Digitale Gewalt: Nacktfotos für den Chef
Cyberstalking ist ein neues Phänomen von digitaler Gewalt, es nimmt rasant zu. Opfer sind meist Partnerinnen und Expartner:innen.
Tanja*, die ihren echten Namen aus Sicherheitsgründen nicht in der Zeitung lesen will, wird seit über zwei Jahren von ihrem Exfreund gestalkt: „Jedes Mal, wenn ich auf mein Handy schaue, habe ich Angst, dass es wieder anfängt.“ Deshalb habe sie sich aus der digitalen Welt zurückgezogen. Ihr Exfreund suchte Kontakt zu ihrem Arbeitgeber, ihrer Universität und ihren Eltern, nachdem Tanja die Beziehung beendet hatte. Er schickte Nacktfotos von Tanja an ihre Arbeitsstelle – sie verlor ihren Job.
Er schrieb ihren Freund*innen, erstellte Fakeprofile, auf denen er intime Fotos und Lügengeschichten über seine Exfreundin verbreitete, drangsalierte sie mit Anrufen, lauerte ihr zu Hause auf. Er erpresste sie, schickte ihr Blumen, lange E-Mails und Briefe – mal voller Hass, mal krank vor Liebe. Manchmal drohte er, sich etwas anzutun, mal ihr. „Ich ging trotz allem immer wieder darauf ein, weil er mir leidtat und ich das Gefühl hatte, Schuld an seiner Misere zu tragen“, erzählt Tanja.
Eines Tages verletzte er sie am Hals mit einer Schere und drohte auch ihrer Mutter Gewalt an. Lange hatte sie sich dafür geschämt, sich Hilfe zu holen, und Angst, nicht ernst genommen zu werden. Schließlich blockierte Tanja ihren Exfreund und ging zur Polizei. Die aber ließ die Anzeige fallen. Tanja hat sich bis heute nicht von dem Stalking erholt und zog sich aus Scham und Misstrauen aus ihrem Freundeskreis zurück. Bald möchte sie eine Therapie beginnen.
„Viele von Cyberstalking betroffene Frauen werden nicht angegriffen, weil sie wie prominente Frauen im öffentlichen Raum unterwegs sind und Opfer von Hatespeech werden, sondern weil sie in toxischen Beziehungen sind“, sagt Beate Köhler, Leiterin des Antistalking-Projekts des Frieda-Frauenzentrums in Berlin. In diesen Beziehungen herrsche ein hohes Maß an Partnerschaftsgewalt auf unterschiedlichen Ebenen: Täter würden ihre Opfer gut kennen, wüssten, wie diese funktionierten, was sie verletzen könnte.
Verhältnismäßig neues Phänomen
Cyberstalking ist ein verhältnismäßig neues Phänomen digitaler Gewalt, es gibt wenig validierte Zahlen und Forschung dazu. Gleichzeitig nimmt diese Gewaltform rasant zu und richtet sich meistens gegen Personen, zu denen die Täter vorher eine intime Beziehung hatten. In selteneren Fällen aber auch gegen eine Person, die Annäherungsversuche abgelehnt hat.
Motive können Eifer- und Kontrollsucht oder auch Rachegelüste sein. „Nicht selten geht dieser Form der digitalen Gewalt auch analoge Gewalt voraus, weshalb es verkürzt wäre, Cyberstalking als davon abgetrenntes Phänomen zu bezeichnen. Viel mehr kulminieren im Cyberstalking Gewaltdynamiken und Kontroll- sowie Machtmechanismen in Kombination mit analogen geschlechterspezifischen Gewaltpraktiken.“, so Köhler. Die Nutzung von Informations- und Kommunikationstechniken und das gleichzeitige Bedienen unterschiedlicher Kanäle erleichtere die Überwachung und Kontrolle der Opfer.
Geschlechterspezifische Gewalt erreicht durch Cyberstalking eine neue Qualität: Formen digitaler Gewalt wie Doxxing (private Daten werden öffentlich ins Netz gestellt), Revenge Porn (Rachepornos), Hacking, Drangsalieren mit Anrufen und Nachrichten. Manche dieser Taten gelten im Einzelnen noch nicht als strafbar, sondern erst, wenn sie gemeinsam gewertet werden. „Dass Stalking rechtlich erst in der Gesamtlage abgebildet wird, macht es besonders kompliziert“, erklärt Köhler.
Strafverfolgungsbehörden fehlen bis heute technisches Wissen und Möglichkeiten, um Cyberstalker zu verfolgen. Noch immer hinken polizeiliche und juristische Ausbildungen den technischen Entwicklungen und der Forschung zu diesem Thema hinterher. Darüber hinaus werden Anzeigen häufig nicht ernst genommen und eine Täter-Opfer-Umkehr betrieben. „Es mangelt an einer Sensibilisierung für das Thema – auch wenn es mitunter Opferschutzbeauftragte bei der Polizei gibt“, sagt Köhler: „Bei Verhören fühlen sich viele Betroffene wie auf der Anklagebank. Es findet eine sekundäre Viktimisierung statt.“
Manche Stalker bekämen eine psychische Erkrankung diagnostiziert. Das sei fatal für Stalking-Opfer, weil ihre Peiniger so kaum belangt werden können. Im Oktober 2021 ist die Gesetzesänderung des „Stalkingparagraphen“ § 238 Nachstellung StGB in Kraft getreten. Ziel dieser Änderung ist eine effektivere Bekämpfung von Nachstellungen und eine bessere Erfassung des Cyberstalkings.
Verzicht auf Anzeige
Viele Betroffene benötigen aus psychischen Gründen eine Begleitung bei einem Prozess – nur gibt es dafür bislang keine staatlichen Hilfen, selbst bei schweren Fällen nicht. Daher verzichten viele Opfer darauf, ihre Stalker anzuzeigen. Die Folge: Sie fühlen sich nirgendwo mehr richtig sicher, entwickeln Paranoia, Depressionen und Angststörungen, sind verzweifelt und fühlen sich hilflos. Der Dauerstress kann zu psychischen und psychosomatischen Krankheiten führen: Rückenbeschwerden, Ess-, Schlaf- und Konzentrationsstörungen.
Traumatisiert von den Ereignissen, fällt es Betroffenen zudem schwer, neue Beziehungen einzugehen und generell Vertrauen zu anderen Menschen aufzubauen. Laut Köhler versuchen Stalker ihr Opfer durch komplette emotionale und soziale Vereinnahmung sozial zu isolieren und letztlich einen „sozialen Tod“ herbeizuführen.
In manchen Fällen installieren Täter eine SpySoftware auf dem Handy der betroffenen Person, ohne dass sie es mitbekommt. Manchmal würden Ex-Partner den gemeinsamen Kindern ein Handy mit einer vorinstallierten SpySoftware schenken, um so die Mutter zu überwachen. „Diese Software ist einfach zu bekommen und zu bedienen“, sagt Köhler: „Der Täter kann durch die SpyApp alles sehen, mithören, das Handy orten und die Kamera anschalten. Manche Apps sind nach einigen Tagen nicht mehr auf dem Gerät auffindbar.“
Ein tieferer Einblick in die Privatsphäre eines Menschen sei kaum möglich. Köhler sagt: „Wir empfehlen deshalb unseren Klient:innen, das Handy auf Werkeinstellungen zurückzusetzen oder das Gerät lieber gar nicht mehr zu benutzen. Köhler spricht sich für ein Verbot von Spy-Apps aus.
Verfälschte E-Mails, Kündigungen, Einkäufe im Netz
Es gibt Fälle, bei denen Nachrichten abgefangen, verfälscht, E-Mails, und Kündigungen im Namen einer betroffenen Person verschickt werden. „Manchmal bestellen Täter teure Gegenstände oder Dienstleistungen im Internet an die Adresse der Betroffenen, aus Scham schicken sie diese dann nicht zurück und bleiben auf den Kosten sitzen.“ Manche Stalker würden laut Köhler ihre Opfer über mehrere Jahre hinweg drangsalieren – so werden Personen im näheren Umfeld des Opfers „mitgestalkt“.
Cyberstalking-Expert:innen wie Köhler beklagen, dass Staat und Gesellschaft das Problem oft individualisieren und nicht ernst genug nehmen. „Von einer Anerkennung digitaler Gewalt als reale Form der Gewalt sind wir als Gesellschaft weit entfernt“, sagt Köhler. Um dies zu ändern, brauche man Zeit, Geld, eine digitale Mündigkeit und Medienkompetenz – die für alle Menschen in verschiedener und auch leichter Sprache zugänglich sein sollte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei