Frauen in der Öffentlichkeit: Mein Körper und ich sind schon da
Eine Frau wird jeden Sommer daran erinnert, dass sie einen Körper hat. Als würde sie sich nicht selbst daran erinnern, ständig.
Z u fett, zu muskulös, zu groß, zu klein, zu nackt, zu bedeckt, zu haarig, zu geschminkt, zu verschwitzt, zu unsicher, zu laut. Eine Frau wird jeden Sommer daran erinnert, dass sie einen Körper hat. Als würde sie sich nicht selbst daran erinnern, ständig. Als könnte sie ihrem Körper aus dem Weg gehen, wenn er sich monatlich verkrampft und blutet, wenn ihm an den empfindlichsten Stellen Haare ausgerissen werden, wenn sich auf Fotos der Bauch nach innen zieht.
Die Männer auf der Straße bilden ein Spalier, machen Geräusche, als wollten sie einen Hund anlocken, und wenn ein sogenannter Frauenkörper hindurchgeht, ist es egal, wie viel er anhat, er wird immer noch ein bisschen mehr ausgezogen. Der sogenannte Frauenkörper passt sich an die Begebenheiten an.
Er kann stehenbleiben und schimpfen, oder doch lieber Kopfhörer auf und Blick aufs Handy, oder die Straßenseite wechseln, oder lächeln und hoffen, dass nichts passiert, oder zu Hause schon überlegen, an welchem Outfit die Blicke am elegantesten abperlen. Sie hat doch die Wahl, sie ist doch frei, der sogenannte Frauenkörper ist schließlich kein Opfer, richtig?
Ich kenne keine Frau, die sich nicht in regelmäßigen Abständen selbst verletzt, mit eigenen Worten, mit eigenen Händen, in Gedanken. Wir haben das lange geübt, zuerst an den anderen: Die da zeigt zu viel Haut, also ist sie leicht zu haben. Die da zeigt zu wenig Haut, also ist sie verklemmt. Die da hat ganz schön zugelegt, also ist sie faul. Die da könnte mal ihre Akne abdecken. Dann betrachten wir unseren eigenen Körper in allem, was er spiegelt, und plötzlich sind wir jede die da, dabei wollten wir doch der sweet spot genau zwischen ihnen sein.
Sie sagt „Ich kann nicht schwimmen gehen, sieh mich an“, obwohl das Internet sagt „every body is a bikini body“. Sie sagt, „ich kann das nicht tragen, sieh mich an“, obwohl das Internet sagt, „zieh an, was du willst“. Sie sagen, „sieh mich an“, aber am liebsten wollen sie nicht angesehen werden, diese Dinge liegen außerhalb der Reichweite von reichweitenstarken Sharepics.
Sie haben fast alle Krieg gegen ihren Körper geführt: Rennen bis in die Ohnmacht, eine Zahnbürste im Rachen. Sie haben solche Angst, zu viel zu sein, dass genug unerreichbar wurde. Sie sind jetzt selbstbewusste Frauen und googeln trotzdem „how to lose weight fast“. Keine wird plötzlich sanft, wenn der Krieg vorbei ist.
Muss sie das noch schreiben, im Jahr 2021, schon wieder, wo doch jetzt alle Körper empowert werden? So viele Hashtags, so viel Befreiung. Trotzdem entscheidet sie sich für die Kopfhörer, trotzdem rät die World Health Organisation Frauen „im gebärfähigen Alter“ von Alkohol ab, trotzdem werden Abtreibungen verboten und Vergewaltigungen geduldet – es kommt sogar vor, dass sie gefeiert werden –, trotzdem steht vor beinahe jedem Adjektiv, das sie beschreibt, ein „zu“. Trotzdem soll sie sich schämen für ihren Frauenkörper, immer. Sogar dann, wenn sie ihn endlich mag.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Die Wahrheit
Der erste Schnee
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden