Energiepolitische Rückzugsgefechte: Brauchen wir doch noch Atomkraft?
Journalist:innen befeuern und verteufeln die Atomrenaissance. Die wichtigsten Antworten zu einer deutschen Zombiedebatte.
Ist der Atomausstieg in Deutschland nicht längst beschlossen?
Oh ja, das ist er. Die ostdeutschen Atomkraftwerke wurden schon im Zuge der Wende abgewickelt, den gesamtdeutschen Ausstieg hielt erstmals der „Atomkonsens“ von Rot-Grün im Jahr 2002 fest. Der wurde dann zwar 2010 von Schwarz-Gelb wieder aufgelöst, aber ein Jahr später, nach der Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima, wieder festgezurrt. Seit Neujahr laufen nur noch drei AKW in Deutschland, nämlich „Neckarwestheim“ in Baden-Württemberg (betrieben von EnBW), „Isar“ in Bayern (PreussenElektra) und „Emsland“ in Niedersachsen (RWE). Auch deren Abgang vom Netz steht kurz bevor, er soll noch dieses Jahr erfolgen.
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Was hat die „EU-Taxonomie für nachhaltige Finanzen“ mit der Debatte zu tun?
Die Taxonomie soll Investor:innen, die ihr Geld möglichst sauber anlegen wollen, Orientierung geben. Und nach dem Willen der EU-Kommission dürfte bald auch Atomkraft als nachhaltig gelten. Theoretisch dürften also Fonds, die Geld für Atomkraftwerke einsammeln, sich unter bestimmten Auflagen mit dem EU-Ökolabel schmücken. Die Sorge ist, dass das Geld von erneuerbaren Energien wegnimmt – und dass das Vertrauen in nachhaltige Finanzprodukte schwindet. Außerdem befürchten Umweltschützer:innen, dass die Taxonomie als Vorlage für neue EU-Regeln für die Vergabe öffentlicher Gelder dient und ganz generell in der Debatte um Atomkraft den Diskurs verschiebt.
Fans der Atomkraft loben sie als klimafreundlich. Stimmt das?
Das kommt darauf an, womit man sie vergleicht. Pro Kilowattstunde Atomstrom fallen laut dem Weltklimarat IPCC 3,7 bis 110 Gramm CO2 an. Diese gigantische Spanne kommt unter anderem dadurch zustande, dass die Endlagerung des Atommülls noch ein ungelöstes Riesenproblem ist, was auch Ungewissheiten bei der CO2-Bilanz mit sich bringt. Das Umweltbundesamt nutzt den Mittelwert von 55 Gramm CO2 pro Kilowattstunde. Das ist nur ein Bruchteil von dem, was bei der Verbrennung von Braunkohle anfällt: mehr als ein Kilo pro Kilowattstunde nämlich. Auch Gas ist mit fast einem halben Kilo CO2 pro Kilowattstunde deutlich schädlicher, zumal durch Leckagen in Pipelines zusätzlich Methan entweicht und den Planeten aufheizt.
Der Vergleich mit den erneuerbaren Energien sieht aber anders aus: Eine Kilowattstunde Solarstrom verursacht bisher durchschnittlich 56 Gramm CO2, bei Strom aus Windrädern an Land sind es 18 Gramm, Offshore-Windparks kommen sogar auf nur 10 Gramm, wie das Umweltbundesamt mitteilt. In dieser Bestandsaufnahme sind zudem Anlagen enthalten, die 20 Jahre alt und noch nicht sehr effizient sind. In Zukunft dürften sich diese Werte also noch deutlich verbessern. Also: Besser als die erneuerbaren Energien sind Atomkraftwerke nicht fürs Klima, im Vergleich zu fossilen Kraftwerken schneiden sie aber durchaus gut ab.
Also für den Übergang lieber Atom- als Kohlekraftwerke?
Das wäre vielleicht vor zehn Jahren eine Überlegung wert gewesen. Die damaligen Gegner:innen des Atomausstiegs traten nebenbei bemerkt aber nicht gerade für ein Ende der Kohleverstromung ein, sondern eher für ein Ende der Energiewende. Und jetzt stellt sich die Frage gar nicht mehr. Die meisten deutschen Atomkraftwerke sind schließlich schon abgeschaltet und befinden sich im Rückbau. Das heißt: Erst mal müssen die Brennelemente jahrelang herunterkühlen, bis man sie in Castorbehälter verpacken und in ein Zwischenlager bringen kann, dann kann das alte Gehäuse nach und nach zerlegt werden. Das einfach anhalten und umkehren? Ist nicht drin. Neue Atomkraftwerke zu bauen, wäre hingegen exorbitant teuer und dauert viele Jahre. Den aktuell für 2030 anvisierten Kohleausstieg kann man so nicht vorziehen.
Und wenn wir die AKW, die noch am Netz sind, weiter nutzen?
Selbst das dürfte schwer bis unmöglich sein. Die Abschaltgenehmigungen sind seit Jahren beantragt. Und auch abseits von Formalitäten, die man theoretisch ändern könnte: Die Beschaffung von Brennstäben, der Einsatz von spezialisiertem Personal – all das wurde lange im Voraus geplant, und zwar in Richtung Rückbau. Ein paar Monate würden nicht reichen, um umzusteuern. Im Übrigen kommen alle drei AKW zusammen nicht mal auf die Leistung, die allein die zwei Lausitzer Braunkohlekraftwerke Jänschwalde und Schwarze Pumpe erreichen können. Den Atomausstieg jetzt auszusetzen, würde den Kohleausstieg also gar nicht deutlich voranbringen.
Was sagen denn die Atomkonzerne?
Man erntet irgendwas zwischen Unglauben und Langeweile, wenn man sich bei den deutschen Energiekonzernen nach einer möglichen Weiternutzung der Atomkraftwerke erkundigt. Das dürfte auch daran liegen, dass sich die teure Atomkraft kommerziell nicht lohnt, wenn sie nicht massiv subventioniert wird. Die Nutzung der Atomkraft für die Stromproduktion habe sich in Deutschland erledigt, hört man etwa aus Baden-Württemberg: „Die EnBW hat nach dem damaligen Ausstiegsbeschluss eine langfristige Strategie für den Rückbau ihrer Kernkraftwerke ausgearbeitet, die sie seither konsequent umsetzt“, lässt eine Sprecherin wissen. „Die Frage nach der Verlängerung der Laufzeiten der Kernkraftwerke sowie weitere hypothetische Fragestellungen in diesem Kontext stellen sich deshalb nicht.“
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Ähnlich klingt das bei PreussenElektra. Deutschland habe sich gegen die Nutzung der Kernenergie entschieden. „Bitte haben Sie Verständnis, dass wir uns zu anderweitigen Gedankenspielen nicht mehr äußern – sie sind spekulativ und daher für uns kein Thema“, heißt es. Und vom Dritten im Bunde gibt es die Rückmeldung: „Das Kapitel Kernenergie ist für RWE abgeschlossen.“
Wie sieht es international aus?
Etliche Länder setzen weiter auf Atomkraftwerke und produzieren damit ein wirtschaftliches Fiasko nach dem anderen. Das französische AKW Flamanville, das britische Hinkley Point C, das finnische Olkiluoto – ständig gibt es Meldungen über Verzögerungen, Pannen, Mehrkosten. Die Menge an Strom, die Atomkraftwerke weltweit produzieren, sank im Jahr 2020 indes, wie der Weltstatusbericht Atomindustrie des Atomexperten Mycle Schneider im vergangenen Jahr ergab. Größter Hersteller sind die USA, es folgen China und Frankreich.
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