Ende von Musikvideos auf MTV: Social Media Killed the Music-TV-Star
MTV streicht ab 2026 Musikvideos aus ihrem Fernsehprogramm. Ein wohl nötiger Schritt, der Anlass für einen nostalgischen Rückblick gibt.
W ann haben Sie das letzte Mal ein Musikvideo gesehen? Und: Wann haben Sie sich dafür das letzte Mal auf die Couch gesetzt, eine Fernbedienung in die Hand genommen, den Fernseher eingeschaltet und dann ganz weit nach hinten gezappt, um MTV laufen zu lassen? Eben. 2026 ist deswegen Schluss. Music Television streicht die Musik zwar nicht aus dem Namen, aber aus dem Programm, und wird damit endgültig zu einem Sender für Reality-TV-Formate.
Traurig, klar: der Tod eines popkulturellen Ankers, einer stilbildenden Institution, einer Medienmaschine, die Künstler zu Stars und Stars zu Superstars machen konnte. Einerseits. Andererseits sind die fetten Jahre schon lange vorbei. Video Killed the Radio Star hieß es, als der Sender 1981 in den USA an den Start ging und 16 Jahre später auch in Deutschland. „Social Media Killed the Music-TV-Star“ müsste es heute heißen. MTV liegt in Trümmern – und das schon seit dem Aufkommen von Youtube. Denken wir also lieber an die „guten alten Zeiten“.
MTV brachte ikonische Riesenproduktionen von Madonna und Co in die Kinderzimmer und die Stars damit ganz nah zu ihnen. Die Videos zu Michael Jacksons Thriller oder Sabotage von den Beastie Boys waren richtige Musikfilme, Nirvanas Smells Like Teen Spirit der audiovisuelle Trost für Millionen depressiver Jugendlicher.
Eine popmusikalische Bildungsreise
Auch in Deutschland hinterließ MTV seine Spuren, nicht nur als Mittel zur Globalisierung des Pop. Wir sind Helden wurden nur deswegen so bekannt, weil jemand bei MTV an die Band glaubte und ihren Song Guten Tag in die Heavy Rotation hob. Bands wie Tokio Hotel wären ohne das Video zu Durch den Monsun nicht zu den größten Teenie-Stars ihrer Zeit geworden.
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Es war auch deswegen möglich, weil MTV die Macht darüber hatte, wer wie oft gespielt wurde. Man musste dann eben so lange dranbleiben, bis der heiß ersehnte Lieblingssong lief. Das kann man dogmatisch nennen, aber es war auch eine Art popmusikalische Bildungsreise, durch die man auf Songs stoßen konnte, die abseits der eigenen Komfortzone lagen.
Das Gute daran war, dass dieser kunstfremde Wettbewerb die Kunstform Musikvideo auch in Deutschland für knapp 15 Jahre legitimierte. Aber machen wir uns auch nichts vor: MTV war trotz all des Glamours vor allem eine Werbeplattform. Musiklabels steckten viel Geld in teure Musikvideos, damit diese auf MTV laufen konnten und die CD-Verkäufe ankurbelten. Gleichzeitig schalteten sie Werbung. Eine Win-win-Situation für den Sender und ein Geschäftsmodell, das nun nicht mehr funktioniert.
Ein Platz für postmigrantische Stimmen
Noch etwas war damals neu: Durch Sendungen wie MTV Urban TRL wurde deutscher Gangsterrap erstmals für ein breites Publikum greifbar. Vor allem das Label Aggro Berlin profitierte davon. Sido tanzte im Video zu seinem ikonischen „Weihnachtssong“ jahrelang ab Anfang Dezember im roten Mantel und mit Totenkopfmaske über die Bildschirme.
MTV war Fun, und MTV öffnete den Blick in andere Lebenswelten. Denn trotz all der Homophobie und Misogynie in den Texten verschaffte der Sender durch die Akzeptanz von Gangsterrap erstmals postmigrantischen Stimmen von Kool Savas bis Bushido im deutschen Pop breitenwirksame Aufmerksamkeit. Plötzlich konnte man in seinem Zimmer im schwäbischen Dorf etwas über die Struggles in Kreuzberg erfahren.
Mittlerweile ist Rap Mainstream, Künstler:innen sprechen mit ihren Fans direkt in Twitch-Livestreams, und niemand will sich mehr von einem Fernsehsender die Playlist diktieren lassen. Was also bleibt von MTV? Vermutlich vor allem ein melancholisches Gefühl der Nostalgie, wenn Millennials und späte Boomer an die Stars ihrer Jugend denken. Und die traurige Gewissheit, dass das Musikvideo endgültig zu einem Nischenphänomen für Liebhaber geworden ist, wenn sogar MTV sie nicht mehr zeigen will.
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