Früherer Obdachloser zu Friedrich Merz: „Macht wieder auf dicke Hose“
Enrico J. fand 2004 als Obdachloser das Notebook von Friedrich Merz mit wichtigen Daten. Als Dank erhielt er Merz' Buch. Die taz hat mit ihm gesprochen.
taz: Sie haben 2004 als obdachloser Straßenzeitungsverkäufer das Notebook des damaligen stellvertretenden CDU-Bundestagsfraktionsvorsitzenden Friedrich Merz gefunden. Welche Erinnerungen haben Sie daran?
Enrico J.: Am Ostbahnhof habe ich an einem Taxistand ein Notebook gefunden und mit meinem Kumpel Micha ein bisschen darin rumgestöbert. Plötzlich hatte ich die Handynummern von wichtigen Politikern vor mir: Gerhard Schröder, der damals Bundeskanzler war, Angela Merkel, Edmund Stoiber, Theo Waigel und viele andere. Da dachte ich mir: Oh, das Ding ist heikel.
Dem „Straßenfeger“ haben Sie 2010 erzählt, dass Sie das Notebook dann beim Bundesgrenzschutz abgegeben haben.
Ja, weil das eine offizielle Behörde war und die damals am Ostbahnhof saßen. Ich hätte das Ding auch auf dem Schwarzmarkt verkaufen können, da waren sämtliche Daten der Bundesregierung drauf. Als Adresse habe ich beim Bundesgrenzschutz die der damaligen Obdachlosenhilfe angegeben. Vier Wochen später bekam ich von einer Sozialarbeiterin als Dank von Friedrich Merz sein neues Buch in die Hand gedrückt.
Mit dem Titel „Nur wer sich ändert, wird bestehen. Vom Ende der Wohlstandsillusion – Kursbestimmung für unsere Zukunft“.
Genau. Mit der Widmung: „Vielen Dank an den ehrlichen Finder“. Das fand ich echt total unverschämt. Ich habe das Buch sofort in die Spree geschmissen. Er wusste ja von der angegebenen Adresse genau, dass ich obdachlos war, doch ihm war das nicht mal einen Cent wert. Richtig scheiße.
Welche Reaktion hätten Sie sich denn von Merz gewünscht?
Es ging mir ja nicht ums Geld. Aber er hätte einfach Kontakt suchen können. Er hätte einfach mal vorbeikommen und sich ordentlich bedanken können. Immerhin habe ich verhindert, dass geheime Infos über wichtige Politiker in die falschen Hände geraten.
ist 53 Jahre alt und lebt mit seiner Lebensgefährtin in Berlin.
14 Jahre sind seitdem vergangen. Jetzt kandidiert Friedrich Merz für den Bundesvorsitz der CDU.
Als ich das gelesen habe, habe ich mich natürlich sofort an damals und diese Abzock-Aktion zurückerinnert. Mir und meinem Kumpel kann er nichts gönnen und jetzt macht er wieder auf dicke Hose. So reich ist er geworden und zählt sich ernsthaft zur Mittelschicht.
Der „Straßenfeger“, den Sie elf Jahre lang verkauft haben, wurde im Juni 2018 eingestellt.
Das war eine sehr traurige Nachricht für mich. Ich war 1998 einer der ersten Verkäufer und habe das Projekt mit aufgebaut. Auch nachdem ich als Verkäufer aufgehört habe, bin ich weiter zu Versammlungen gegangen, habe dort protokolliert oder auch mal einen Artikel geschrieben und Fotos gemacht. Es war sehr emotional, als ich von der Einstellung erfahren habe.
Sie leben mittlerweile nicht mehr auf der Straße. Wie geht es Ihnen heute?
Ich war eineinhalb Jahre auf der Straße und noch länger ohne festen Wohnsitz. Ich konnte mir dann dank einer Obdachlosenärztin einen gesetzlichen Betreuer organisieren, der mir bei der Wohnungssuche geholfen hat. Dann kam die Schuldenreduzierung und bis 2007 hatte sich das alles erledigt. Seit über zehn Jahren bin ich jetzt ununterbrochen am Arbeiten und habe eine neue Lebenspartnerin. Den ersten Job habe ich mir selbst organisiert, bei der Asbestsanierung des Palasts der Republik. Heute arbeite ich als Steinsetzer. Mir geht's gut.
Der Autor dieses Texts hat vor Erscheinen auch mit der Sozialarbeiterin Heike S. gesprochen, die das Buch von Merz damals an Enrico J. übergeben und den Vorfall bestätigt hat. Heike S. arbeitete damals in der Obdachlosenhilfe und ist heute in der Jugendhilfe tätig. Friedrich Merz will sich auf Anfrage verschiedener Medien nicht zu der Sache äußern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“