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Forscher über Antisemitismus in Schulen„Das Beschweigen schadet nur“

Schulen müssen verpflichtet werden, antisemitische Vorfälle zu melden, fordert Antisemitismusforscher Samuel Salzborn.

„Es ist großer Fortschritt ist, dass die Shoah fester Bestandteil des Unterrichts ist“, sagt Samuel Salzborn Foto: dpa
Ralf Pauli
Interview von Ralf Pauli

taz: Herr Salzborn, nach einer aktuellen Umfrage von CNN wissen 40 Prozent der jungen Deutschen kaum etwas über den Holocaust. Gleichzeitig berichten LehrerInnen und Mobbing-Beratungsstellen, wie normal antisemitische Äußerungen heute an Schulen sind. Sehen Sie einen Zusammenhang?

Samuel Salzborn: Ich glaube, es gibt einen Zusammenhang und es gibt ihn auch nicht. Der Zusammenhang ist, dass die historische Auseinandersetzung mit der Shoah im Schulunterricht unabdingbar dafür ist, dass sich Schülerinnen und Schüler empathisch mit Antisemitismus in der Gegenwart auseinandersetzen können. Der Nicht-Zusammenhang ist, dass Antisemitismus sich heute aus ganz verschiedenen Quellen speist, die zum Teil überhaupt nicht im Unterricht behandelt werden. Etwa aus dem populären Gangsterrap.

In der Sprache bleibt Antisemitismus aber oft klar bei der NS-Zeit. Im vergangenen Jahr gab es mehrere Vorfälle, in denen sich jüdische SchülerInnen Sprüche über Gas oder Vergasung anhören mussten. Warum ist die Vernichtungsfantasie der Nazis 74 Jahre nach Auschwitz immer noch lebendig?

Einer Illusion darf man sich nicht hingeben: Schülerinnen und Schüler, die sich antisemitisch äußern, haben sich ja nicht umfassend mit Antisemitismus beschäftigt. Sie greifen die Stereotype auf, die auch in der Gesellschaft vorhanden sind. Also Ansichten aus dem Nationalsozialismus und auch aus dem christlichen Antijudaismus. Die sind ja nach wie vor sehr präsent: in der Musik, in den sozialen Medien, in der Alltagskultur der Jugendlichen. Das heißt, die Jugendlichen bedienen sich dieser Bilder, ohne sie intellektuell zu verstehen. Das Gefährliche daran ist, dass im Antisemitismus immer die Vernichtungsandrohung steckt. Das „Andere“ gilt als bedrohlich und zugleich unterlegen. Dieses Gefühl wird bei den Jugendlichen aktiviert.

In Ihrem am Montag veröffentlichten Gutachten zum Thema Antisemitismus an Schulen kritisieren Sie, dass in vielen Bundesländern die Shoah zwar fester Bestandteil der Lehrpläne ist, die jüdische Geschichte oder der Nahostkonflikt hingegen im Unterricht teilweise gar nicht behandelt werden. Warum ist das problematisch?

Zunächst möchte ich betonen: Es ist großer Fortschritt ist, dass die Shoah und der Nationalsozialismus fester Bestandteil des Unterrichts sind. Allerdings scheint Antisemitismus auf diese Zeit verengt. Man erfährt nichts über die lange Vorgeschichte und schon gar nicht über sein Fortleben nach 1945. Ein Problem dabei ist, dass Jüdinnen und Juden im Schul­unterricht vor allem als Opfer des Nationalsozialismus dargestellt werden, oder – genauso einseitig – als Aggressoren im Nahostkonflikt. Was fehlt, ist der jüdische Alltag, die Religion, die Kultur. Die fallen einfach unter den Tisch. Jüdischer Alltag wird exteriorisiert, Jüdinnen und Juden nie als normale Menschen dargestellt.

Das befeuert wiederum die bestehenden antisemitischen Bilder. Das Problem wird noch verstärkt durch Schulbücher, die sich antisemitischer Klischees bedienen. In einigen Bundesländern werden Schulbücher gar nicht mehr zentral geprüft …

Dieser Verantwortung müssen sich die Kultusministerien stellen. Die Länder, die momentan nicht zentral Schulbücher prüfen und zulassen, haben dringenden Nachholbedarf. Ein anderes Defizit ist, dass Fächer wie Geschichte und Politik zu wenige Stunden in der Stundentafel haben. Sie müssten aber dringend Hauptfachcharakter bekommen, wenn man politische Bildung ernst nimmt. Mir ist es bis heute ein Rätsel, warum man bestimmte naturwissenschaftliche Fächer höher gewichtet als das, was den Men­schen in die Handlungsfähigkeit als soziales Wesen versetzt. Und drittens tragen auch Schulbuchverlage eine Verantwortung für die zum Teil mangelhafte Qualität. Da müssen sich bestimmte Verlage die Frage gefallen lassen, wie sie ihre Au­toren und Autorinnen auswählen.

Bild: dpa
Im Interview: Samuel Salzborn

41 Jahre alt, ist Gastprofessor für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin. Im Herbst erschien sein Buch Globaler Antisemitismus. Eine Spurensuche in den Abgründen der Moderne“ bei Beltz Juventa.

Lehrplan und Schulbücher sind nicht die einzigen Defizite. Die FU Berlin hat das Lehrangebot an 79 deutschen Hochschulen untersucht und festgestellt: Selbst in Geschichte oder Politikwissenschaften werden wenig tiefergehende Veranstaltungen über den Holocaust angeboten. Was muss passieren?

Für das Fach Politikwissenschaft kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen: Das Interesse für Rechtsextremismus oder Antisemitismus ist eher gering. Das ist sehr bedauerlich, gerade weil diese Themen in den 50er Jahren für das Fach noch zentral waren. Heute ist Rechtsextremismus weitgehend aus den Kerncurricula der Bachelor/Master-Studierenden rausgefallen. Wenn es deutschlandweit in der Politikwissenschaft keine einzige Professur zum Rechtsextremismus gibt und die Antisemitismus-Professuren nur im Fach Geschichte, muss man sich fragen, woher angehende Lehrerinnen und Lehrer ihr Wissen dann nehmen sollen.

Wissensvermittlung ist eine Kernaufgabe von Schule – Demokratieerziehung die andere. Beim Umgang mit Antisemitismus attestieren Sie Schulen ein „mangelndes Problembewusstsein“ – den Schulleitungen sogar „Problemverdrängung“. Was meinen Sie genau?

Ich halte es für einen Fehler, dass sich viele Schulen den antisemitischen Vorfällen nicht offensiv stellen. Im Gegenteil. Werden Schulleiter nicht dazu angehalten, sich mit Antisemitismus auseinanderzusetzen, halten sie die Vorfälle eher klein. Ich bin überzeugt, dass die Ministerien die Schulen zu dieser Auseinandersetzung verpflichten müssen, über verbindliche Melde- und Monitoringsysteme. Nur wenn man antisemitische Vorfälle offensiv benennt, kann man auch dagegen vorgehen. Das Beschweigen schadet nur.

Antisemitismus in der Schule

Die Studie: Am Montag stellten die Technische Universität Berlin und die Justus-Liebig-Universität Gießen das Gutachten „

“ vor. Die beiden AutorInnen Samuel Salzborn und Alexandra Kurth haben darin die Bundesländer nach ihren konkreten Aktivitäten in der schulischen Bekämpfung von Antisemitismus befragt. In ihrer Bestandsaufnahme ziehen die ForscherInnen auch die Qualität der Lehramtsausbildung, die Behandlung der Themenfelder Shoah und Nationalsozialismus im Unterricht und die Darstellung des Judentums in Schulbüchern heran.

Die Ergebnisse: Handlungsbedarf besteht für die AutorInnen vor allem im strukturpolitischen Bereich. Es fehlten „fast flächendeckend“ hinreichende Meldesysteme für antisemitische Vorfälle. Generell herrsche an den Schulen ein „mangelndes Problembewusstsein“ bei Antisemitismus. In mehreren Bundesländern fehlten zudem Zulassungsverfahren für Schulbücher. Bei den Schulbüchern selbst erkennen die Autoren „Mängel“ bei der Darstellung Israels oder des Judentums. (taz)

Idealerweise sind Lehrkräfte geschult und gewillt, Antisemitismus als solchen zu erkennen und dementsprechend zu handeln. Das ist aber genau das Problem, oder?

Wir müssen unterscheiden zwischen einer langfristigen und kurzsichtigen Strategie. Langfristig spielen bessere Schulungen an den Hochschulen und überarbeitete Schulbücher eine große Rolle. Kurzfristig ist es wichtig, auch auf zivilgesellschaftliche Akteure zu setzen. Gerade in Berlin sind viele kompetente Beratungsstellen. Hier wäre ein hilfreicher Schritt, Projektmittel für diese Träger zu verstetigen, damit diese Fachkräfte in Konfliktfällen an den Schulen zur Verfügung stehen.

Vergangenes Jahr haben diverse PolitikerInnen verpflichtende KZ-Besuche gefordert. Was halten Sie davon?

Das Besuchen von Gedenkorten sowie die Auseinandersetzung mit konkreten Opferbiografien halte ich für ein wichtiges und richtiges Element in der Präventionsarbeit. Allerdings nur als Ergänzung zum Unterricht. Findet diese Kontextualisierung nicht statt, kann bei Jugendlichen das Gefühl entstehen, dass das Ganze wenig mit ihnen und ihrer Gegenwart zu tun hat. Das ist das große Risiko.

Viele Familien, deren Kinder in der Schule antisemitisch beleidigt oder körperlich angegriffen wurden, berichten von einer Bagatellisierung des Vorfalls. Was raten Sie Betroffenen in so einem Fall?

Das Hauptproblem ist, dass in diesen Fällen eine ernsthafte Auseinandersetzung offenbar nicht stattfindet. Das Problem wird bagatellisiert, verdrängt. Ich habe vollstes Verständnis dafür, dass Eltern in so einer Situation ihr Kind von der Schule nehmen. Hinter diesen Erfahrungen steckt aber auch ein strukturelles Problem. Hier liegt die Verantwortung nicht nur bei den Schulleitungen, sondern auch eindeutig bei den Kultusministerien. Die wissen um die Probleme mit Antisemitismus an Schulen. Sie müssen unbedingt Meldesysteme schaffen, damit solche Fälle der Öffentlichkeit gar nicht entzogen werden können. Dann müssen Schulen notgedrungen anders mit dem Thema umgehen.

Berlin nimmt dabei die Pio­nierrolle ein. Die Schulen müssen ab dem kommenden Schuljahr antisemitische Vorfälle melden. Es gibt Notfallpläne mit genauen Handlungsanweisungen. Wie sieht es im Rest der Republik aus?

Berlin hat hier ganz klar eine Vorbildfunktion. Das sehen wir auch daran, dass das Abgeordnetenhaus den Senat vor Kurzem aufgefordert hat, eine Landeskonzeption gegen Antisemitismus zu entwickeln, bei der es auch um Schulen geht. Damit zeigt Berlin, dass es ein Problem mit Antisemitismus hat. Andererseits, dass es klar gegen Antisemitismus vorgehen will. So weit sind die anderen Bundesländer nicht: dort glaubt man, Antisemitismus als ein Problem unter vielen abhaken zu können. Das ist meines Erachtens eine schwere Fehleinschätzung.

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23 Kommentare

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  • Am Anfang steht die Pädagogik.



    Das heißt: wie kann gut mit didaktischen Methoden all das, was in den Schulen gegenwärtig als antisemitisch und oder religiös intolerant ("falsche Koranschule") erlebt wird, bearbeitet werden?



    Melden hilft der Bürokratie und bestärkt die Trennung zwischen "uns" und "denen". (Ja Zählungen sind wichtig)



    Was soll denn aus dem Melden folgen?



    Ein Kreislauf aus Abwerten und Strafen?

    Didaktische Methoden für Gruppen können Emotionen adressieren, und erleben, wie mensch ohne Angst verschieden sein kann.

    Ein Ansatz ist z.B. das von der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus KIgA erarbeitete Rollenspiel, in dem die Kinder und Jugendlichen ihr Leben und ihre Familien thematisieren.



    Kann sein, dass es in einem Treffpunkt außerhalb der Schule viel besser funktioniert als in der Penne?!

    In den meisten Schulen müssen heute auch Kinder und Schüler in Sek 1 Verantwortung übernehmen, haben Besprechungstreffen, etc.

  • „Wenn es deutschlandweit in der Politikwissenschaft keine einzige Professur zum Rechtsextremismus gibt und die Antisemitismus-Professuren nur im Fach Geschichte, muss man sich fragen, woher angehende Lehrerinnen und Lehrer ihr Wissen dann nehmen sollen.“

    Herr Salzborn sollte seinen Wikipediaartikel umschreiben lassen, wo er als Soziologe und Antisemitismusforscher gelistet wird. de.wikipedia.org/wiki/Samuel_Salzborn

    Vielleicht hätte ihm bei solchen Aussagen die Liste der Antisemitismusforscher ( de.wikipedia.org/w...semitismusforscher ) und der Rechtsextremismusforscher ( de.wikipedia.org/w...xtremismusforscher ) ebenfalls im Wikigedöns zu finden, weitergeholfen.



    Oder einfach mal nach Rechtsextremisforschung & Universität googeln. Hätte auch geholfen www.google.de/sear...N&biw=1024&bih=729

  • Äh, Sie informieren sich über den jüdischen Glauben bei Chabbat.org, also den Zeugen Jehovas des Judentums?

    Die, wenn sie Jude sind mal vor ihrer Tür stehen und mit ihnen darüber sprechen wollen, wie man ein besserer Jude werden kann und sie bekehren wollen?

    Also die Chabadniks, die Freitags Kinder ansprechen ohne Einverständnis der Eltern und sie bequatschen wollen zum Gebet oder zur Torastunde zu kommen?

    Chabad ist eine spezielle Richtung des Chassidim, einer Strömung des orthodoxen Judentums, das ist auf keinen Fall gleichzusetzen mit dem "Judentum."

    In Frankfurt ist dem Chabad inzwischen die Nutzung der Synagoge oder anderer Räumlichkeiten der Gemeinde verboten worden, seine Veranstaltungen werden nicht mehr unterstützt.

    www.jg-ffm.de/mand...habad_Vorstand.pdf

    Und "Israel heute" ist, sagen wir mal ein eher etwas "konservatives" Portal und wer da so die Artikel kommentiert, würde ich teilweise unter stramm rechts einordnen.

    Beide sind maximal ein Teilaspekt des Judemtums und Israels, auf keinen Fall bilden sie beide Themen vollständig ab.

    • @Sven Günther:

      @ Frank Mögling

  • Wer Antisemitismus als Provokation benutzt, pflegt auch Resentiments gegen Juden, das kann ich ihnen versichern. Zum Beispiel dieses hier, dass Antisemitismus kein 'echter' Rassismus ist. Wie kommt man denn auf sowas, wenn man nicht irgenwo abgespeichert hat, dass Juden anders als andere Menschen sind? Glauben Sie nicht auch, dass viele Jugendliche Ausländerfeindlchkeit als Provokation benutzen? Beim Abwerten der anderen fängt es immer an, egal aus welchem Grund.

  • Nach meiner Wahrnehmung muss Antisemitismus in Berlin ein besonderes Problem zu sein. Obwohl: "Gerade in Berlin sind viele kompetente Beratungsstellen. Hier wäre ein hilfreicher Schritt, Projektmittel für diese Träger zu verstetigen,..."

    Ich bin überzeugt davon, dass an sehr, sehr vielen Schulen projektbezogener Unterricht zum ThemaAntisemitismus und Holocaust durchgeführt wird und viel zu wenig projektbezogener Unterricht zum jüdischen LEBEN in Deutschland. Zum Beispiel mit einem Kontakt zur örtlichen jüdischen Gemeinde.

    Gut in Erinnerung habe ich noch die vielen Hinweise meiner Mutter, die mir als Kind Orte zeigte, wo sehr liebe Menschen wohnten, die dann plötzlich verschwanden und deren Hab und Gut demoliert oder verscherbelt wurde. Dadurch nahmen die nonymen Toten zumindest etwas Gestalt an.



    Und dennoch hatten jüdische Menschen für mich lange Zeit größtenteils etwas mit Verbrechen der Nazis zu tun bis ich selbst jüdische Menschen kennen lernte, die lebten und genau so dachten und handelten wie ich selbst. Genau das hat mich dazu verleitet, mit Jugendlichen viel stärker jüdisches LEBEN in den Vordergrund zu stellen ohne den Holocaust zu vernachlässigen.



    Vielleicht sollten Schulen einfach einmal darüber nachdenken, wie sie einen besseren Kontakt zum jüdischen LEBEN herstellen. Dämonisierung ist stets auch Ausdruck von Mangel eigener Erfahrungen. Ob Antisemitismus, Russenphobie oder eine andere Form des Rassismus, stets kann man gleiche Muster erkennen.



    Und der deutsche Besserwisser scheint ohnehin lieber drastische Mittel zu bevorzugen wie z.B. Meldepflicht für Antisemitismus. Ein Begriff, der so inflationär benutzt wird, dass er seine Schärfe verloren hat.



    Wenn z.B. jede Äußerung an der rechtsnationalistischen israelischen Regierung schon als Antisemitismus verstanden wird, wird es schwer sein, jüdisches Leben als etwas ganz normales zu verstehen.

  • 8G
    81331 (Profil gelöscht)

    ...wieso wird immer wieder versucht, das Leid der einen, über das Leid der anderen zu stellen? Wieso sollte das Leid der einen 'leidvoller' sein, als das Leid der anderern?



    Was ist mit dem sog. Alltagsrassismus, der Fremdenfeindlichkeit, in unseren Schulen, in unserer Gesellschaft?



    Es gibt vermehrt Menschen in unserer Gesellschaft, welche die kleinen 'Errungenschaften' der letzten 30 Jahre mit Füßen treten. Menschen, die über Sinti und Roma als 'Zigeuner' sprechen, Menschen, welche der Meinung sind, dunkelhäutige Menschen dürfen in der heutigen Zeit wieder als 'Neger' bezeichnet werden.

    • @81331 (Profil gelöscht):

      Sie sehen, Ihre "Errungenschaften" scheinen nichts gebracht zu haben.

      Wenn AFDler mit Plakaten demonstrieren, auf denen "Roma raus" steht, andererseits sich Lovara als Zigeuner bezeichnet sehen wollen, sehe ich darin keine Errungenschaft.

      Hinzu kommen skurrile Diskussionen um Süßigkeiten à la Mohrenkopf, die eher der .

      Statt das Denken zu ändern, wurde moralische Überlegenheit demonstriert und in Bezug auf "Neger" eine Euphemismus-Tretmühle geschaffen.

      Vielleicht sind ihre "Errungenschaften" Teil des Problems.

      Mein Eindruck ist jedenfalls, dass rassistische Äußerungen heute deutlich offener und drastiger formuliert werden als vor 30 Jahren.

      Und woraus resultiert Ihre Meinung, das Leid der einen werde über das Leid der anderen gestellt?



      Ich kann es nicht erkennen.

    • @81331 (Profil gelöscht):

      Das mit Holocaust und den Sachen davor haben Sie aber schon mitbekommen, oder?

  • Das Problem nennt sich Mobbing und lässt sich wohl kaum eine bestimmte Form der Diskriminierung runterbrechen. Einseitige Skandaliserungen bestimmter Vorfälle verkennen den dynamischen und auswechselbaren Charakter des Mobbings. Hier müssen die Lehrkräfte stets auf die jeweilige Lage innerhalb der Klasse reagieren können. Eine Hervorhebung bestimmter Diskriminierungsformen erschient mir hier problematisch, auch weil das durchaus bestehende Interesse der Öffentlichkeit zumeist dazu führt, dass Konflikte den Klassenraum verlassen und nicht mehr durch die Klassengemeinschaft verarbeitet werden können und sich dadurch eher verhärten. Man tut betroffenen jüdischen Schülern nichts Gutes, wenn man ihnen unreflektiert Plätze an jüdischen Schule anbietet, denn Trennung torpediert nicht bloß die Inklusion, sondern auch die Solidarität der Mitschüler. Auch liegt die Gefahr an, dass diskriminierte nichtjüdische Schüler, durch eine einseitige Ächtung d.h. offizielle Einstufung des Antisemitismus als primäre Form des Mobbings, von Seiten der Lehrkräfte und der Öffentlichkeit nicht die gleiche Anerkennung erfahren würden und dadurch eher zu Ressentiments neigen könnten. Es müssen alle Formen der Diskriminierung anerkennt und bekämpft werden und nicht bloß diese oder jene. Außerdem richtet sich Mobbing zumeist gegen eine bestimmte Person und dabei werden "Eigenschaften" wie Aussehen, Nationalität, Religion, usw. nur zu bloßen Mitteln, um überhaupt zu Verletzen. Durch die Bekämpfung des Antisemitismus an den Schulen löst man nicht die Mobbingproblematik, setzt man sich jedoch für eine starke solidarische Klassengemeinschaft ein, dann werden nicht bloß Antisemitismus, sondern auch andere Formen der Diskriminierung schwinden. Dies ist jedoch vornehmlich eine Aufgabe der Schüler, der Lehrer und der Eltern. Eine öffentliche Skandalisierung hilft da kaum weiter und geht zulasten aller Betroffenen.

    • @Jakob17:

      Wenn Menschen sich antisemitisch, sexistisch, rassistisch etc. äußern, ist das nicht einfach nur Mobbing. Es bedeutet, dass man sich einer vorhandenen Ausgrenzungs-/Abwertungsstruktur bedient, um andere zu verletzen. Beispiel: Wenn das Kind einer jüdischen Familie in der Schule an den Kopf geworfen bekommt, dass es vergast gehört (ein schreckliches Beispiel, es tut mir weh, dass zu schreiben, aber das kommt leider vor), dann ist das eine Art von Verletzung, der man nichts entgegensetzen kann, weil es nichts vergleichbares gibt. Dasselbe gilt für das N-Wort für farbige Menschen oder das Schimpfwort 'Schlampe' oder 'Nutte' für Mädchen - diese Worte bedienen sich einer Struktur in unseren Köpfen und richten viel mehr Abwertung und Schmerz an, als ein gewöhnliches Fluchwort. Auch wenn die Verursacher das oft gar nicht wissen oder abschätzen können. Deswegen ist es sehr wichtig, diese Vorfälle gezielt und einzelnd zu betrachten und nicht als Mobbing abzutun. Beim Mobbing hat der Aggressor nicht eine ganze gesellschaftliche Struktur hinter sich, die ihm auf die Schulter klopft, wenn er/sie andere abwertet. Können Sie das nachvollziehen? Damit will ich Mobbing nicht verharmlosen. Aber es ist eben nicht das Gleiche und es kann nicht auf die gleiche Art gelöst werden. Nicht jedes Kind, das ein anderes beschimpft, ist ein Mobber, aber wenn es dabei Nazivokabular benutzt, dann muss es verstehen, was es damit auslöst.

      • @Maike Lala:

        Wenn antisemitische, insbesondere wenn klaren und eindeutig antisemitische Sprüche fallen, dann ist sofortiges Handeln notwendig.

        Kein Monitoring oder Meldewesen, wie Herr Salzborn es sich wünscht, und der Vorfall zu einer statistischen Nullnummer reduziert wird! So kann man sowohl dem Mobber wie dem gemobbten helfen.

        Herr Salzborn sollte sich mit Pädagogen zusammen setzen, bevor er ein Schülerratingsystem an Schulen installiert haben will.

  • Ich geh mal steil: der ganz überwiegende Teil des Antisemitismus ist Provokation. Der ganz überwiegende Anteil bei der sonstigen Fremdenfeindlichkeit hingegen ist "echt", ist also mit einem irgendwie gearteten als- fremd- oder-



    bedrohlich- empfinden zu tun. Im zweiten Fall kann Wissen helfen, ob es im ersten Fall hilft ist noch sehr fraglich. Das Erleben eines Zeitzeugen, das Lesen von Anne Franks Tagebuch, und zwar nicht als Schulstoff, kann viel bewegen, verordnetes Lernen kaum. Zumal es ja an grundsätzlichem Wissen nicht mangelt. Kaum jemand weiß mehr über den Holocaust als die heute 70- bis 50jährigen Linken. Trotzdem gibt es in kleinen Teilen dieser Gruppe einen stabilen, unterströmigen Antisemitismus. Wissen hilft nicht, Erleben schon eher, aber auch dies mit Einschränkungen.



    Ich denke, der Holocaust gehört in die Schule, aber nicht als benoteter Stoff.



    In Projekten zur Geschichte der eigenen Stadt oder des Stadtviertels, auch vielleicht über die Geschichte der eigenen Familie, über Klassenfahrten und ihre Vorbereitung oder in Form von Stolperstein- Patenschaften lässt sich viel mehr erreichen. Wenn am Ende möglichst viele wenigstens ahnen, dass die Opfer genau solche Menschen waren wie sie selber und dass auch die Täter in aller Regel auch nicht wirklich anders waren, dann wäre schon viel gewonnen. Ob allerdings die organisierte, reflexartige und öffentliche Empörung bei jeder antisemitischen Pöbelei auf dem Schulhof hilft, Antisemitismus zu unterbinden ist doch sehr fraglich.

  • Guten Tag Samuel Salzborn, guten Tag Ralf Pauli. Sie haben sich zu einem Interview verabredet deren Sinn und Inhalt sich mir nicht so recht erschließen will.

    Für mich ergibt sich ein konfuses Bild fern jeder Realität, von nicht einmal ansatzweise zu Ende gedachten Forderungen an die deutsche Politik, Kultusministerinnen, Elternhäusern, Lehrerinnen und Schülerinnen.

    Die Forderungen nach einem bundesweiten flächendeckenden Meldesystem für antisemitische Vorkommnisse lässt mich gruselig erschaudern und erinnert mich an Meldesysteme die wir zu Zeiten des Nationalsozialismus in Europa und in der Diktatur des Arbeiter und Bauernstaat der Deutschen Demokratischen Republik hatten.

    Ich persönlich halte auch nichts davon im 21. Jahrhundert Gruppen von Jugendlichen dazu zwangs zu verpflichten durch frisch renovierte, Gedenkstätten, des unvorstellbaren Leiden in ehemaligen deutschen Konzentrationslager zu spazieren und heimliche Selfies zu machen.

    Das Beschweigen nur schadet ist unbestritten, da gebe ich Herrn Samuel Salzborn recht, aber im Zeitalter der Aufklärung durch unzählige Reportagen und Dokumentationen durch die öffentlich rechtlichen wie durch die privaten Medien auf Jugendliche (Kinder) loszugehen und sie in die moralische Verantwortung nehmen zu wollen schadet noch mehr.

    Wer sich selber informieren und einen Einblick über das Leben im modernen Israel verschaffen will kann dies über "Israel Heute" tun und wer sich für die jüdische Religion interessiert über "Chabbat.org".

    Aber bitte keinen deutschen staatlich verordneten Voyeurismus und keine moralisierende Geschwätzigkeit über das nicht in Worten zu beschreibende und emotional nicht zu fassende Unfaßbare, "der Banalität des Bösen"- siehe Hannah Arendt.

    Das gesellschaftliche, demokratische bildungspolitische Problem was wir nicht nur in Deutschland, sondern in Europa haben, ist ein Problem des mangelnden Mitgefühl für das Leben der Anderen.

    Es gilt die Würde aller 6 Millionen Toten zu achten.

    Shalom

  • 4G
    4813 (Profil gelöscht)

    Meine Tochter hat diese Woche mit der Schulklasse einen Film über Holocaust-Leugner im Kino angesehen - im Rahmen des Deutschunterrichtes. Davor hatte sie das Thema noch nicht im Unterricht, in Geschichte sind sie bei Weltkrieg I.



    Die Schulklasse fand den Film nicht so relevant.



    50% der Kinder kommen ursprünglich nicht aus Deutschland, die wissen über dieses Thema noch weniger, als die hier verwurzelten.

    Und da wundert man sich über Antisemitismus an Schulen, der auch kein rein deutsches Problem ist. Sondern ebenso ein russisches, türkisches, arabisches, indisches, pakistanisches und afghanisches.



    Die Kinder aus ihrer Klasse, die aus Afrika stammen nehme ich mal raus, dort scheint man andere Probleme zu haben.

  • Kinder plappern einerseits unreflektiert das nach,was Erwachsene zu Hause äußern,das ändert sich aber ab einem gewissen Alter grundlegend.Für viele gehört zur Pubertät,dass die Werte und Gewohnheiten im Elternhaus dann mal auf den Prüfstand kommen und mancher pikiert ist,über sein früheres Verhalten.Da kann ein Schulwechsel auch sehr befreiend wirken.



    Aber dieses Land war nie frei von solchen Äußerungen und die Kinder haben sie auch immer in die Schulen getragen.Nach den späten Siebzigern und Achtzigern,war man solche Dinge eine zeitlang los,aber dann kam der Antisemitismus wieder über arabischstämmige Integrationsfrustrierte.



    Ich kann mich an den Ausdruck "bis zur Vergasung" erinnern,aus den Siebzigern.



    Ich verstand das als anderen Ausdruck für "bis zum Gehtnichtmehr",und hatte das zuerst überhaupt nicht mit dem Holocaust verbunden,von demich noch nichts wußte,bis auch bei mir eines Tages der Groschen fiel.



    Ich erinnere nicht,wo ich den Ausdruck aufgeschnappt hatte.



    Aber ich lebte auch auf dem Land,wo es in der Schule zu der Zeit weder Kinder mit Migrationshintergrund gab,noch Juden.



    Erst als ich dann auf´s Gynasium ging, in einer Kleinstadt,in der es einen alten Judenfriedhof gab,aber auch keine Juden mehr,kamen Fragen hoch.



    In den Achtzigern gab es sogar noch offizielle SS-Kameradschaftstreffen und den Anschlag auf dem Oktoberfest und die "Wehrsportgruppe Hofmann"machte Schlagzeilen.



    Oft kommt es mir vor,als habe die Naziseuche dieses Land zu jeder Zeit fest im Griff gehabt.

    • 4G
      4813 (Profil gelöscht)
      @Markus Müller:

      In Ostberlin in den 60/70igern war das nicht so das Thema, ich weiß nur, dass uns einmal der reiche Onkel aus dem Westen besucht hat, da hat er über den Besuch in der Disco gesagt, es wäre "voll wie in der Gaskammer gewesen". Das ist uns schon sehr aufgestoßen.



      In den 80igern mit den Skinheads etc. schwappte das allerdings voll rüber.

    • @Markus Müller:

      Der Spruch „...bis zur Vergasung“ hat aber ursprünglich keinen historischen Bezug zum Holocaust, sondern stammt aus dem 19.Jahrhundert in Anlehnung an die damals übliche Leuchtgasgewinnung aus Kohle.

      • @Saile:

        Könnten Sie das genauer ausführen,denn das klingt fast zu schön,um wahr zu sein.Ich höre das auch zum ersten Mal und kann mir so gar nichts darunter vorstellen,noch wie der Ausdruck dann seinen Weg in die Umgangssprache gefunden hat?

        • @Markus Müller:

          z.B. der Artikel in der „Zeit“ vom 8.1.2009 (eines der ersten Suchergebnisse), als Quelle ist hier der Duden angegeben...der Begriff entstand noch vor dem Ersten Weltkrieg, danach bekam allerdings durch die Traumata des Gaskrieges das Wort Vergasung recht schnell seine primäre heutige Bedeutung.

          • @Saile:

            Interessant,es gibt sogar einen Wikipediaeintrag zu der Redewendung.

            de.wikipedia.org/wiki/Bis_zur_Vergasung

            Ich teile jedoch die Ansicht,dass die Redewendung nach dem Holocaust ein absolutes Nogo ist,egal welchen Ursprunges sie ist.



            Auch die Worte "Jedem das Seine" ,kann man nicht mehr ohne den Hinweis auf Buchenwald verwenden.Meiner Meinung nach.

    • 8G
      88181 (Profil gelöscht)
      @Markus Müller:

      Ich bin in den 60ern aufgewachsen und auch bei uns war es selbstverständlich "bis zur Vergasung" zu sagen.

      Im Schreibwarenladen konnte man vor Silvester für Kinder erhältliche kleine Feuerwerkskörper kaufen, die hießen "Judenfürze".

      Die Verwegenen unter uns rauchten ein dubioses getrocknetes Kraut aus einer heimischen Pflanze, die hießen "Judenstengel".

      Nacktschnecken hießen "Judenschnecken". Das ist das, war mir spontan einfällt.

      Ansonsten wurde über Juden nicht gesprochen, es wurde laut über sie gechwiegen. Bis auf oben genannte Widerlichkeiten.

      Das alles war ja nie weg, es war nur abgetaucht, jetzt brodelt es langsam wieder hoch. Nicht gleich, keiner sagt "Juda verrecke". Der zum Antizionismus transformierte Antisemitismus fordert das Ende des Staates Israel, weil er nicht mehr das Ende der Juden fordern kann.

      • @88181 (Profil gelöscht):

        Das war auch - mit Abstrichen - in den 80ern noch so.



        Ich war noch zu jung, um von irgendetwas Plan zu haben. Erst recht nicht von den Dingen, über die ohnehin keiner geredet hat, aber ich kann mich noch gut an dieses seltsame Lachen erinnern, das meist kam, wenn jemand 'Judenfurz' gesagt hat.



        Ein bisschen verkniffen, etwas ängstlich und dennoch total stolz, es dennoch gesagt zu haben.

        #westdeutscheKindheit