Gleichzeitig war ihnen bewusst, dass aus pädagogischer Sicht zu dem Zeitpunkt ganz anderes dran gewesen wäre. Aus meiner Sicht gehören die Lehrpläne dringend entrümpelt.

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