Dietmar Bartsch über offene Grenzen: „Die Debatte langweilt mich“
Dietmar Bartsch, Fraktionschef der Linkspartei, warnt vor einem rhetorischen Überbietungswettbewerb und allzu lautem Poltern gegen die AfD.
taz: Herr Bartsch, die AfD hat bei der Bundestagswahl im Osten mehr als 20 Prozent bekommen. Warum?
Dietmar Bartsch: Das hat vielfältige Ursachen. Verunsicherungen und Enttäuschungen sind am größten, wo die Hoffnungen besonders groß waren. Die blühenden Landschaften, die Kohl versprochen hatte, wie die Chefsache Ost von Schröder gab es so nicht. Der Protest im Osten hat mit der AfD teilweise eine neue Adresse gefunden.
Früher hat die PDS Frustrierte an sich gebunden. Warum gelingt das nicht mehr?
Es gibt mindestens drei Gründe. Wir tragen in Thüringen, Berlin und Brandenburg Regierungsverantwortung. Manche sagen: „Ich habe euch gewählt, weil ihr gesagt habt, Hartz IV muss weg. Aber Hartz IV gibt es immer noch.“ Die sind enttäuscht. Da kann ich tausendmal sagen, dass Hartz IV Bundesangelegenheit ist. Das interessiert diese Menschen nicht. Zweitens sind wir in der Fläche nicht mehr stark genug, um als Partei, die sich um alles kümmert, wahrgenommen zu werden.
Weil die Partei überaltert und geschrumpft ist.
Na ja, wir haben im Osten mehr Mitglieder unter 30 Jahren als andere Parteien. Aber wir haben auf dem Land, nicht in den großen Städten, Probleme. Ich war unlängst in einem Seniorenclub eingeladen. Da stand ein Schild vor dem Raum: „Wegen Überfüllung geschlossen“. Das ist schön und sagt gleichzeitig etwas. Drittens sind wir eine gesamtdeutsche Partei geworden und werden nicht mehr automatisch als die Interessenvertretung des Ostens wahrgenommen.
Was jetzt?
Zeigen, dass wir in neuer Weise Ostinteressen wahrnehmen, etwa die Chancen von Digitalisierung anzunehmen. Dazu plädiere ich für konsequenten Realismus: Nicht mehr versprechen, als man halten kann. In der Opposition neigt man dazu, fast alles zu versprechen. Das meine ich rückblickend auch selbstkritisch. 1998 in Mecklenburg-Vorpommern haben wir angekündigt, in der Regierung die Arbeitslosenzahl relevant zu senken. Das haben wir nicht geschafft und konnten es in der wirtschaftlichen Situation auch nicht. Wenn wir in Landtagswahlprogrammen den Nato-Austritt beschließen, dann ist das nun mal absurd.
Ist es falsch, wenn die Linkspartei im Wahlprogramm offene Grenzen fordert?
Das ist Programmlage. Aber diese Diskussion langweilt mich inzwischen, denn sie dreht sich im Kreis. Das ist eine ideologisch aufgeheizte Debatte, die unendlich viele Themen vermischt. Es ist inzwischen alles von vielen gesagt worden. Erkenntniszuwachs ist nicht zu erwarten.
Sie machen es sich zu einfach. Die Frage beschäftigt viele.
Trotzdem ist es eine absurde Diskussion. Erstens: Wir haben größtenteils gemeinsame Positionen. Zweitens: Als Linke können wir das meiste kaum beeinflussen. Wir können beschließen, gegen jegliche Abschiebung zu sein. Wir verlieren dann aber Glaubwürdigkeit, weil wir in den Landesregierungen abschieben, weil die Gesetzeslage so ist, wie sie ist. Wir können, wo wir regieren, auch nicht die Hartz-IV-Regelsätze auszahlen, die wir für angemessen halten.
Halten Sie alle Abschiebungen prinzipiell für falsch?
Die Position meiner Partei ist, Abschiebungen grundsätzlich abzulehnen. Wir müssen uns aber fragen, ob diese Forderung durchzuhalten ist. Die derzeitige Abschiebepraxis ist häufig willkürlich und unmenschlich. Wir müssen deutlicher machen, dass diese Bundesregierung immer neue Fluchtursachen schafft …
Ist das nicht zu simpel? Wenn die Linkspartei regieren würde, könnte sie ja nicht sagen: Flüchtlinge, Obergrenzen – egal, wir reden über Fluchtursachen …
Moment. Wir haben eine klare Programmlage. Die muss nicht dauernd neu debattiert werden. In der Partei und mit allen Fraktionsvorsitzenden unserer Partei haben wir über ein Einwanderungsgesetz diskutiert. Meines Erachtens brauchen wir das. Zuwanderung regulieren zu wollen, aber gegen ein Einwanderungsgesetz zu sein, erscheint mir unlogisch. Wenn man offene Grenzen für alle fordert und für ein Einwanderungsgesetz ist, scheint mir das auch widersprüchlich.
Das sind die Positionen von Wagenknecht und Kipping …
Beide Standpunkte gibt es in der Partei, und beide scheinen mir nicht stringent. Ihre Bemerkung zeigt, wie kontaminiert das Thema ist und wie persönlich die Debatte verläuft. Das schadet am Ende den Menschen, die als Geflüchtete hier versuchen, ein Leben aufzubauen, weil wir dazu beitragen, dass das Thema weiter emotionalisiert wird. Also Ende der abstrakten Debatte.
Die AfD scheint, egal was sie tut, zu gewinnen …
Das wird sich ändern. Es gibt Risse. Die AfD-Fraktion in Mecklenburg-Vorpommern hat sich gespalten. Manche, die ihr Kreuz bei der AfD gemacht haben, erkennen, dass die jetzt zwar Dienstwagen haben, aber sich für ihr Leben nichts geändert hat …
Jahrgang 1958, ist gebürtiger Stralsunder. Er war Mitglied der SED bevor diese zur PDS und schließlich zur Linken wurde. Er hatte unterschiedliche Parteiämter inne, unter anderem leitete er 2002 und 2009 den Bundestagswahlkampf seiner Partei. Seit 2019 hat er zusammen mit Amira Mohamed Ali den Fraktionsvorsitz inne. Bei der Bundestagswahl 2021 tritt er als Co-Spitzenkandidat zusammen mit Janine Wissler an.
Ein Effekt, unter dem die Linkspartei im Osten leidet …
Dieser Vergleich ist völlig unzulässig. Die AfD hat keine Konzepte. Nicht für die Rente, nicht für Klimaschutz, nicht für Digitalisierung. Gauland hat das im Sommerinterview beim ZDF bewiesen. Sie sprechen Menschen nur mit Gebrüll an.
Martin Schulz hat die AfD im Bundestag in die Nähe des Faschismus gerückt. War das klug?
Die AfD arbeitet mit Pegida und Rechtsradikalen zusammen. Das ist ein ernstes Gefährdungspotenzial für die Demokratie. Der Einwurf von Martin Schulz war in der Sache richtig, aber politisch nicht klug.
Die Rede von Gauland war übel – keine Frage. Aber das laute Poltern führt schnell zum Überbietungswettbewerb der politischen Parteien. Der SPD-Abgeordnete Johannes Kahrs hat alle AfD-Abgeordnete als rechtsradikal bezeichnet. Und jetzt? Die AfD jedenfalls sitzt noch im Parlament.
Aber muss man als Demokrat nicht mal klare Kante zeigen?
Ja. Aber ich fände es angemessener, wenn sich die Fraktionen besser koordinieren, wie sie mit der AfD umgehen. So ist es jedenfalls gelungen, die NPD in Mecklenburg-Vorpommern im Parlament zu marginalisieren, ohne sie zu Märtyrern zu machen. Lieber weniger Lautstärke, mehr Besonnenheit.
Sahra Wagenknecht hat die Bewegung „Aufstehen“ gegründet. Beunruhigt Sie das?
Ich habe mit Interesse gelesen, dass das Ziel ist, neue linke Mehrheiten zu schaffen. Das finde ich unterstützenswert. Ansonsten bleibt abzuwarten, was aus dem Projekt wird.
Ist „Aufstehen“ eine Konkurrenz zur Linkspartei?
Nein. Im Gründungsaufruf steht: Wir wollen keine neue Partei werden. Das ist klar formuliert.
Wenn „Aufstehen“ floppt, schadet das der Linkspartei?
Fragen Sie das ernsthaft?
Klar.
Die Menschen, besonders die nicht so stark politisierten, würden wahrnehmen, dass es linke Projekte mal wieder nicht bringen. Und eine der populärsten Personen der Linken würde beschädigt.
„Aufstehen“ muss ein Erfolg werden, damit Wagenknecht nicht beschädigt wird?
Viele Bürgerinnen und Bürger nehmen es so wahr, dass dieses Projekt mit der Linkspartei verknüpft ist. Deshalb wäre ein Scheitern nicht gut für die Partei. Es wäre auch schädlich für die Ziele, die im Kern sozialdemokratische sind und für die es häufig gesellschaftliche Mehrheiten gibt. Außerdem gibt es im Umfeld der Initiative durchaus interessante Leute, die wir vielleicht enger an unsere Partei binden können.
Knapp 150.000 unterstützten im Internet „Aufstehen“. Beeindruckt Sie das?
Es ist beeindruckend, wenn so viele Menschen sagen: „Ja, ich will mich engagieren!“ Aber es ist auch nicht so, dass die Konzernchefs jetzt zittern. Es gibt keine „Soko Aufstehen“ im Kanzleramt.
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