Deutsche Muslime und Shoah: Bekenntnis zum Tätervolk?
Sollen sich migrantische Menschen zu Täter-Nachfahren erklären, um dazuzugehören? Nein, sie haben andere Bezüge zur Shoah – gut so.
W enn eine Nachfahrin von Versklavten nach Großbritannien einwandert, wird sie dadurch nicht zur Nachfahrin von Sklavenhändlern. Ein Algerier in Frankreich wandert nicht in die Verantwortung für seine eigene Kolonisierung ein und ein asiatischer Immigrant in Australien nicht in die Schuld an der Ausrottung der Aborigines.
Alle diversen Gesellschaften ringen mit der Frage, wie sich neu eingebrachte historische Prägungen zum Altbestand des Erinnerns und zur jeweiligen nationalen (weißen) Tätergeschichte verhalten. Deutschland ist also kein Einzelfall, doch hat das Thema hier besonderes Gewicht: zum ersten und unbestreitbar aufgrund der Monstrosität der NS-Verbrechen. Zum Zweiten aber, und hier wird es strittig, weil die deutsche Politik den Eindruck erweckt, migrantische Menschen könnten sich einen legitimen Aufenthalt im Land der Shoah nur durch geschichtspolitische Bekenntnisse erkaufen. Sie sollen sich, sofern nicht jüdisch, quasi zu Täter-Nachfahren umfigurieren.
Wer die Verantwortung für den Holocaust nicht tragen wolle – und dies sei angesichts der Schwere der Schuld verständlich –, solle darauf verzichten, in Deutschland leben zu wollen, las ich kürzlich bei einem Berliner Sozialdemokraten. Zugleich aber verfällt bei vielen alteingesessenen Deutschen in verstörendem Tempo das Bewusstsein für die NS-Geschichte, ablesbar an den Erfolgen der AfD wie an Umfragedaten. Eine überwältigende Mehrheit redet sich die eigenen Vorfahren schön; sie hätten nichts gewusst und nichts getan. Wird nun auf Migranten abgewälzt, was man selbst nicht mehr leisten will?
Die Soziologin Esra Özyürek beschreibt in ihrem Buch „Subcontractors of Guilt“ (Subunternehmer der Schuld) Beobachtungen in Projekten, die speziell Muslime an das richtige deutsche Erinnern heranführen sollen. Wenn diese nach einem Auschwitz-Besuch angesichts eigener Rassismus-Erfahrung die Angst äußerten, es könne ihnen womöglich einmal so ergehen, wie es Juden und Jüdinnen ergangen ist, dann seien dies „falsche Gefühle, eine falsche Empathie, eine falsche Furcht“, resümiert Özyürek. Muslime sollen sich bitte nicht mit jüdischen Opfern identifizieren, sondern sich bei den deutschen Täter-Nachkommen einreihen.
Sinnvoll wäre eine gegenteilige Perspektive. Für Eingewanderte ist der Holocaust nicht als die Geschichte von Eltern und Großeltern relevant, sondern weil er eine weltgeschichtlich extreme Erfahrung gewalttätigen, genozidalen Otherings (Distanzierung von anderen Gruppen, Abwertung einer anderen Gruppe; d. Red.) darstellt. Darauf kann sich, ungeachtet anderer Prägungen, potenziell jede/r beziehen, daraus lassen sich ethische Konsequenzen ableiten. Wer selbst Ausgrenzung, gar Bedrohungen erlebt, kann sich anders mit der NS-Geschichte verbinden als Alteingesessene. Eigene Erfahrungen können der Ausgangspunkt sein, um dann in der Schule zu verstehen, warum Juden und Jüdinnen im besonderen Maße zu Opfern wurden.
Und vieles wird ja längst praktiziert, fern von politischem Gedröhn. Schon in den 1990ern suchten türkischstämmige Literaten eigene Zugänge zur NS-Geschichte. Gedenkstätten haben sich auf ein heterogenes Publikum eingestellt. Und seit mehr als einem Jahrzehnt wird wissenschaftlich über „Memory Citizenship“ gesprochen: sich mitsamt des Mitgebrachten zugehörig fühlen können. Tatsächlich ist die Bandbreite migrantischer Bezüge auf die NS-Geschichte beträchtlich.
Andere Geschichtslinien
Ein geflüchteter Syrer überraschte mich mit den Worten: „Wir müssen Verantwortung für Assad übernehmen, so wie die Deutschen für Hitler.“ Vom Bruder eines in Hanau Ermordeten hörte ich: „Die Deutschen haben keine Erinnerungskultur!“, Ausdruck seiner Verzweiflung angesichts der verbreiteten Gleichgültigkeit gegenüber rechtsextremen Mordtaten. Und es gibt familiäre Geschichtslinien, nur eben andere: Die Herkunftsländer osteuropäischer Zugewanderter waren NS-Opfer oder gelegentlich Kollaborateur. Aus dem Maghreb kamen Kolonialsoldaten, die gegen Nazi-Deutschland kämpften. Es gibt Deutsche, von denen ein Großvater bei der SS war und ein anderer ein griechischer Antifaschist.
Palästinenser sind mit der deutschen Geschichte besonders eng verbunden, denn die Vertreibung ihrer Vorfahren aus der angestammten Heimat hätte es ohne den europäischen Antisemitismus, ohne die Shoah nicht in diesem Maße gegeben. Umso tragischer, wie gerade sie in diesen Wochen zum kollektiven Feind der Erinnerungskultur stilisiert werden – als hätten sie und nicht die Gesellschaft meiner Eltern und Großeltern den Holocaust auf dem Gewissen.
Kein Konsens zur israelischen Regierung
Letztlich ist die Übernahme historischer Verantwortung eine Frage der Entscheidung – bei neuen Deutschen ebenso wie bei den alten. Und es war eigentlich nie anders: Sensible Menschen meiner Generation fühlten sich schuldig, gerade weil es die meisten der Tätergeneration eben nicht taten. Je universeller die Lehre aus dem Holocaust formuliert wird, desto eher fördert sie Menschenrechte und Zivilcourage in einer diversen Gesellschaft – inklusive des Gebots, beim Schutz jüdischen Lebens mitzuwirken.
Über Israel, zumal mit regierenden Rechtsextremisten, wird es hingegen keinen Konsens geben. Von der emotionalen Kälte derer, die autoritär „Staatsräson!“ rufen und bereits das Mitgefühl für Kinder in Gaza unter Antisemitismusverdacht stellen, fühlen sich viele abgestoßen; oft sind es die Gebildetsten, Erfolgreichsten der migrantischen Szene, die sich diesem Deutschland intellektuell entfremden – beziehungsweise Deutschland ihnen.
Einen antifaschistischen Grundkonsens finden heute eher Minderheiten untereinander. Und vielleicht kommt eine Zeit, was ich nicht hoffe, wo sie es sind, die eine Bastion gegen die Völkischen sein werden.
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