: Ein verlorenes Jahr?
Individuelles Lernen, kleine Klassen: Was die Schulen aus der Coronazeit mitnehmen können.
E in verlorenes Jahr sei dieses, klagte neulich die 16-jährige Tochter einer Freundin. „Das sollte der Sommer meines Lebens werden!“ Geträumt hatte sie von Tanzen und Küssen im Park – Corona schien dies durchkreuzt zu haben.
Tags darauf kam sie strahlend heim. „Mama, es ist Pandemie, das kommt in die Geschichtsbücher – und wir sind dabei!“
Fiona hatte das getan, was Psycholog*innen Reframing nennen. Sie hatte ihren Erfahrungen als Teenager im Lockdown einen neuen Rahmen gegeben, sie umgedeutet. Sie schaute nicht mehr auf das, was ihr entging, sondern auch auf das, was sie gewinnt. Reframing heißt nicht, sich etwas schön zu reden. Fiona hat nicht behauptet, sie würde nicht unter den Einschränkungen leiden. Sie hat ihre Perspektive erweitert.
So ließe sich auch auf die Schulschließungen der letzten drei Monate blicken. Zweifellos haben die zu teils kaum aushaltbaren Belastungen geführt, für Schüler*innen, Eltern und Lehrer*innen. Aber wäre jetzt nicht auch die einmalige Chance zu fragen, was gut war in der Zeit ohne Schule oder später mit dem „eingeschränkten Regelbetrieb“?
Fiona zum Beispiel fand den Unterricht in kleinen Gruppen toll. Warum fragt man nicht systematisch Schüler*innen, was sie aus dieser Zeit mitnehmen? Und analysiert, wie sich das Lernen unter Pandemie-Bedingungen auf den Lernerfolg ausgewirkt hat – im Schlechtem wie im Guten?
Es macht einen Unterschied, ob 30 Kinder in einem Raum sitzen und die Aufmerksamkeit der Lehrkraft verlangen oder aufgrund von Abstandsregeln nur die Hälfte. Es ist möglich, dass Bildungsziele dadurch schneller erreicht werden. In der Konsequenz könnte dies bedeuten, dass weniger Unterrichtsstunden gegeben werden müssten. Kinder und Jugendliche hätten dann wieder mehr Zeit für selbstbestimmtes Lernen, für eigene Interessen.
Weniger Stunden in der Schule bedeutet mehr Zeit zu Hause. Aber auch das wurde während der vergangenen Wochen erprobt. Homeoffice und Homeschooling war nicht nur Stress, sondern hat auch Familien näher zusammengebracht. Und vielleicht gibt es jetzt Eltern, Väter insbesondere, die nicht zurück wollen zu den Zeiten, in denen die Erwachsenen- und Kinderwelt strikt voneinander getrennt waren. Die sich mehr Zeit mit ihren Kindern wünschen und sie nicht wegorganisieren wollen in Kindergarten und Schule.
Der Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) scheinen solche Ideen fremd zu sein. Sie teilte nach der Veröffentlichung des zwischen SPD und CDU verabredeten Konjunkturpaktes vor zehn Tagen mit, zusätzliches Geld für den Ausbau der Ganztagsschulen locker gemacht zu haben. Und verkaufte dies als „neue Perspektive“ für die „jungen Familien, die in der Coronakrise Außerordentliches leisten müssen“.
Das kann man auch so übersetzen: Dafür, dass ihr euch kaputt macht, habt ihr danach Ruhe. Her mit der Schule bis 18 Uhr! Statt: 15-Stunden-Woche für alle.
Dabei haben doch gerade die vergangenen Monate gezeigt, dass Lernen nicht nur stattfindet, wenn in der Schule „Stoff bearbeitet“ wird. Sondern wenn Kinder und Jugendliche den Umgang mit schwierigen Situationen üben, kreativ werden müssen, weil auch Netflix irgendwann leer geguckt und Daddeln langweilig wird.
Klar, nicht wenige werden sehr viel Zeit vor Monitoren verbracht haben. Und nicht alle haben eigene Projekte verfolgt, die Eltern und Bildungspolitiker*innen Freudentränen in die Augen treiben. Die Tochter einer anderen Freundin betrieb ein Kinderradio. Das eigene Kind wollte lieber spielen. Draußen, drinnen, etwas aufbauen, Comics lesen, klettern, malen, sich mit dem Geschwisterkind streiten.
Weniger Zeit in Schule
Ist das vertane Zeit, nur weil es dabei keine Inhalte nach den Bildungsplänen der Länder aufnimmt? Oder lernt es vielleicht sogar besser, wenn es weniger Zeit fremdbestimmt in der Schule absitzen muss?
Und offenbar – auch das war zu beobachten und sollte erforscht werden – gibt es Kinder, die allein zu Hause besser lernen. Und möglicherweise hat das nichts mit dem Einkommen und Bildungsgrad ihrer Eltern zu tun.
Solche Gedanken bringen hierzulande lahme Tischgesellschaften fast so gut in Schwung wie die Bemerkung, die Fremdbetreuung von Kleinkindern nutze ausschließlich Eltern – und nicht ihren Kindern. Dabei schaltete ausgerechnet Deutschland schnell auf Homeschooling um, obwohl das hier, wenn nicht gerade Pandemie herrscht, anders als in fast allen anderen europäischen Ländern strikt verboten ist. Warum klebt vor allem die SPD so an der Schulpflicht wie sonst nur am Mantra, die Ganztagsschule stelle automatisch Chancengleichheit her?
Heiß geliebtes Gymnasium
Die CDU wiederum muss sich fragen lassen, ob ihr heiß geliebtes Gymnasium die Schulform ist, die Schüler*innen in der Ausnahmesituation am besten versorgte. Darum müsste es jetzt gehen: Welchen Schulen, Lehrkräften, Schüler*innen fiel die Umstellung leicht? Woran lag dies? Welche Ressourcen konnten mobilisiert werden?
Der Blick auf Stärken und Fähigkeiten ermöglicht wie das Reframing, aus dem Zustand des Leidens herauszukommen und gestaltend zu wirken.
Für das System Bildung, in dem und über das so viel gejammert wird wie sonst nur über fehlendes Klopapier, hieße das, eine Vision zu entwickeln, was Schule eigentlich soll, was Lernen ist. „Schule nach Corona darf nicht Schule vor Corona plus Händewaschen sein“, das stand kürzlich in der Zeit. Denn dann wäre es wirklich ein verlorenes Jahr.
Mehr über die Bilanz des Ausnahmezustands in den Schulen lesen Sie in der gedruckten taz am Wochenende oder hier.
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