Debatte Reaktion der SPD auf Petra Hinz: Ekel vor dem Proletariat
Der Fall der Bundestagsabgeordneten und Hochstaplerin Petra Hinz zeigt, wie die Akademisierung die SPD innerlich vergiftet und politisch ruiniert.
D ie Essener Sozialdemokratin Petra Hinz, so wurde ruchbar, hat es mit falschen biografischen Angaben zur Bundestagsabgeordneten gebracht. Viele Details sind inzwischen bekannt geworden, ihre Anwälte schreiben: „In der Rückschau vermag es Frau Hinz nicht zu erkennen, welche Gründe sie seinerzeit veranlasst haben, mit der falschen Angabe über ihren Schulabschluss den Grundstein zu legen für weitere unzutreffende Behauptungen über ihre juristische Ausbildung und Tätigkeit.“
Ein Armutszeugnis, das trist die anwaltlich zu Schützende der Lächerlichkeit preisgibt: Als ob Politiker*innen je aus dem Blick verlören, was über sie gesagt und notiert wird, zumal auf einer offiziellen Seite.
Zusammengefasst verhält es sich jedenfalls so: Die Frau aus dem Ruhrpott mit Wahlkreis im feineren Teil von Essen hat weder Abitur noch einen Universitätsabschluss, noch ist sie Juristin. Mittlerweile hat sie, die inzwischen 54-jährige Frau, all ihre Parteiämter niedergelegt, nicht jedoch auf ihr Mandat verzichtet. Innerhalb der sozialdemokratischen Spitzenkreise wird vermutet, dass sie dies auch nicht tun wird. Denn, realistisch gesprochen: Was hätte sie davon? Weshalb sollte sie nicht noch dieses eine Jahr bis zur nächsten Wahl auf ihre Vergütung verzichten?
Denn nach der nächsten Bundestagswahl wird sie keine Abgeordnete mehr sein. Es gibt in ihrer Partei, der sie seit ihrem 17. Lebensjahr angehört, niemanden, der für sie die Stimme erhebt. Kein Funktionär, der sich erbarmt und sagt, dass „die Petra“ einen guten Job gemacht hat und dass es nicht so schlimm sei, den eigenen Lebenslauf wie ein Emporkömmling ohne bürgerliche Qualifikationszeichen aufzurüschen.
Die Geschichte gibt zu denken. In der Tat soll Petra Hinz als Chefin ihres Mitarbeiterstabs eine Pest gewesen sein. Eine Verschleißerin, Cholerikerin und Despotin. „Wenn Schiet wat ward“, hieß das früher im norddeutschen Arbeiterplatt, „wenn Scheiße was wird“. Wenn der Prolet einen auf Boss macht und tyrannischer als ein gelernter Chef wird. Aber weder die biografische Aufjazzung noch die Umgangsweisen als Vorgesetzte stehen unter Strafe.
Tyrannische Charakterzüge mögen verdrießlich stimmen – aber moralisch hochfahrend? Was also erzürnt die Genossen in ihrer Partei – von Oberfunktionären ihres Essener Parteizweigs bis hin zu Parteispitzen, die allerdings nicht zitiert werden wollen – derart, dass sie zur Aussätzigen wurde? Ihre Chefinnenallüren stehen nicht in der Kritik. Nur dass sie sich als, nach bürgerlichen Kriterien, mehr ausgab, als sie ist. Und das soll strafbar sein? Moralisch verwerflich? Vielleicht.
Zur Selbstreflexion unfähig
Aber müsste die Sozialdemokratie nicht ganz anders mit ihr und ihrem (buchstäblichen) Fall umgehen? Tatsächlich wäre die Causa Petra Hinz Anlass für eine sozialdemokratische Selbstreflexion. Etwa zur Frage: Wie konnte es so weit kommen, dass eine Sozialdemokratin glaubt, sich für eine parteipolitische Karriere eine akademische Biografie zulegen zu müssen? Es sagt viel über die einst von der Arbeiterbewegung geprägte Partei aus, wenn heute so gut wie alle Mandatsträger*innen einen Universitätsabschluss vorweisen können.
In der bekennend bürgerlichen FDP mag das ein Standard sein, aber in der SPD? Ist dieser Partei die sozial begründete Scham nicht mehr bewusst, die inzwischen alle innerlich vergiftet, die sich keines Masters oder Doktors versichert haben? Ist das Klima in dieser Partei schon so weit vergammelt, dass Personen, die nicht in mittelschichtigen Sphären aufgewachsen sind, sich nicht mehr trauen zu sagen: Ich bin Postbote (und Personalrat)! Oder: Ich bin Supermarktkassiererin (und Betriebsrätin)!
In diesem Sinne müsste der EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, gelernter Buchhändler, fast schon als Freak gelten: kein Jurastudium, keine Institutionenkarriere wie etwa in einer Gewerkschaft, nicht einmal ein Abschluss als Politikwissenschaftler*in.
Der Fall Hinz verweist erst in zweiter Linie auf die Not einer Politikerin, die sich an ihr Mandat klammert, weil sie nichts anderes gelernt hat, als sich in Gremien durchzusetzen und das politische Leben mit zu verwalten. In erster Linie zeigt es jedoch die Abgründe einer Partei, die sozialdemokratische Traditionen bei Festlichkeiten beschwört und in Sommerinterviews herauskehrt wie gerade erst Parteichef Sigmar Gabriel, aber im Alltag mit dem Pöbel weder Kontakt haben noch sich für ihn verwenden will.
Die eigene Herkunft verraten
Als der gelernte Elektromechaniker Kurt Beck, Sohn eines Maurers und einer Hausfrau, erfolgreicher Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, 2008 von seinem Amt als SPD-Chef zurücktrat, war dies auch einem Parteiumfeld zu verdanken, das ihm nicht verzeihen wollte, sich nicht höherer Kultur, smarteren Umgangsformen und dem Berliner Sprech der Lachshäppchenempfänge verpflichtet zu fühlen. Er war, wie sein pfälzischer Amtsvorgänger Helmut Kohl, habituell mehr Saumagen als Canapé – und damit ziemlich erfolgreich.
Man anerkannte ihn nicht in den innersten Zirkeln der Partei, weil er immer wie Provinz wirkte, nicht so weltläufig wie Frank-Walter Steinmeier, der im Übrigen statt Beck Kanzlerkandidat 2009 wurde und wie auch vier Jahre darauf Peer Steinbrück mit dem SPD-Resultat düpiert wurde: Die Stimmen der Unterprivilegierten, der politischen Kundschaft jenseits der akademisierten SPD-Kreise waren verloren.
Dass es jetzt aus der Essener SPD heißt, Hinz, die Hochstaplerin, möge auf ihr Mandat verzichten, schließlich gebe es ihretwegen Parteiaustritte, ist nichts als eine Behauptung. Gut möglich, dass sich jetzt schon eine*r, der (oder die) nach ihr gern den Rest der Legislaturperiode das Mandat übernähme, mit den Hufen scharrt.
Dabei muss doch klar sein: Wenn die Abgeordnete nicht verzichtet, kann sie auch nichts zwingen. Also: Weshalb sollte sie? Sie hat nichts mehr zu verlieren. Statt sich moralisch aufzuspielen, sollte die SPD ihren eigenen politischen Irrweg erkennen und Hinz fragen, ob sie nicht für eine weitere Wahlperiode kandidieren will – unter der Voraussetzung natürlich, künftig mit ihren Mitarbeiterstäben solidarischer, jedenfalls, wenn stimmt, was kolportiert wird, weniger despotisch umzugehen.
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