Fußbodenbelag Linoleum: Bodenoffensive aus Delmenhorst
Linoleum hat ein etwas muffiges Image. Dabei ist der Bodenbelag nachhaltig. Ein Besuch in der derzeit einzigen Linoleumfabrik Deutschlands.
Als ich geboren werde, ist unter mir Linoleum. Als ich mich das erste Mal verliebe, zweite Klasse, ist unter mir Linoleum. Als ich das erste Mal keine Luft mehr bekomme, weil mir beim Kampfsport jemand in meinen Magen kickt, ist unter mir Linoleum. Linoleum, immer wieder Linoleum. Ich stehe fest auf ihm. Irgendwann sterbe ich, liege davor vielleicht in einem Krankenhaus, unter mir: Linoleum.
Dabei ist sein Ruf doch gar nicht so gut. Es mufft, muss oft gebohnert werden, liegt in verstaubten Amtsstuben, leuchtröhrengrellen Klassenzimmern, Spitälern. Ein Bodenbelag als Inbegriff des Unmodernen, unsexy, out. So denke ich jedenfalls. Oder täusche ich mich?
Linoleum erlebt gerade so was wie eine Renaissance. Wahrscheinlich, weil es zu 98 Prozent aus natürlichen Rohstoffen besteht. Ein BFF, Boden for Future, wenn man so will. Ist Linoleum also nicht nur Vergangenheit, sondern auch die Zukunft? Das will ich herausfinden. An nur noch drei Standorten auf der ganzen Welt wird Linoleum produziert. In Italien, in den Niederlanden und in Delmenhorst, nahe Bremen. Also los.
Ich steige in die Ringbahn zum Berliner Hauptbahnhof. Baureihe 481 – Linoleumboden, hellgrau, bunt gepunktet. Ich recherchiere und finde heraus: Lange und bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts galt Linoleum als gehobene Ausstattung. Das änderte sich, als in den 1960ern Kunststoffböden den Markt eroberten.
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Dreimal umsteigen, schon bin ich da. Von Weitem erkenne ich die backsteinrote Fabrik, ganz oben thront die Aufschrift „LINOLEUM“. Der Pförtner am Empfang, seit 35 Jahren bei den Deutschen Linoleum-Werken (DLW), sagt, er rieche das Linoleum schon gar nicht mehr. „Teil von mir.“ Dann übergibt er mich an Frank Selbeck, Marketingleiter von Gerflor. Das ist die französische Firma, die die DLW 2018 aufgekauft hat. Selbeck steht da im schwarzen Rollkragenpulli, weiße Sneaker, Typ cooler Sportlehrer. Wenn man raten müsste, was seinen Einfamilienhausboden bedeckt, eher Typ Fischgrätenparkett.
Im Jahr 1863 patentiert
Selbeck schmeißt eine Powerpointpräsentation an die Wand. Darauf Bilder: das Bremer Rathaus, das Amtsgericht Berlin-Tiergarten, das Rathaus Schöneberg. Überall ist DLW-Linoleum verlegt. Auch in anderen Ländern, in einer Sprachschule in Kyjiw, im Olympiastadion in Peking und im Opernhaus in Kopenhagen.
Wieso ist der Ruf so ruiniert, fragte ich Frank Selbeck direkt. „Den bekommt man schlecht weg“, antwortet er. Das sei ähnlich wie beim Bodenbelag Vinyl, der in den Fünfzigern mit krebserregendem Asbest hergestellt und verklebt wurde, wie man später feststellte. Bei Linoleum denke man an das Bohnern – nachpolieren mit Wachs, über den Boden kriechend – und an den starken Geruch. „Doch heute muss man nur noch feucht drüberwischen, man muss gar nicht mehr bohnern“, sagt Selbeck.
Drüberwischen über den Ruf – wenn es doch nur so einfach wäre.
Schon ziehen wir uns orangerote Warnwesten über, raus aufs Gelände. Sir Frederik Walton, ein Brite, meldete das Linoleumpatent 1863 an, einen braunen Bodenbelag. Weil die Briten die Herstellung auf das europäische Festland bringen wollten, gründeten sie 1882 die German Linoleum Manufacturing Comp., und zwar genau hier, in Delmenhorst. Linoleum, das ist Old Economy.
Und auch eine mit dunkler NS-Vergangenheit: Im seit 2018 geschlossenen Zweitwerk in Bietigheim-Bissingen arbeiteten Zwangsarbeiter. Im KZ Sachsenhausen mussten Häftlinge im sogenannten Schuhläuferkommando täglich kilometerweit über verschiedene Beläge marschieren, auch die DLW ließen ihre Böden hier testen. Für viele geschwächte Häftlinge bedeutete der Marsch den Tod. Die Zeit zwischen 1930 und 1950 fehlte in der Powerpointpräsentation zuvor.
Ein Kollege von Frank Selbeck, der Energiemanager Axel Kulawiak, leitet die Tour, mit Schutzhelm auf dem Kopf. Hin zu sechs Silos, unterscheidbar an bunten Streifen, gelb, türkis, hellblau, blau, rot, orange. In ihnen Leinöl, Hauptbestandteil von Linoleum. Auf einmal ergibt der Name einen Sinn! Kulawiak zeigt auf die Riesenfässer. „20.000 Liter passen in eins rein“, sagt er. Verschiedene Leinölanlieferungen hätten verschiedene Eigenschaften, daher die Farben. Ein Fass reiche zwei, drei Tage.
In einer Art Ofen wird das Leinöl im ersten Schritt aufgekocht und dann mit gebrochenem Baumharz gemischt. Bis zu zehn Stunden lang wird es heiß gehalten, bei 80 bis zu 140 Grad. In der Trommel wird innen gekocht, von außen gekühlt. Dadurch entsteht die Basis, sogenannte Elefantenfüße, gräuliche Klumpen, der „Basiszement“, wie Kulawiak sagt. Dieser muss zwei Wochen ruhen.
Wieder rein, in die nächste Halle. Hier wird der Basiszement nach seiner Ruhezeit gehäckselt und in einem Mischer mit Farbpigmenten und trockenen Stoffen wie Korkmehl, Kreide und Kalkmehl versetzt, auch bis zu 40 Prozent recyceltes Linoleum ist mit dabei. Dann geht das Material in den Kalander, eine Maschine mit mehreren Walzen und einem Endloslaufband aus Jute. Alles rattert, es ist laut, während die Linoleummischung wie mit einem Nudelholz zu einem ebenen, nur millimeterdicken Streifen ausgerollt wird. Mitarbeiter in Blaumännern und mit Ohrstöpseln kontrollieren den Prozess.
Ab in die Reifekammer
Das, was schon sehr nach Endprodukt aussieht, wird schließlich in 50 Meter hohen Reifekammern gelagert. Zwischen drei und acht Wochen lang hängen die mehrere Meter breiten Linoleumstreifen bei 70 bis 80 Grad wie an einem gigantischen Wäscheständer.
Und da zeigt sich ein Problem: Die Herstellung ist energieaufwendig. Früher hatten die DLW ein hauseigenes Gaskraftwerk, heute setzt der Hersteller vermehrt auf Sonnenenergie. Auf die Dächer und leeren Flächen sollen Solarpanels und sind es zu großen Teilen schon jetzt. Kulawiak, der Tourleiter, zeigt auf einen Bereich, wo Recyclingmaterial unter freiem Himmel in weißen Tonnen lagert, auch da soll Photovoltaik hin. 4.200 Kilowattstunden Strom pro Stunde produzieren sie schon, Ziel sind 9.000 – bald soll die gesamte Produktion mit Ökostrom laufen. Ich wundere mich. Vielleicht scheint im Norden Deutschlands ja doch öfter die Sonne, als das Klischee besagt.
Kurz Luft holen. Die roten Backsteine der Fabrik, dieser Geruch, Linoleum. Wie riecht es denn für Sie, Herr Kulawiak? „Eine Mischung aus Holz, Öl, Kork riecht man noch ein bisschen raus. Wie eine Flasche Sonnenblumenöl, die man zu Hause öffnet.“ Nett gesagt. Ich finde es eher leicht stechend. Aber noch ist das Produkt ja nicht ganz fertig.
Bei der Aushärtung wird es noch mal sehr geheimnistuerisch. Frank Selbeck sagt: „Hier, ein Foto von dieser Maschine, dafür würde dich die Konkurrenz küssen.“ Ich lasse mein Handy in der Hosentasche. Die Maschine, sie arbeitet, so viel darf verraten werden, mit einer Mischung aus Laser und UV-Licht, härtet die Oberfläche aus, macht Bohnern unnötig und verspricht mindestens 20 Jahre lange Haltbarkeit, wird mir erklärt.
Schweizer Konkurrenz
Der größere der beiden Mitbewerber, mit denen man um Boden im Linoleummarkt kämpft, ist die Schweizer Firma Forbo, die in den Niederlanden produziert. Ihre Ware ist momentan international gefragter als das Delmenhorster Linoleum. Forbo-Böden liegen unter anderem in der Universität Glasgow, im Juntendo-Klinikum in Tokio, im City Community Center von Richmond, Virginia. Frank Selbeck sagt, bevor Gerflor die Produktion in Delmenhorst übernommen hätte, seien nicht die allerbesten Entscheidungen getroffen worden – davon zeugen auch einige Insolvenzen der DLW in den Jahren zuvor.
Dass Linoleum in vielen Kindergärten, Schulen, Bibliotheken und Krankenhäusern liegt, hat gute Gründe. Es ist schwer entflammbar, antibakteriell und antiviral. Da es auch sehr elastisch ist, hält es viel Getrampel aus und ist generell langlebig. Und auch die Herstellung, wie ich mich nun vergewissern konnte, klappt ziemlich nachhaltig.
Aber nun noch mal zum Ruf. Ein Mann mit schneeweißem Haar und himmelblauen Augen stellt sich mir als Marco Dowidat-Eskes vor, er ist seit 26 Jahren in der Designentwicklung von Gerflor tätig. Studiert hat Dowidat-Eskes in Bremen Grafikmalerei, „brotlose Kunst“, dann bewarb er sich hier. Im Designatelier stehen Einmachgläser voller Pigmente und Minerale. Auf einem Tisch ist die gesamte Farbpalette ausgebreitet, 159 Farben. „Nur Weiß kann man nicht herstellen, das geht leider nicht“, dafür sei der Ausgangsstoff zu dunkel. Vor einigen Jahren starteten sie den Versuch, mit Folien zu arbeiten – um mehr Design aufs Linoleum zu bringen. Bisher noch nicht marktreif.
Dabei sind die früheren Linoleumböden verziert, der Boden des Bremer Rathauses etwa wie ein Mosaik. Kreise mit Quadraten, eng aneinanderliegend. „Macht man heute nicht mehr, ist zu aufwendig“, erklärt Frank Selbeck.
Linoleum sei vor hundert Jahren sehr beliebt gewesen, gerade in der Bauhaus-Bewegung, sagt Dowidat-Eskes. „Es unterstützte die Formsprache der Bauhaus-Architektur.“ Wenig Schnörkel, klare Linienführung. Marketingleiter Selbeck erzählt das gern Architekten, wenn er mit ihnen spricht. „Dann fühlen die sich total abgeholt, die stehen da total drauf“, sagt Selbeck. Das sehe man auch daran, dass die Produktion seit den 1980er Jahren wieder ansteige, sagt er, mit konkreten Zahlen hält er sich aber zurück.
Kann man vielleicht, überlege ich dabei, kontraintuitiv doch mit dem Verweis auf Tradition vom schlechten Image wegkommen? Schließlich ist das Bauhaus und dessen Architektur in jungen, urbanen und stilbewussten Blasen en vogue, kosten Vintage-Möbel im Bauhaus- oder Midcentury-Stil auch mal tausend Euro aufwärts. Ob man bald alte Linoleumböden für teuer Geld auf Kleinanzeigen erstehen kann? „Original Vintage, Geruch wie aus den 50ern, bohnern noch möglich, starker Raucherhaushalt, Preis VB.“ Das dann wohl eher doch nicht.
Zurück zu Hause fällt mir beim Treppensteigen im Hausflur etwas auf: jahrzehntealtes, abgewetztes, braunes Linoleum. Wie bodenständig.
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