Einigung bei EU-Asylpolitik: „Der größte politische Rückschlag“
Innenministerin Faeser und Außenministerin Baerbock loben die Einigung zur EU-Asylreform. Kritik kommt aus Grünen-Fraktion und Zivilgesellschaft.
Faeser sagte am Mittwochmorgen, sie freue sich über das Ergebnis: „Jeder muss künftig an den EU-Außengrenzen strikt kontrolliert und registriert werden.“ Die Einigung sei nötig, denn: „Wenn wir das Europa der offenen Grenzen im Inneren bewahren wollen, müssen wir die Außengrenzen schützen und funktionierende Verfahren erreichen.“ Bundeskanzler Olaf Scholz schrieb auf X, vormals Twitter, von einem „ganz wichtigen Beschluss“. Und weiter: „Damit begrenzen wir die irreguläre Migration und entlasten die Staaten, die besonders stark betroffen sind – auch Deutschland.“
Außenministerin Baerbock nannte die Einigung „dringend notwendig und längst überfällig.“ Der Bundesregierung sei es gelungen, in Verhandlungen Verbesserungen zu erreichen, etwa bei den Regelungen, die an den Außengrenzen künftig in sogenannten Krisenfällen möglich sein sollen.
Baerbock verschwieg, dass die Einigung vielen migrationspolitischen Grundüberzeugungen der Grünen eigentlich entschieden zuwider läuft. So ist etwa geplant, dass viele Geflüchtete künftig sogenannte Schnellverfahren an den EU-Außengrenzen durchlaufen sollen. Dafür sollen die Geflüchteten wohl in großen Lagern unter haftähnlichen Bedingungen festgehalten werden. Wer abgelehnt wird, soll direkt von dort zurückgezwungen werden. Und wer aus einem sogenannten sicheren Drittstaat einreist, soll ohne Asylverfahren zurückgebracht werden.
Pro Asyl: „Schlimmer als befürchtet“
Die Außenministerin erwähnte ebenfalls nicht die zahlreichen Punkte, in denen sich die Grünen in den Verhandlungen auf nationaler und EU-Ebene nicht einmal mit Minimal-Forderungen durchsetzen konnten. So hatten die Grünen etwa Ausnahmen für minderjährige Geflüchtete gefordert, die Bundesregierung hatte sich dafür in den Verhandlungen starkgemacht. Ohne Erfolg. Baerbock sagte nun lediglich, die Einigung sei ein „Kompromiss“, der nötig sei, „denn die unmenschlichen Zustände an der EU-Außengrenze dürfen nicht das Gesicht bleiben, das Europa der Welt zeigt.“
Teile der Grünen-Bundestagsfraktion sehen das ganz anders. Der Abgeordnete Julian Pahlke sagte: Die geplante Reform ändere am „brutalen Alltag“ an den Grenzen nichts und schaffe nur weitere Probleme: „Weitere Entrechtungen führen nicht zu weniger ankommenden Geflüchteten, sondern zu mehr Leid.“ Für ihn sei die Zustimmung einer Bundesregierung unter Grünen-Beteiligung „der größte politische und persönliche Rückschlag.“
Die Linken-Bundestagsabgeordnete Clara Bünger sagte, die Beschlüsse seien „der massivste Angriff auf das individuelle Recht auf Asyl, den es in der EU je gegeben hat.“ Und weiter: „Wenn Bundesinnenministerin Nancy Faeser behauptet, die Einigung könne dazu beitragen, humanitäre Standards zu schützen, ist das eine dreiste Verdrehung der Tatsachen.“
Auch Menschenrechtsorganisationen sind entsetzt: Die rechtspolitische Sprecherin von ProAsyl, Wiebke Judith, sagte der taz: „Diese Einigung ist fast schlimmer als befürchtet.“ Das Europaparlament habe seine menschenrechtlichen Positionen weitgehend aufgegeben. „Damit ist die Einigung ein schwerer Schlag für den Flüchtlingsschutz in Europa.“ Besonders schockierend sei, „dass selbst Kinder hinter Stacheldraht eine neue Normalität werden sollen, wenn sie mit ihren Familien für die Asylgrenzverfahren an den Außengrenzen festgesetzt werden.“
Julia Duchrow, Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland: „Die heute erzielte Einigung ist ein menschenrechtlicher Dammbruch.“ Der Beschluss drohe, „die Rechtlosigkeit an den Außengrenzen zur Norm zu machen.“ Felix Braunsdorf, Experte für Flucht und Migration bei Ärzte ohne Grenzen, sprach am Mittwoch von einem „katastrophalen Tag“ und einem „Kompromiss auf Kosten der Menschenrechte.“
Kathrin Sonnenholzner, die Präsidentin der Arbeiterwohlfahrt, sagte: „Vom Flüchtlingsschutz in Europa bleibt kaum etwas übrig.“ Es handle sich um ein „Armutszeugnis“, kritisierte sie. „Menschen, die vor Krieg, Folter und Hunger fliehen und zu den Schutzbedürftigsten der Welt zählen, können jetzt monatelang in Lagern inhaftiert werden.“
Der Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Ulrich Schneider, sagte: „Menschenrechtsfeindliche Haftlager und der Freiheitsentzug Schutzsuchender während des Asylverfahrens drohen mit dieser Reform zur Normalität zu werden. Dass nicht einmal Kinder und ihre Familien geschützt werden, ist schockierend.“
Aktualisiert am 20.12.2023 um 13:40 Uhr. d. R.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Der Fall von Assad in Syrien
Eine Blamage für Putin