Debatte Griechenland unter Spardiktat: Tsipras, der tragische Held

Griechenlands Ministerpräsident Alexis Tsipras wird von vielen Linken als Verräter geschmäht. Dabei ist er ein Segen fürs Land.

Standhafter Regierungschef in Zeiten der Krise: Syriza-Chef Alexis Tsipras Illustration: Eleonore Roedel

Der kommende Montag, der 20. August, hätte für Alexis Tsipras zum Tag des Triumphs werden sollen. An diesem Montag endet das dritte Memorandum, das dritte der sogenannten Hilfspakete, die die EU gemeinsam mit dem Internationalen Währungsfonds seit 2010 geschnürt hatte, um Griechenland vor einem Staatsbankrott zu retten. Die Voraussetzung für die Freigabe der Kredite war die nahezu völlige Aufgabe der griechischen Souveränität über den eigenen Haushalt und damit über die Regierung insgesamt.

Mehr als acht Jahre unterstand das Land dem Diktat der Troika, der Europäischen Zentralbank, dem IWF und der EU-Kommission. Was Griechenland zu tun oder zu lassen hat, wurde seitdem in der Gruppe der Finanzminister der Eurostaaten entschieden, nicht im griechischen Parlament und nicht am Kabinettstisch in Athen. Am kommenden Montag endet dieses allen Griechen verhasste Diktat und das Land erlangt, mit schmerzlichen Abstrichen zwar, aber dennoch seine Souveränität zurück. Endlich, so hatte Tsipras gehofft, könnte er nun ein Freudenfeuer anzünden lassen, an dem er seine und die geschundene Seele der Griechen insgesamt etwas aufwärmen kann, doch es ist ihm nicht vergönnt.

Die Brandkatastrophe vom 23. Juli in mehreren Vororten von Athen, die mehr als 90 Menschen das Leben kostete, verbietet sämtliche Freudenfeste. Es ist eine grausame Ironie der Geschichte, die aber gut passt zur Karriere von Alexis Tsipras, der so viel getan hat für Griechenland und die EU und der vermutlich dennoch im kommenden Jahr mit Schimpf und Schande aus dem Amt gejagt wird.

Alexis Tsipras hatte in seiner langen politischen Laufbahn, von Karriere konnte man eigentlich bis 2014 nicht reden, wohl kaum damit gerechnet, jemals griechischer Ministerpräsident zu werden. Er wurde in der kommunistischen Jugend groß, er war im Vorstand des nationalen Studentenbundes und er wurde 1999 Sekretär der Jugendorganisation der Synaspismos, einer Vorläuferorganisation von Syriza. Politik war für ihn kaum mehr als ein Hobby in einer linken Splittergruppe, während Griechenland abwechselnd von den beiden Klientelparteien Pasok und Nea Dimokratia regiert wurde.

Daran änderte sich auch nicht viel, als Giorgos Papandreou im April 2010 auf der kleinen Mittelmeerinsel Kastellorizo die Pleite Griechenlands verkünden musste und die EU um Hilfe aus der Krise bat. Erst als die drakonischen Auflagen des ersten sogenannten Hilfspaketes das Land immer weiter ins Elend trieben, Papandreou längst das Handtuch geworfen und der Rechte Antonis Samaras übernommen hatte, stellten das linke Parteienbündnis Syriza und sein charismatischer Vorsitzender Alexis Tsipras fest, dass immer mehr Griechen ihre Kritik an der Verelendungspolitik der Troika und ihres Handlangers Samaras interessant fanden.

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Während die Pasok zerfiel und auch Samaras die Rechte nur noch notdürftig zusammenhalten konnte, wuchs die Zustimmung zu Syriza in geradezu beängstigender Geschwindigkeit. Erstmals einem größeren Publikum bekannt wurde Alexis Tsipras, als er 2014 als gemeinsamer Kandidat der europäischen Linken für das Amt des Kommissionspräsidenten kandidierte. Auch für Tsipras muss das eine wichtige Erfahrung gewesen sein, die ihm später die trügerische Hoffnung vermittelte, mit der Unterstützung der Linken in Europa ein besseres, humaneres Hilfsprogramm für sein Land durchsetzen zu können.

Mit großem Pathos attackierte Tsipras Antonis Samaras, der seit Juli 2012 die Geschäfte führte und auf Druck der Troika ein Sparpaket nach dem anderen durchs Parlament gepeitscht hatte. Vollmundig versprach er den Griechen das Ende des Spardiktats und die Wiederherstellung der „Würde“ der griechischen Wähler.

Vom Triumph zum Drama auf großer Bühne

Als Samaras im Winter 2014 einen neuen griechischen Präsidenten wählen lassen wollte, war Syriza bereits die größte Oppositionspartei. Weil Samaras für einen neuen Präsidenten keine Mehrheit organisieren konnte, kam es im Januar 2015 zu vorgezogenen Neuwahlen. Die Wahlen wurden zu einem Triumph für Alexis Tsipras. Es kam zu einem Erdrutschsieg für Syriza, einer Partei, die nie zuvor an einer Regierung beteiligt gewesen war. Dasselbe galt für den nur 40 Jahre alten Alexis Tsipras. Mit gut 36 Prozent verfehlte Syriza nur ganz knapp die absolute Mehrheit. Für die Regierungsbildung brauchte Tsipras nur einen Tag. Er holte die kleine rechtspopulistische Anel, die „Unabhängigen Griechen“ von Panos Kammenos, mit in die Regierung. Anders als in vielen anderen europäischen Ländern wählten die Griechen in der größten Not nicht rechts, sondern links, auch wenn mit der „Goldenen Morgenröte“ erstmals wieder mit 6,3 Prozent eine neofaschistische Partei ins Parlament einzog.

Was dann in den Monaten Februar bis August 2015 folgte, war die denkwürdigste und spannendste Auseinandersetzung einer linken Regierung mit ihren Gläubigern, die es in der modernen Geschichte je gab. Eine Umschuldung 2011 hatte dazu geführt, dass die privaten Banken bereits raus waren und allein die EZB, der IWF und die europäische Kommission als Troika den Takt vorgaben. Tsipras und der von ihm aus den USA geholte Wirtschaftswissenschaftler Yanis Varou­fakis als neuer Finanzminister wollten nicht weniger als ein Ende des Spardiktats und einen großen Schuldenschnitt, um der griechischen Wirtschaft einen Neuanfang zu ermöglichen, der Wachstum und Arbeitsplätze schaffen sollte. Nur so, argumentierten Tsipras und Varoufakis, werde es möglich sein, die Verelendung der griechischen Gesellschaft zu beenden und genügend Geld zu erwirtschaften, um wenigstens einen Teil der Schulden zurückzahlen zu können.

Was folgte, war ein Drama auf großer Bühne, in dem sich bald Helden und Verräter herauskristallisierten. Yanis Varoufakis hat in seinem Buch „Die ganze Geschichte – Meine Auseinandersetzung mit Europas Establishment“ nicht nur seine Dispute mit dem deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble und anderen Troika-Vertretern beschrieben, sondern am Ende auch den vermeintlichen Verrat von Alexis Tsipras. Die fünf gemeinsamen Monate waren ein Höllenritt für Varoufakis und Tsipras, bei dem Griechenland immer kurz davor stand, aus dem Euro herausgedrängt zu werden und damit einen gigantischen Absturz zu riskieren.

Während Varoufakis bereit war, bis zum Äußersten zu gehen, und vorübergehend eine elektronische Parallelwährung einführen wollte, um die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und Mario Draghi, den Chef der EZB, so weit unter Druck zu setzen, dass sie Griechenland ein brauchbares Angebot machen würden, schreckte Tsipras letztlich davor zurück. Während Varou­fakis glaubte, die Troika würde am Ende einknicken, weil sie mit dem Rauswurf von Griechenland aus dem Euro eine „nicht mehr kontrollierbare Kettenreaktion“ provozieren würde, wollte Alexis Tsipras nicht am Ende als derjenige dastehen, der für den Rauswurf Griechenlands aus dem Euro und vermutlich auch aus der EU verantwortlich wäre. Er wusste, dass die Mehrheit der Griechen das nicht wollte, auch wenn in einem hochemotionalen Referendum im Juli 2015 gut 61 Prozent demonstrativ gegen die Sparauflagen der Troika stimmten.

Tsipras hätte mit diesem Votum im Rücken den Helden spielen und der Troika, wie Varoufakis es wollte, die Stirn bieten können. Sicher wäre die Mehrheit der Griechen in dem Moment von ihm begeistert gewesen. Er hätte sich wie Varou­fakis weigern können, seine Unterschrift unter ein weiteres demütigendes Hilfspaket zu setzen, und zurücktreten können. Damit hätte er den Weg für einen weitreichenden Rechtsruck frei gemacht, aber er wäre für seine Anhänger ein Held geblieben. Stattdessen hat er in der für ihn schwierigsten politischen Situation Verantwortung übernommen. Er hat Verantwortung übernommen und ein drittes Memorandum in Brüssel unterschrieben, wissend, dass er damit einer weiteren sozialen Verelendung zustimmen würde, in der Hoffnung, dann anschließend umso schneller ein Ende des Diktats erreichen zu können.

Er hat damit Griechenland und nicht zuletzt die Eurozone vor dem Abgrund gerettet. Denn die griechische Demokratie ist keineswegs gefestigt. Noch immer gibt es offene Wunden aus dem Bürgerkrieg nach dem Zweiten Weltkrieg. Noch ist die Militärdiktatur von 1967 bis 1974 nicht vergessen, ein Staatsstreich der Rechten gegen Syriza wäre möglich gewesen.

Der denkbar schwierigste Weg

Stattdessen ist Alexis Tsipras den denkbar schwierigsten Weg gegangen. Er hat das verhasste dritte Memorandum unterschrieben und ist anschließend zurückgetreten, um sich in Neuwahlen wenige Wochen später von den griechischen Wählern eine neue Legitimation zu holen. Bei den Wahlen am 20. September 2015 holte Tsipras erneut fast 36 Prozent und konnte mit Anel wieder eine Regierung bilden. Seitdem, bis zu diesem 20. August 2018, an dem nun endlich das dritte „Hilfspaket“ ausläuft, hat Tsipras nichts anderes mehr getan, als die Vorgaben aus Brüssel und Berlin so schnell wie möglich und so sozialverträglich wie möglich umzusetzen, um sie endlich loszuwerden und dann seine eigentliche Politik machen zu können.

Doch dazu wird es wohl nicht mehr kommen. Zum einen sind die maßgeblich von Deutschland durchgesetzten weiteren Auflagen für Griechenland so engstirnig und kleinlich, dass ein echter Aufschwung nur schwerlich zu machen ist und Tsipras weiter an Zustimmung bei den Wählern verlieren wird. Längst ist er in weiten Teilen der Bevölkerung zum Gesicht der Krise geworden, bei der Rechten verhasst und von vielen Linken als Verräter geschmäht.

Zudem ist er in einem weiteren Akt der Verantwortung dem nationalistischen Furor im Namensstreit mit Mazedonien entgegengetreten und hat mit der Regierung in Skopje einen Kompromiss ausgehandelt, der bei der bevorstehenden Abstimmung im Parlament dazu führen wird, dass sein rechter Koalitionspartner dagegen stimmt und er seine Mehrheit verliert. Die dann fälligen Neuwahlen wird er wohl nicht überstehen. Alle Europäer, die für ein soziales, demokratisches Europa kämpfen, verlieren dann einen wichtigen Mitstreiter. Auch weil sie ihn über Jahre alleingelassen haben.

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