EU-Migrationsdeal mit Tunesien: Europas Türsteher in Afrika
Die EU will in der Migrationspolitik enger mit Tunesien kooperieren. Heißt: Brüssel schickt Geld, damit Tunis die Migranten aufhält. Ein Überblick.
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„Wir haben ein gutes Paket. Jetzt ist es Zeit, es umzusetzen“, sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach dem Treffen in der tunesischen Hauptstadt. Mit dabei hatte sie die Regierungschefs von Italien und der Niederlande, Giorgia Meloni und Mark Rutte. Tunesiens Präsident Kais Saied sprach mit Blick auf die toten Flüchtlinge im Mittelmeer und in der Wüste von einer „unmenschlichen Situation“, die im Kollektiv gelöst werden müsse.
Räumt man die wohlklingenden diplomatischen Formeln beiseite, sieht der Migrationsdeal zwischen EU und Tunesien Folgendes vor: Das nordafrikanische Land soll erstens Flüchtlinge daran hindern, überhaupt ans Mittelmeer zu gelangen. Zweitens soll es unterbinden, dass von seinen Küsten Boote Richtung Italien ablegen. Drittens soll Tunis Boote auf See aufhalten und die Insassen nach Tunesien zurückbringen – auch Schiffbrüchige, genau wie die libysche Küstenwache. Viertens soll es dabei helfen, die Aufgehaltenen in ihr Herkunftsland zurückzubringen – wohl gemeinsam mit der UN-Migrationsagentur IOM. Und schließlich, fünftens, soll es eigene Bürger:innen, denen die Abschiebung aus der EU droht, schneller und unkomplizierter zurücknehmen.
Bereits vor ihrem letzten Besuch im Juni hatte von der Leyen aus dem „Außenpolitischen Instrument“ (NDICI) der EU dafür Geld als Gegenleistung bereitgestellt: 105 Millionen Euro für „Migration“ sowie 150 Millionen Euro für „Grenzmanagement und Schmuggelbekämpfung“. Zudem könnte Tunesien über mehrere Jahre Kredite über insgesamt 900 Millionen Euro bekommen.
Das Problem liegt in der Umsetzung
Es kommt nicht von ungefähr, dass die europäische Seite am Sonntag die „Umsetzung“ so sehr betonte. Denn das nun umrissene Maßnahmenpaket enthält kaum Neues. Fast alles darin findet sich so oder ähnlich in Vereinbarungen, die Italien, die EU und andere EU-Staaten in der Vergangenheit mit Tunesien getroffen hatten. Schon im 1998 in Kraft getretenen Assoziierungsabkommen waren der Kampf gegen irreguläre Migration und mehr Abschiebungen von Tunesier*innen vorgesehen. Aktionspläne, eine „privilegierte Partnerschaft“, eine „Mobilitätspartnerschaft“, ein von Deutschland aufgebautes „Beratungszentrum“ für arbeitsuchende Abgeschobene und viele Millionen Euro aus dem 2016 aufgelegten „EU-Nothilfefonds für Afrika“ folgten. Immer ging es dabei auch um Tunesiens Dienste als Türsteher.
Nur fielen diese zuletzt nicht mehr so aus, wie die Europäer sich das vorstellten. Laut den jüngsten verfügbaren Zahlen waren von Januar bis Mai 2023 rund 51 Prozent aller in Italien ankommenden Flüchtlinge in Tunesien gestartet. Etwa jeder siebte der Ankommenden war selbst tunesischer Staatsbürger. Vor allem Italiens rechtsextreme Regierungschefin Meloni steht deshalb unter Druck: Sie hatte mit dem Versprechen, die Flüchtlingszahlen zu senken, im Herbst 2022 die Wahl gewonnen. Stattdessen sind seit ihrem Amtsantritt so viele Flüchtlinge nach Italien gelangt wie seit mehreren Jahren nicht.
Tunesien ist durch seine geografische Lage und seine vergleichsweise stabile und prowestliche Führung seit Langem einer der Wunschpartner der EU in Sachen Migrationskontrolle. Bis zum Sturz des Diktators Ben Ali während des Arabischen Frühlings 2011 hatte das Land einschlägig und zuverlässig kooperiert: Ben Ali hatte es den eigenen Staatsbürger:innen per Gesetz verboten, ohne EU-Visum auf dem Seeweg nach Italien zu reisen. Seine Polizei setzte das Verbot durch – und stellte auch sicher, dass keine Menschen aus anderen Teilen Afrikas Tunesiens Küsten nutzten, um Richtung Europa abzulegen.
Tunesiens Regierung steht wirtschaftlich unter Druck
Nach der Revolution aber wurde der Druck aus der Zivilgesellschaft groß, sich nicht länger als Türsteher der Europäer herzugeben. Seither ist die Linie der wechselnden Regierungen in dieser Frage ambivalent. Auf der einen Seite ließ sie sich – etwa ab 2016 aus Deutschland – mit Hightech-Grenzzäunen und Trainings für Grenzschützer beim BKA in Wiesbaden, deutschen Experten vor Ort, einem „grenzpolizeilichen Verbindungsbeamten“, Bodenaufklärungssystemen, Wärmebildkameras und Radarsystem aufrüsten. All dies sollte nicht nur gegen Migrant:innen, sondern auch beim Kampf gegen islamistische Gruppen helfen.
Doch gleichzeitig schwankte der Grad, in dem Tunesien sich Europa verpflichtet fühlte und Flüchtlinge stoppte – und erodierte zuletzt so sehr, dass es Nachbarland Libyen als Haupt-Transitstaat ablöste. Das soll, wenn es nach der EU geht, mit dem neuen Abkommen anders werden – auch, weil Tunesien durch seine desolate Wirtschaftslage zu Zugeständnissen gezwungen ist.
Die Regierung in Tunis weigert sich derweil kategorisch, die von der EU schon ab 2018 so dringend geforderten Zentren für europäische Asyl(vor)verfahren auf seinem Territorium zuzulassen. Oder – wie Marokko oder die Türkei – aus anderen Ländern stammende abgelehnte Asylbewerber aus der EU zurückzunehmen. Sie fürchtet, dass diese Menschen am Ende im Land bleiben würden.
„Tunesien bekräftigt seine Position, kein Land zu sein, das der Ansiedlung von Migranten mit irregulärem Status ist“, heißt es deshalb auch in der Vereinbarung vom Sonntag etwas sperrig. In Tunis ahnt man, dass hier bald weiter Druck gemacht wird: Der Migrationsbeauftragte der Bundesregierung, der FDP-Politiker Joachim Stamp, hat europäische „Asylverfahren in Nordafrika“ als klare politische Priorität benannt.
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