Debatte Brexit und Zollunion: Irrtum Freihandel
Die Brexit-Anhänger verstehen den Kapitalismus einfach nicht. Sonst würden sie nicht den Binnenmarkt verlassen wollen.
D ie Fronten im britischen Parlament sind verwirrend. Klar ist aber: Der Streit dreht sich im Kern um die Frage, ob die Briten in der Zollunion und im Binnenmarkt bleiben sollen. Labour ist dafür, und die radikalen Tories sind dagegen. Ihr Anführer, Jacob Rees-Mogg, hat die konservative Weltsicht pointiert zusammengefasst: Der EU-Binnenmarkt stehe „nicht für Freihandel, sondern für Protektionismus auf europäischer Ebene“.
Damit wirft Rees-Mogg eine Frage auf, die tatsächlich interessant ist: Warum betreibt die EU nicht nur Freihandel? Was soll der Aufwand, sich einen Binnenmarkt zuzulegen? Auch in Deutschland ist das Unverständnis groß und wird am liebsten in das Schauermärchen gekleidet, dass „Brüssel“ sogar den Krümmungswinkel von Gurken festlegen würde!
Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit erscheint bizarr: Angeblich geht es um den „Geist von Europa“, und am Ende befasst sich die EU mit endlosen Normierungen und technischen Vorschriften. Diese Diskrepanz ist nur zu verstehen, wenn man die Geschichte der EU kennt. Zugleich lässt sich aus dieser Vergangenheit ablesen, wie die Zukunft der Briten aussehen wird: Sie werden im Binnenmarkt bleiben, es nur anders nennen.
Die Erfinder der EU waren die Beneluxländer: 1952 schlugen sie vor, einen „gemeinsamen Markt“ zu gründen. Es ist kein Zufall, dass die Initiative von kleinen Industrieländern ausging – denn ihre Großunternehmen waren schon damals im wahrsten Sinne des Wortes an die Grenzen gestoßen.
Die EU leistet Harmonisierung
Ein zentrales Phänomen im Kapitalismus sind die Skalenerträge: Die Produktion von Gütern wird umso billiger, je mehr Stück man herstellt. Für vier Autos lohnt sich kein Industrieroboter; bei 10.000 Autos machen die Maschinen jedes einzelne Auto günstiger. Am effizientesten ist es natürlich, wenn die Produkte immer gleich sein können – was aber voraussetzt, dass die technischen Vorschriften in möglichst vielen Ländern identisch sind. Diese Harmonisierung leistet die EU: Im gesamten Binnenmarkt gelten die gleichen Regeln, ob im Umwelt-, Daten- oder Verbraucherschutz. Ein Freihandelsabkommen kann und will dies nicht leisten.
Die Vorteile eines Binnenmarktes waren anfangs nur den Beneluxländern einsichtig – eben weil sie so klein waren. Frankreich und Großbritannien waren damals noch groß genug für ihre heimische Industrie, zumal sie ja Kolonialreiche hatten. Westdeutschland wiederum war an einem „gemeinsamen Markt“ interessiert, aber vor allem aus politischen Gründen: Kanzler Adenauer lebte in ständiger Sorge, dass sich die Supermächte auf Kosten Deutschlands einigen könnten.
Beinahe wäre es gar nicht zum Binnenmarkt gekommen. Großbritannien wollte sowieso nicht teilnehmen, und Frankreich entdeckte immer neue Probleme. Die „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“, wie die EU damals hieß, ist 1957 nur entstanden, weil Franzosen und Engländer 1956 einen Krieg in Ägypten verloren hatten: Es ging um den Suez-Kanal, hatte also mit Europa eher wenig zu tun. Aber danach war zumindest den Franzosen deutlich, dass man neue Partner brauchte.
Der Binnenmarkt ist daher ein seltsames Konstrukt: Er ist aus politischen Gründen entstanden, obwohl er ökonomische Ziele verfolgt. Diese verwirrte und verwirrende Entstehungsgeschichte erklärt auch, warum der Binnenmarkt bis heute als „Friedensprojekt“ durchgeht, obwohl sich das Alltagsgeschäft um Abgasnormen für Dieselfahrzeuge dreht.
Das ökonomisch richtige Konzept
Da Franzosen und Westdeutsche 1957 vor allem politische Bündnispartner gewinnen wollten, begriffen sie nur langsam, dass sie – eher aus Versehen und dank der Beneluxstaaten – auf das ökonomisch richtige Konzept gesetzt hatten. In Paris und Bonn war man nämlich ehrlich erstaunt, als das britische Konkurrenzprojekt nicht so richtig florierte.
Wie heute Rees-Mogg hatte London schon damals für den Freihandel optiert. 1960 wurde sogar eigens eine „Europäische Freihandelsassoziation“ (Efta) gegründet, der Dänemark, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden und die Schweiz angehörten. Doch der Freihandel brachte nicht viel; der Austausch intensivierte sich nicht und schob das Wachstum nicht an.
In der „Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ hingegen explodierte der Handel, weil alle Großunternehmen die Skalenerträge nutzten und in den gemeinsamen Markt expandierten. Dieses Wachstum überzeugte auch die Efta-Länder: Inzwischen sind sie alle im EU-Binnenmarkt, wobei die Schweiz und Norwegen formal so tun, als wären sie unabhängig.
Ein Binnenmarkt ist jedoch nicht nur attraktiv für seine Mitglieder – sondern ebenso für globale Handelspartner. Auch für japanische Autobauer ist es effizient, dass die gleichen Regeln in ganz Europa gelten. Sollten die Briten den Binnenmarkt verlassen, würden sie ziemlich uninteressant. Wie sich das anfühlt, konnte London jetzt erleben, als es mit Tokio einen neuen Handelsvertrag für die Post-Brexit-Zeit aushandeln wollte: Die Japaner machten ungeniert klar, dass sie die Briten quälen und erpressen werden, schließlich wissen sie genau, dass sie für die Briten wichtiger sind als umgekehrt. Das war eine Machtdemonstration, aber nicht nur: Die Japaner wollen dafür entschädigt werden, dass die Skaleneffekte nicht mehr greifen, wenn die Briten eigene Regeln erfinden. Wer will Autos nur für eine Insel bauen?
Skalenerträge spielen überall eine Rolle, auch im scheinbar virtuellen Internet. Boris Johnson, der berühmteste aller Brexit-Fans, liebäugelt noch damit, „den Tech-Sektor, die Biowissenschaften und Bulk Data […] anders zu regulieren, als Brüssel das tut.“ Dieser Wunsch wird schnell verfliegen. Nach dem Brexit werden die Briten Tricks ersinnen, wie sie im Binnenmarkt bleiben können, ohne dass es so heißt.
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