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EU-Rechtsprechung zu MigrationBis das Menschenrecht am Boden liegt

Der Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sollte verhindern, dass Europa jemals autoritär wird. Rechte Kräfte setzen ihn jetzt unter Druck.

Krakau im Mai 2025: rechtsextreme Mahnwache gegen Migration Foto: Klaudia Radecka/imago

D ie Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) wird in diesem Jahr 75 Jahre alt, doch die Feierlichkeiten stehen unter keinem guten Stern. Auf Initiative von Dänemark und Italien haben neun Staaten den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in einem offenen Brief für seine Rechtsprechung zum Migrationsrecht angegriffen und drängen auf eine andere Auslegung.

Der EGMR mit Sitz in Straßburg ist ein Organ des Europarats, dem 46 Mitgliedsländer angehören, und der für die Auslegung und den Schutz der Europäischen Menschenrechtskonvention zuständig ist. Seine Urteile sind für die Staaten bindend, aber er verfügt kaum über Möglichkeiten, diese bei Nichtbefolgung effektiv durchzusetzen.

Die neun Staaten fordern dennoch mehr nationale Handlungsspielräume, um „kriminelle Ausländer“ abzuschieben und sich gegen die „Instrumentalisierung von Migration“ zu wehren. Dänemarks Ministerpräsidentin Mette Frederiksen sagte gegenüber dem Spiegel zu ihrer Initiative, die EMRK sei einst geschaffen worden, um Minderheiten zu schützen, aber heute müsse man die Mehrheit schützen.

Alain Berset, der Generalsekretär des Europarats, erteilte dem Brief kurzerhand eine Absage und warnte mit Nachdruck vor dem „politischen Druck“, der auf den Gerichtshof ausgeübt werde.

Bild: privat
Maximilian Pichl

ist Professor für Soziales Recht mit dem Schwerpunkt Asyl- und Migrationsrecht an der Hochschule RheinMain.

Menschenrechte als Kontroll- und Frühwarnsystem

Die EMRK und der Aufbau des Menschenrechtsgerichtshofs nach dem Zweiten Weltkrieg waren mit der Hoffnung verbunden, ein gemeinsames europäisches Projekt des Friedens und der Kooperation auf den Weg zu bringen. Die Menschenrechte wurden als Kontroll- und Frühwarnsystem entwickelt: Die Achtung demokratischer und rechtsstaatlicher Normen in den Nationalstaaten sollte ein erneutes Abrutschen in autoritäre Verhältnisse und daraus folgenden Unfrieden verhindern.

Einige Verfasser der EMRK, darunter so unterschiedliche Akteure wie der britische Konservative David Maxwell Fyfe und der ehemalige Résistance-Kämpfer Pierre-Henri Teitgen, wollten die Konvention als einen „Pakt gegen den Totalitarismus“ verstanden wissen. Rückblickend ging es also nicht nur um den Schutz der „Minderheit“, sondern noch stärker um eine gemeinsame demokratische und europäische Kooperation.

Die Aussage von Mette Frederiksen zum Minderheitenschutz basiert dennoch auf einem Fehlschluss. Der Minderheitenschutz der EMRK umfasst die Religionsfreiheit und ein umfassendes Diskriminierungsverbot nach Artikel 14 für Minderheiten in einem Staat – auch jene eines Staates in einem anderen Staat. Gerade für Dänemark ist das wichtig.

Das Bonn-Kopenhagen-Abkommen von 1955 sichert zum Beispiel wechselseitig und mit Bezug auf das Diskriminierungsverbot den jeweiligen Schutz der deutschen und dänischen Minderheit. Deswegen ist es illegitim und politisch kurzsichtig, den angeblichen Mehrheitsschutz und Minderheitenrechte gegeneinander auszuspielen. Denn die Mehrheit in einem Staat kann in einem anderen politischen Gebilde zugleich auch eine Minderheit sein.

Die Große Kammer hat einen Rollback vollzogen

Angriffe auf die Europäische Menschenrechtskonvention sind nicht neu. Fast wäre Großbritannien der Konvention im Jahr 1950 nicht beigetreten, weil man fürchtete, die Menschenrechte könnten Auswirkungen auf die Kolonialpolitik haben. In den letzten Jahren rüsteten die britischen Tories oder die Orbán-Regierung in Ungarn verbal gegen den Gerichtshof auf und brachten immer wieder ins Spiel, die EMRK zu verlassen.

Zumindest für EU-Staaten ist das keine realistische Option, denn sie müssen der EMRK zustimmen. Daher zielen EU-Regierungen im Europarat mitunter darauf ab, die Handlungsfähigkeit des Gerichtshofs einzuschränken. Weitreichende Vorschläge zur Entmachtung des Gerichtshofs scheiterten aber zuletzt 2018.

Das könnte sich kurz- oder mittelfristig ändern. In Europa haben rechte Kräfte an Einfluss gewonnen, die in der Flüchtlingspolitik nationale Alleingänge bevorzugen. Die Gefahr, die von diesem offenen Brief für den Menschenrechtsschutz ausgeht, hat eine neue Qualität. Selbst in Deutschland findet der Brief Anklang innerhalb der Regierungsfraktionen. Günter Krings, CDU-Politiker und Unions-Fraktionsvize, sagte, die Urteile des EGMR machten es mitunter „faktisch unmöglich, irreguläre Migration rechtssicher zu steuern“.

Solche Beschreibungen entsprechen jedoch nicht dem aktuellen Stand der Rechtsprechung. Der EGMR war in seiner Geschichte stets äußerst restriktiv, was die Rechte geflüchteter Menschen anging, die EMRK kennt beispielsweise im Unterschied zur EU-Grundrechtecharta kein Recht auf Asyl. Anfang der 2010er Jahre gab es progressivere Leitentscheidungen, die Überstellungen nach Griechenland und Pushbacks auf Hoher See als menschenrechtswidrig verurteilten.

Die Bindung der Staatsgewalt an das Recht unterscheidet Demokratien von autoritären Regimen

Doch die Große Kammer, in der die Leitentscheidungen gefällt werden, hat einen Rollback vollzogen und den Nationalstaaten schon jetzt mehr Handlungsspielräume zugestanden. Inhaftierungen an der ungarischen Grenze und Pushbacks von Spanien nach Marokko beanstandeten die Straßburger Richterinnen und Richter nicht. Dies geschah nicht im luftleeren Raum, sondern inmitten politischer Angriffe und der Drohung einiger Staaten, dem EGMR finanzielle Mittel zu entziehen. In den Urteilen finden sich zahlreiche Belege für die Übernahme rechter Narrative, wie etwa, dass Migration eine Gefahr sei. Zu Recht wurde der EGMR von Wissenschaftler*innen, Menschenrechtsorganisationen und Anwaltsvereinigungen für diese Leitentscheidungen kritisiert.

Allerdings schränkt die EMRK Nationalstaaten bei Abschiebungen auch ein. Die britische Regierung machte diese Erfahrung bei ihrem erfolglosen Versuch, Menschen nach Ruanda abzuschieben.

Hinter jedem Geflüchteten ein Fluchtschicksal

Seit Ende der 1980er Jahre legt Straßburg den Artikel 3 der EMRK dahingehend aus, dass das Verbot der Folter und unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung auch die Menschen schützt, die in einen anderen Staat abgeschoben werden und dort solche Gefahren fürchten müssen. Diese Rechtsprechung geht übrigens auf den Fall des wegen zweifachen Mordes verurteilten deutschen Staatsangehörigen Jens Söring zurück, dem bei seiner Auslieferung aus Großbritannien in die USA damals die Todesstrafe drohte. Erst später kamen Entscheidungen hinzu, bei denen es um geflüchtete Menschen ging.

Der EGMR hat die Menschenrechtskonvention stets als ein „lebendes Instrument“ verstanden: Bei ihrer Auslegung will sich der Gerichtshof nicht nur auf die Zeit berufen, in der die Konvention entstand, sondern neuere gesellschaftliche Entwicklungen berücksichtigen. So befand der Gerichtshof beispielsweise 2024, dass der Klimaschutz ein Menschenrecht ist.

Dieses Rechtsverständnis passt den neun Unterzeichnerstaaten des offenen Briefs nicht. Zumindest, was Migration angeht. Dass bei Abschiebungen die Souveränität der Nationalstaaten eingeschränkt ist, hat aber eine logische Bewandtnis: Der universelle Schutz der Menschenrechte soll jeden Menschen – auch Kriminelle und Terroristen – vor willkürlichen Aktionen von Nationalstaaten bewahren. Denn die Bindung der Staatsgewalt an das Recht unterscheidet Demokratien von autoritären Regimen.

wochentaz

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Auch von „Instrumentalisierung von Migration“ ist im offenen Brief die Rede. Mit diesem Begriff werden Fluchtbewegungen bezeichnet, die angeblich durch Staaten wie Russland und Belarus in Europa forciert werden. Dass hinter jedem Flüchtling auch ein ernsthaftes Fluchtschicksal steht, vergessen die Re­gie­rungs­che­f*in­nen gerne. Die EU hat zuletzt eine Krisenverordnung verabschiedet, um auf solche Bewegungen mit verschärften Maßnahmen zu reagieren – wie zum Beispiel deutlich längeren Inhaftierungen an den Außengrenzen. Die EU-Kommission hat Mitgliedstaaten wie Polen und Finnland bei ihren schweren Grundrechts­eingriffen etwa in einer Mitteilung vom Dezember 2024 keinen Einhalt geboten.

Rechtsstaatlichkeit ist kein „Add-on“

Die Berufung auf die „Instrumentalisierung“ ist auch zeitlich kein Zufall: Denn ganz aktuell verhandelt der EGMR über drei Fälle, in denen es um die Verwehrung des Zugangs von Asylsuchenden geht, die mit Instrumentalisierungen in Verbindung gebracht werden. Mit Litauen, Lettland und Polen stehen auch jene Staaten als Unterzeichner unter dem Brief, die in Straßburg wegen Menschenrechtsverstößen angeklagt sind. Der Brief kann deswegen auch als eine direkte Intervention in die laufenden Verfahren verstanden werden – eine beispiellose Ausübung politischen Drucks auf die Richterinnen und Richter.

Als EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kürzlich den Karlspreis verliehen bekam, beendete sie die Dankesrede mit den Worten: „Lang lebe Europa“. Doch wie lange wird die EMRK als ein Gründungsdokument Europas noch bestehen? Der Brief der neun Nationalstaaten sägt an den europäischen Grundlagen und von der Leyen schweigt dazu.

Aus einer progressiven Perspektive ist der schwierige Spagat zu leisten, den EGMR für seine migrationsabschottende Rechtsprechung zu kritisieren und zugleich vor Angriffen zu verteidigen. Die Unabhängigkeit der Gerichte, die Rechtsstaatlichkeit und der Schutz der Menschenrechte sind jedenfalls keine „Add-Ons“ zur Demokratie, sondern ihre zentralen Bausteine. Wer das aufgibt, kündigt auch den europäischen Nachkriegskonsens auf.

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1 Kommentar

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  • Die Dänen gehen die Angelegenheit sehr pragmatisch an. Wer als Ausländer kriminell wird oder eine Bedrohung für die Gesellschaft darstellt, der hat das Bleiberecht verwirkt. Das weitere Schicksal des Betroffenen ist unbedeutend.

    Bekannt auch als Law and Order Mentalität. Leider findet diese Haltung einen großen Anklang bei der Bevölkerung und das dürfte nicht nur für Dänemark zutreffen.

    Erschreckend ist wie das in die Öffentlichkeit hinein kommuniziert wird. Die Hintergründe und die Persönlichkeit des Betroffenen wird dabei komplett ausgeblendet, zeigte sich erst kürzlich bei der Abschiebung eines psychisch Kranken aus Dänemark.

    Eine sozialdemokratische Ministerpräsidentin die ein derart vielschichtiges Thema runterreduziert auf "wenn jemand meinen Partner tötet, darf er dann bei mir am Tisch sitzen? Nein!" (O-Ton) fällt nicht nur in ihrer Rethorik zurück in die Jahre vor 1948, sondern bezeugt damit auch, dass sie den Sinn hinter der AEMR und EMRK nicht verstanden hat und auch in allen anderen Angelegenheiten das Wort Würde für sie ein großes Fragezeichen darstellt. Wie sonst käme jemand auf die Idee einen gemeinsamen Brief mit einer Postfaschistin zu verfassen.