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Ende von Musikvideos auf MTVSocial Media Killed the Music-TV-Star

Kommentar von

Johann Voigt

MTV streicht ab 2026 Musikvideos aus ihrem Fernsehprogramm. Ein wohl nötiger Schritt, der Anlass für einen nostalgischen Rückblick gibt.

Fans der Band Tokio Hotel bei deren Konzert in ihrer Heimatstadt Magdeburg, September 2005 Foto: Andreas Lander/dpa/picture alliance

W ann haben Sie das letzte Mal ein Musikvideo gesehen? Und: Wann haben Sie sich dafür das letzte Mal auf die Couch gesetzt, eine Fernbedienung in die Hand genommen, den Fernseher eingeschaltet und dann ganz weit nach hinten gezappt, um MTV laufen zu lassen? Eben. 2026 ist deswegen Schluss. Music Television streicht die Musik zwar nicht aus dem Namen, aber aus dem Programm, und wird damit endgültig zu einem Sender für Reality-TV-Formate.

Traurig, klar: der Tod eines popkulturellen Ankers, einer stilbildenden Institution, einer Medienmaschine, die Künstler zu Stars und Stars zu Superstars machen konnte. Einerseits. Andererseits sind die fetten Jahre schon lange vorbei. „Video Killed the Radio Star“ hieß es, als der Sender 1981 in den USA an den Start ging und 16 Jahre später auch in Deutschland. „Social Media Killed the Music-TV-Star“ müsste es heute heißen. MTV liegt in Trümmern – und das schon seit dem Aufkommen von Youtube. Denken wir also lieber an die „guten alten Zeiten“.

MTV brachte ikonische Riesenproduktionen von Madonna und Co in die Kinderzimmer und die Stars damit ganz nah zu ihnen. Die Videos zu Michael Jacksons „Thriller“ oder „Sabotage“ von den Beastie Boys waren richtige Musikfilme, Nirvanas „Smells Like Teen Spirit“ der audiovisuelle Trost für Millionen depressiver Jugendlicher.

Eine popmusikalische Bildungsreise

Auch in Deutschland hinterließ MTV seine Spuren, nicht nur als Mittel zur Globalisierung des Pop. Wir sind Helden wurden nur deswegen so bekannt, weil jemand bei MTV an die Band glaubte und ihren Song „Guten Tag“ in die Heavy Rotation hob. Bands wie Tokio Hotel wären ohne das Video zu „Durch den Monsun“ nicht zu den größten Teenie-Stars ihrer Zeit geworden.

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Es war auch deswegen möglich, weil MTV die Macht darüber hatte, wer wie oft gespielt wurde. Man musste dann eben so lange dranbleiben, bis der heiß ersehnte Lieblingssong lief. Das kann man dogmatisch nennen, aber es war auch eine Art popmusikalische Bildungsreise, durch die man auf Songs stoßen konnte, die abseits der eigenen Komfortzone lagen.

Das Gute daran war, dass dieser kunstfremde Wettbewerb die Kunstform Musikvideo auch in Deutschland für knapp 15 Jahre legitimierte. Aber machen wir uns auch nichts vor: MTV war trotz all des Glamours vor allem eine Werbeplattform. Musiklabels steckten viel Geld in teure Musikvideos, damit diese auf MTV laufen konnten und die CD-Verkäufe ankurbelten. Gleichzeitig schalteten sie Werbung. Eine Win-win-Situation für den Sender und ein Geschäftsmodell, das nun nicht mehr funktioniert.

Ein Platz für postmigrantische Stimmen

Noch etwas war damals neu: Durch Sendungen wie MTV Urban TRL wurde deutscher Gangsterrap erstmals für ein breites Publikum greifbar. Vor allem das Label Aggro Berlin profitierte davon. Sido tanzte im Video zu seinem ikonischen „Weihnachtssong“ jahrelang ab Anfang Dezember im roten Mantel und mit Totenkopfmaske über die Bildschirme.

Jetzt gehören nicht nur er, sondern auch Musikvideos dem Reich der Toten an, Michael Jackson im Hitvideo zu „Thriller“, 1983 Foto: Music Corp. of America/Courtesy Everett Collection/imago

MTV war Fun, und MTV öffnete den Blick in andere Lebenswelten. Denn trotz all der Homophobie und Misogynie in den Texten verschaffte der Sender durch die Akzeptanz von Gangsterrap erstmals postmigrantischen Stimmen von Kool Savas bis Bushido im deutschen Pop breitenwirksame Aufmerksamkeit. Plötzlich konnte man in seinem Zimmer im schwäbischen Dorf etwas über die Struggles in Kreuzberg erfahren.

Mittlerweile ist Rap Mainstream, Künst­le­r:in­nen sprechen mit ihren Fans direkt in Twitch-Livestreams, und niemand will sich mehr von einem Fernsehsender die Playlist diktieren lassen. Was also bleibt von MTV? Vermutlich vor allem ein melancholisches Gefühl der Nostalgie, wenn Millennials und späte Boomer an die Stars ihrer Jugend denken. Und die traurige Gewissheit, dass das Musikvideo endgültig zu einem Nischenphänomen für Liebhaber geworden ist, wenn sogar MTV sie nicht mehr zeigen will.

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Freier Autor und Journalist. Arbeitet zu Gesellschafts-, Kultur- und Medien-Themen, volontierte beim Musikmagazin Juice und an der Evangelischen Journalistenschule, studierte Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst in Wien und wurde 2019 mit dem International Music Journalism Award ausgezeichnet.
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14 Kommentare

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  • Musste grad mal nachschauen, ob ich mich nicht irgendwie aus Versehen ins Archiv verirrt habe. Der Nachruf hier hat zumindest mal ein Jetlag von rund einem Vierteljahrhundert. MTV war bereits tot, bevor Youtube geboren wurde.

    • @Deep South:

      Dachten wir auch, bis wir die Kanäle im Sat-Paket entdeckten, und wir waren glücklich, ein paar Jahre lang ...

  • Jeder echte Kenner von MTV Europe weiß, dass der Sender starb, als er nicht mehr zentral aus London sendete, sondern in nationale Sender zerfiel. Ohne Ray Cokes, Kristiane Bakker, Steve Blame und Co war es einfach nicht mehr das gleiche.

    PS.: Die 90er sind 10 Jahre her und ich bin seit Jahren 25.

    • @Suryo:

      Korrekt, über Satellit leider schon eher, als die auf die glorreiche Idee gekommen sind den Sender zu verschlüsseln.



      Statt über Kreuzberg hat man bei Yo! MTV Raps etwas über East- und Westcoast gelernt.

      • @Mendou:

        Ja, und so niedlich Girliewunder Heike Makatsch war, irgendwie war es eben geiler, sich vorzustellen, mal selbst in einem internationalen Umfeld in London zu arbeiten. Wer träumte sich schon nach Köln?

  • Das letzte mal war gestern. Ich hatte mich allerdings schon gewundert das die Videos nicht mehr den ganzen Tag laufen.



    Also kann MTV dann bald gelöscht werden.



    Es gibt aber noch Deluxe Music.

  • Musikvideos schaue ich mir ab und zu an, aber immer auf Youtube. Ich besitze keinen Fernseher und habe wahrscheinlich seit über 15 Jahren kein MTV gesehen.. Reality-Zeugs gibts ebenfalls auf Youtube, oder Netflix.

    In einer Welt, in der er es nur 10 einigermaßen ansehbare Sender gibt, hatte MTV einen Platz. Jetzt im Internet, wo alle Künstler:innen bzw deren Labels ihre Videos selbst hochladen, ist das nicht mehr notwendig.

    Tatsächlich finde ich es aber schade, dass wir die "gemeinsame Musik" verlieren. Ich vermisse auch meine Metal-Entdeckungsreise auf MTV2 am Dienstagabend.



    Dank Spotify und Youtube allerdings gibt es genügend Vorschläge, aber für ein echtes Miteinander gibt es von allem etwas zu viel.

  • Ach nun… MTV ist doch in seiner ursprünglichen Form schon in den 90ern gestorben, als MTV Europe nur noch als Pay-TV zu empfangen war. Wer hatte seinerzeit schon Pay-TV? Insofern …

    Die MTV Unplugged Serie war einmalig und einige Shows sind heute, auf Vinyl gebannt, eine wichtige und besondere Veröffentlichung diverser namhafter Bands vor 35 Jahren…

    • @EDL:

      Tatsächlich war der Sündenfall schon die Zerschlagung in nationale Sender als Reaktion auf den Erfolg von VIVA ("MTV für Hauptschüler, die kein Englisch können", wie wir Gymnasiasten diesen Provinzsender aus Köln damals nannten). War MTV Europe zuvor das sendergewordene Versprechen der 90er - europäische Einigung, Freunde aus ganz Europa, Wegfall der Grenzen, heute Festival in Dänemark, morgen Tanzen auf Ibiza - war VIVA der Rückfall in den deutschen Muff, und die Bildung nationaler Sparten bei MTV besiegelte das dann endgültig.

      Statt Ray Cokes bekamen wir Stephan Raab.

  • mtv war schnell einer jener trägen und undankbaren säcke, die man aus vielen erfahrungsfeldern kennt, - man braucht keine "kunden", wenn man sich nur richtig ins jeweilige meeting-wesen eingekrallt hat:

    mtv brauchte gut 24 h um den tod m. jacksons öffentlich auch nur zu registrieren ...

  • "Wann haben Sie das letzte Mal ein Musikvideo gesehen?"



    Tatsächlich mach ich das regelmäßig, mehrmals die Woche. Find ich viel entspannender als den Dauerstress von Krimis, allen möglichen Big Brother-Varianten oder Pseudo-Dokus, und ich muss mir nicht anderer Leute ausgedachte Biographien aus irgendwelchen Serien merken.

    "Und: Wann haben Sie sich dafür das letzte Mal auf die Couch gesetzt, eine Fernbedienung in die Hand genommen, den Fernseher eingeschaltet und dann ganz weit nach hinten gezappt, um MTV laufen zu lassen?"



    Muss nicht durchzappen, ich kenn die Sendernummer auswendig.

    Ehrlich gesagt, versteh ich nicht, was an Sendern wie MTV 80's und MTV 90's so teuer sein soll. Es muss nichts mehr produziert werden, die Videos liegen seit Jahrzehnten auf Halde, die Ideen für 4 Stunden "Guess the Year" und ähnliches benötigen sicher auch nicht mehr als eine halbe Bürokraft die Woche ...

    Liegen die Rechteinhaber dem Sender so schwer auf der Tasche?

    • @Tetra Mint:

      Ich denke das Problem ist eher, dass es außer Ihnen niemand mehr schaut...

    • @Tetra Mint:

      Ich schaue mir auch sehr viele Musikviedeos aus den 70 er und 80er Jahren an. Auf Youtube. Wann ich will und welche ich will.

      Und nein es sind nicht nur die Rechte die Geld kosten, das anmieten von Satelliten weltweit ist auch teuer, Und wenn zu wenig zusehen gibt es zu wenig Werbeeinahmen. Wenn MTV damit viel Geld verdienen würden, würden die da nicht aufgeben. Und bei Waipu empfange ich 22 Musiksender.

      • @Martin Sauer:

        MTV 80's bzw. 90's strahlt gar keine Werbung aus. Die beiden Kanäle sind übers Paket bezahlt.