EU-Parlamentarier zu Sahra Wagenknecht: „Ein falsches Bild von Europa“
Der Grüne Sven Giegold kritisiert die Anti-Brüssel-Rhetorik von Sahra Wagenknecht. Statt eines Abgesangs auf Europa benötige man dringend linke Reformideen.
taz: Rot-Rot-Grün ist tot, sagt Sahra Wagenknecht im taz-Interview. Nehmen Sie noch Lebenszeichen wahr?
Sven Giegold: Sahra Wagenknecht fordert, die Nationalstaaten zu stärken, und spricht dem EU-Parlament jeden Wert ab. Souveränität können wir in Europa jedoch nur durch eine gestärkte europäische Demokratie erlangen. Mit Wagenknechts Haltung zu Europa kann es tatsächlich kein Rot-Rot-Grün im Bund geben.
Die EU-Verträge haben die Sozialstaaten mitzerstört, die in den Ländern erkämpft wurden, schlussfolgert die Linken-Politikerin. Mit Blick auf die von der EU mitgetragene Sparpolitik in Südeuropa klingt diese Analyse doch plausibel.
Wagenknecht zeichnet ein falsches Bild von Europa. Sie verwechselt bei ihrer Analyse Ross und Reiter. Wer waren denn die handelnden Akteure bei der Durchsetzung der krisenverschärfenden Sparpolitik? Das waren nicht EU-Kommission und Parlament, sondern einige Mitgliedsstaaten. Warum fordert Frau Wagenknecht nicht ein Mitentscheidungsrecht des EU-Parlaments für Entscheidungen der Eurogruppe?
Sozialstaatlichkeit findet dennoch innerhalb der Mitgliedsländer statt. Die europäische „Säule sozialer Rechte“, die die Kommission im November verkündet hat, ist schwammig und nicht verbindlich.
Ich gebe Ihnen recht. Die soziale Säule ist zwar ein Fortschritt, aber noch zu schwach. Wir müssen hin zu verbindlichen sozialen Rechten und Standards in der EU. Einheitliche soziale Sicherungssysteme brauchen wir aber nicht. Denn Sozialsysteme können auch auf Basis von Standards verteidigt werden, ohne dass es zwingend eine europäische Arbeitslosen- oder Rentenversicherung gibt. Die Forderung nach gemeinsamen sozialen Standards und Demokratie in Europa höre ich von Frau Wagenknecht im Bundestag merkwürdigerweise nie.
Wie führt mehr Europa denn zu einem sozialeren Europa?
Die Basis für ein sozialeres Europa ist eine gerechtere und gemeinsame Besteuerung, zum Beispiel von Unternehmensgewinnen, damit alle Staaten die Leistungen für ihre Bürger finanzieren können. Und beim Thema Steuerdumping haben wir auf europäischer Ebene viel erreicht. Die Erfolge gegen das Steuerdumping von Apple und Co. zeigen das Potenzial Europas, unsere Werte auch in der Globalisierung zu verteidigen. Gerade deshalb brauchen wir jetzt keinen linken Abgesang auf Europa, sondern Reformideen für ein Europa, das auch sozial und demokratisch stark ist.
Was halten Sie denn von Frau Wagenknechts Idee einer linken Sammlungsbewegung?
Progressive Parteien haben schon immer mit Gewerkschaften, Aktivisten und fortschrittlichen Unternehmen zusammengearbeitet. Ich selbst war zuerst beim BUND und bei Attac aktiv und bin von dort für die Grünen ins Europäische Parlament eingezogen. Die Bewegung, die Frau Wagenknecht vorschwebt, will Demokratie renationalisieren. Wir hingegen wollen die europäische Demokratie weiter stärken. Progressiv und europäisch sind heute untrennbar.
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