Der kulinarische Jahresrückblick: Und, hat’s geschmeckt?
2020 war wirklich verdammt bitter. Aber es war auch süß, sauer, salzig und umami. Unsere Autor:innen berichten von ihren kulinarischen Höhepunkten.
Die bündige Bouillon einer Bestandsaufnahme
salzig: Es gab sie, die kurze Zeit, in der man dieses Jahr verreisen konnte. In der Lieblingsheimatregion meines norwegischen Freundes, Møre og Romsdal, haben wir uns also vier Wochen in einer Hütte in den Bergen verschanzt und gepökeltes Lammbein gevespert: Fenalår, fleischiges Salz, das auf der Zunge zergeht.
süß: Dort wanderten wir auch um den sogenannten Höllengipfel – nervlich nur möglich mit einem Flachmann voller Laphroaig, einem rauchig-süßlichen Islay-Whisky, der brennt, Mut macht und den Blick ins Tal schmackhaft verschnörkelt.
bitter: Die Meldung, dass die Gastronomie schließen würde. Nicht einmal, weil ich uneins mit Forschungsinstituten bin, sondern weil ich viele Gastronomen unter meinen Freunden habe und es mir das Herz bricht, zu sehen, wie diese leiden. Darauf einen Negroni to go!
sauer: Eine meiner kulinarischen Entdeckungen des Jahres war Sauerbier à la Berliner Weiße, das es kurz vor dem Lockdown bei der Berliner Brauerei Schneeeule zu erstehen gab, und zwar die Sorte Hot Irmi, mit Habanero Chili und Ingwer.
umami: … ist für mich der Geschmack der aktuellen Kontaktbeschränkungen und der damit einhergehenden Zeit zur Auseinandersetzung mit mir selbst, dem Partner, der Familie und Freunden: konzentriert, richtungweisend und ehrlich, wie die bündige Bouillon einer Bestandsaufnahme.
Juliane Reichert
Ein Herbst mit Gösser und Baklava
bitter: Im Frühling. Ein angehefteter Tab, ein fast schon gekauftes Flugticket. Eine Pandemie, ein abgesagter Besuch. Sehnsucht nach Gemüse, das aus anderer Erde wächst und nach bekannten Händen, die Bittermelonen waschen. Hier finde ich keine Bittermelonen. Dafür bittere Gedanken.
sauer: Im Sommer. Zwei Freundinnen, drei Nächte, viele sehr saure Johannisbeeren auf Vollfettjoghurt vor einer Gartenlaube. Wochen später Apfelbäume in der Pfalz, außerdem Weinreben naschen beim Wandern. Viel Wein, viel Säure, etwas Bauchweh.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
salzig: Im Spätsommer. Der vorletzte Tag Urlaub, ein Samstag in einem unscheinbaren Freibad bei Heidelberg. Eine große Uhr ohne Batterie, also zeitlos, über einem kleinen Imbissfenster, Handtücher auf weißen Plastikstühlen, Oberschenkel auf feuchten Handtüchern, schrumpelige Finger an salzigen Pommes.
süß: Im Herbst. „Gehen wir spazieren?“ – „Hm. Keine Lust.“ Also sitzen wir auf einer Bank mit Gösser und Baklava. Zu süß, aber egal.
umami: Im Winter. Auf die Gesundheit achten, auf das Essen achten. Reis kochen und, während er zieht, ein Schälchen mit aufgeschlagenem Ei und Pfeffer mit im Topf platzieren. Deckel drauf, warten, kurz hineingucken, noch nicht gar. Warten. Deckel auf, Dampf im Gesicht und im Schälchen endlich Eipudding.
Lin Hierse
300% Joy dank Dosentomaten
süß: Der signature drink meiner Sehnsuchtsinselneuentdeckung Madeira heißt Poncha und besteht zu gleichen Teilen aus Zitronensaft, Bienenhonig und Zuckerrohrschnaps. Er ist süß, zitrusfruchtig und heftig, aber auf die gute Art.
salzig: Auch gehört Madeira zu dem seligen Teil der Erde, wo es als Snack zum Bier eingelegte Süßlupinensamen gibt. Diese tremoços schmecken nicht nur fresher als die trocken-traurigen Freunde Rösterdnuss und Salzgebäck, sie sind auch viel gesünder und der Verzehrvorgang, man friemelt sie mit dem Mund aus ihrer wachsartigen Hülle, macht mehr Spaß.
sauer: Die sauersüße Weingummischweinerei „Bärchen Pärchen“, entdeckt beim Besuch im – sorry, Adrian! – Haribo-Fabrikverkauf in Bonn-Bad Godesberg.
bitter: „365: Jeden Tag einfach kochen & backen“ ist der unspektakuläre Titel eines tollen Kochbuchs von Meike Peters. Es ist voll mit wunderschönen Fotos und Rezepten, die aus wenigen einfachen Zutaten viel machen. Nummer 289 ist ein Salat aus im Ofen gebackenem Kürbis und Schalotten, kombiniert mit frischer Birne, Stilton-Blauschimmelkäse und Radicchio, eine bittersüße Sinfonie.
umami: Die Dosentomaten „Pomodoro S. Marzano dell’ Agro Sarnese-Nocerino D.O.P.“ meines Feinkost-Italoshops sind so wohlklingend wie sauteuer wie lecker. 300% Joy!
Michael Brake
Göttliche Salzgurke, rattenscharfer Radicchio
salzig: Sieht man mal wieder, dass Deutschland eben keine Kulturnation ist! Während der olle Hering sogar die Ehre genoss, einen Reichskanzler heiraten zu dürfen, fristet die Salzgurke ein Schattendasein im Einmachregal. Völlig zu unrecht, denn mir war sie 2020 Nervennahrung und göttlicher Genuss in einem.
süß: Man muss den Verstand verlieren, wenn man zehn Orangen filetiert. Danach weiß man zwar nicht mehr, was man da isst (eine Orangentarte, Gerüchten zufolge), aber fühlt sich trotzdem einer ausgewählt glücklichen Spezies zugehörig.
umami: Schlimmer noch, als dass ich in diesem grauenhaften Jahr zweimal aus Versehen meinen Laptop geflutet habe: Irgendein super innovatives Yotam-Ottolenghi-Rezept mit Fettspiegel und nordmacadamischen Okra-Oliven ging überraschend schief. Immerhin war Schnaps im Haus.
bitter: Rattenscharf und rollig: Rotwein-Risotto mit Radicchio. Cheerio, Mr. Wintergemüse!
sauer: Wie einfach es ist, Quark herzustellen! Milch warm, Zitrone rein, ausflocken lassen, und dann ab durch ein Geschirrhandtuch, Strumpf, löchriges Buch … aber was macht man jetzt mit diesem tollen Sockenkäse? Und wie bin ich nochmal hier reingekommen?
Adrian Schulz
Sternerestaurant-Essen vom Lieferservice
süß: Der erste Mensch im Frühjahrs-Lockdown, der mir mit Maske gegenübertrat, war der Bote vom vegetarischen Berliner Sterne-Restaurant „Cookies Cream“. An lang ausgestreckten Armen wechselte die Tüte mit einem Viergängemenü die Hände. Er erkundigte sich, ob ich wüsste, wie alles warm zu machen oder aufzubereiten sei. Mehrmals. Bei Problemen könne ich jederzeit anrufen. Und wünschte guten Appetit. Das war echt süß. Und der Nachtisch, Aprikosen-Safran-Eis mit Jalapeño-Popcorn, das Dessert des Jahres.
sauer: Sauerbier. Ein neues Universum.
salzig: Kartoffeln in Salzkruste. Kleine Kartoffeln unter Wasser spülen, noch feucht in grobem Salz rollen, je nach Größe ungefähr eine halbe Stunde bei 200 Grad im Ofen auf Backofenpapier backen, bis die Schale runzelig geworden ist. Daraus hervor schält sich eine cremige Kartoffel, gar nicht salzig, sondern soooo kartoffelig. Es braucht jetzt nur noch ein Stück Butter.
bitter: Im Frühjahrs-Lockdown ist der Umsatz der Gastronomie um 70 Prozent abgestürzt, im Herbst ist der Rückgang wahrscheinlich noch größer. Jeder siebte Betrieb ist Ende 2020 insolvenzgefährdet.
umami: Würzsaucen waren dieses Jahr schon der Renner. Nächstes wird Maggi hip.
Jörn Kabisch
Von der Lupine geküsst!
süß: Die Laune sehr versüßt hat mir, dass ich als Veganerin nun endlich wieder Schaumküsse essen kann! Dank Lupikuss-Erfinderin Samy Ebel gibt es mein Lieblingsnaschwerk jetzt zu 100 Prozent pflanzlich. Der Schaum ist statt aus Eiweiß aus Lupinen und schmeckt megagut.
sauer: … gemacht hat mich die Ratifizierung des Änderungsantrags 171 durch das EU-Parlament. Der verbietet, dass Beschreibungen wie „Joghurt-Style“ oder „Käse-Alternative“ für vegane Produkte verwendet werden dürfen und ist selbst großer Käse!
bitter: … ist zu Unrecht eine der unbeliebtesten Geschmacksrichtungen, denn bitter macht gesund! Viele Heilpflanzen wie Neem und Kurkuma schmecken leicht bitter und kurbeln das Immunsystem an. 2020 habe ich hausgemachte Bitterlimonaden lieben gelernt.
umami: Der herzhaft-fleischige Geschmack ist nun auch ganz ohne Fleisch fest im Mainstream verankert. Die Iffa, die Weltleitmesse für die globale Fleischwirtschaft, hat 2020 bekannt gegeben, dass sie ab sofort auch Technologien und Lösungen für pflanzlichen Fleischersatz und alternative Proteine präsentiert. Die Zukunft ist jetzt und sie schmeckt verdammt gut!
salzig: Das Salz des Lebens, das hat uns 2020 eindeutig gezeigt, ist unser Miteinander. Sich umarmen können, miteinander feiern können, einander die Hand reichen können. Liebes 2021: Bring it back!
Ariane Sommer
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Olaf Scholz’ erfolglose Ukrainepolitik
Friedenskanzler? Wäre schön gewesen!
Außenministerin zu Besuch in China
Auf unmöglicher Mission in Peking
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Comeback der K-Gruppen
Ein Heilsversprechen für junge Kader