Die Dämonen der Desinformation haben die Familie im Griff

Illustration: Eléonore Roedel

Coronamythen und Beziehung:Liebe in Zeiten der Desinformation

Ein Mann hat in der Pandemie seine Frau an die Verschwörungsszene verloren. Was macht das mit der Liebe?

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27.3.2022, 16:26  Uhr

Simon* sieht müde aus. Zugleich wirkt er aufgekratzt, fahrig, zerstreut. Er sitzt in einem kahlen Raum mit hohen Decken. Es zieht, die Luft ist kühl. Es ist Ende Februar 2021, die 7-Tage-Inzidenz in Hessen liegt bei 57,3, aber Simon hat einem persönlichen Treffen in den Räumlichkeiten seines Arbeitgebers trotzdem zugestimmt. Weil es ihm nicht gut geht, weil er weiß, dass er mit seinem Pro­blem nicht alleine ist, und weil er anderen Betroffenen gerne helfen würde, wie er sagt.

Die anderen Betroffenen sind wie er kaum gesehene Opfer der Pandemie. Menschen, die in keiner Statistik auftauchen. Menschen, die enge Angehörige nicht an das Coronavirus verloren haben, sondern an ein soziales Phänomen, das man als gesellschaftlichen Kollateralschaden der Krise betrachten kann: den Glauben an Verschwörungserzählungen.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo.

Im Fall von Simon ist es seine Frau, die ihre gemeinsame Wirklichkeit verließ und in die Welt der Ver­schwö­rungs­ideo­lo­g:in­nen eintrat. Weil er an der Beziehung festhält und sie nicht gefährden will, hat er darum gebeten, sie nicht zu befragen. Sie soll nicht erfahren, dass er mit einer Journalistin spricht. Es kann deshalb nur seine Per­spek­ti­ve abgebildet werden. Um die Ano­ny­mi­tät des Paares zu wahren, ist sein Name in diesem Text geändert.

Als Simon im Februar 2021 der taz zum ersten Mal die Geschichte von sich und seiner Frau erzählt, sind sie seit sechs Jahren ein Paar. Mit Ende 20 lernten sie sich über eine Partnerbörse kennen. Heute sind sie Mitte 30 und leben in einem Einfamilienhaus in einer mittelgroßen Stadt in Hessen. Simon hat eine Tochter aus erster Ehe, im Mai 2019 bekamen seine Partnerin und er noch ein Kind. Er arbeitet im sozialen Bereich mit Jugendlichen, sie ist Erzieherin für kleinere Kinder.

Wenn Simon von seiner Frau spricht, ist da kein Groll. Immer wieder betont er, wie sehr ihm an der Beziehung zu ihr und ihrer kleinen Familie gelegen ist. Aber ein Gefühl ist ihm bei dem ersten Treffen deutlich anzumerken: Verzweiflung.

Damit ist Simon nicht allein. Seit Beginn der Pandemie ist die Zahl der Anfragen bei den Beratungsstellen enorm gestiegen, wie der taz von vier angefragten Stellen bestätigt wird, darunter eine evangelische, zwei staatliche und eine gemeinnützige Organisation. Laut der staatlichen Sekten-Info NRW stellten im ersten Pandemiejahr 2020 viermal so viele Menschen eine Anfrage zum Thema Verschwörungsglauben als davor, Stand Februar 2021. Die Sekten-Info Berlin gab an, bei ihnen habe sich die Zahl sogar versechsfacht, von sechs Anfragen 2019 zu 40 im Jahr 2020.

Auch Oliver Koch bekommt seit der Coronakrise mehr solcher Anrufe. Er ist Pfarrer und Referent für Weltanschauungsfragen der evangelischen Kirche. Der taz erzählt er, zu Beginn seien es noch vermehrt Neugierige gewesen, die im Netz auf Verschwörungserzählungen gestoßen sind und von den Be­ra­te­r:in­nen wissen wollten, was es damit auf sich hat.

Doch mit der Zeit meldeten sich immer mehr Angehörige, die sich nicht mehr zu helfen wussten. Weil jede Unterhaltung im Streit über Wahrheit und Unwahrheit endet, weil die Nähe zur geliebten Person mit jeder neuen Coronamaßnahme abnimmt. Simon ist einer dieser Angehörigen, die Pfarrer Koch kontaktierten.

Wenn Simon von seiner Frau spricht, ist da kein Groll. Dafür jede Menge Verzweiflung

Eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung von 2021 hält fest, dass 5 Prozent der Bevölkerung in Deutschland der Aussage: „Das Coronavirus ist nur ein Vorwand, um Menschen zu unterdrücken“, komplett zustimmen, 9 Prozent halten sie für „wahrscheinlich wahr“. Das entspricht zusammengenommen etwa 11,2 Millionen Menschen. Nur ein Bruchteil von ihnen nimmt Hilfe in Anspruch. Das könnte zum einen daran liegen, dass es bundesweit mit rund 40 kirchlichen und staatlichen Hilfsangeboten in Relation zur Zahl der Betroffenen nicht viele von ihnen gibt. Zum anderen haben betroffene Verschwörungsgläubige selbst meist kein Problembewusstsein, und ihre Angehörigen wiederum befürchten, ein Hilferuf könne die Beziehung weiter belasten.

Auch Simon tut sich lange schwer damit, sich jemandem anzuvertrauen. Alles beginnt an einem Tag im Jahr 2017, drei Jahre vor der Pandemie. Simon und seine Freundin sitzen im Auto auf dem Weg nach Hause. Es ist Abend, sie sprechen über das geplante gemeinsame Kind. Die Stimmung ist gut, erzählt Simon, bis es um das Thema Impfen geht.

Simon sagt, seine Tochter aus erster Ehe sei als Säugling geimpft worden, fragt seine Freundin, ob für sie etwas dagegenspreche. Sie behauptet, wenn er ihr gemeinsames Kind ebenfalls impfen lassen wolle, nehme er dessen Vergiftung in Kauf, Impfstoffe schädigten das Gehirn kleiner Kinder. Sie werden sich an diesem Abend nicht einig.

In den nächsten Tagen und Wochen kommt das Thema immer wieder auf, sie wirft ihm vor, er sei nicht informiert, und zeigt ihm eine Zeitschrift mit dem Titel Impf-Report, die sie im Internet bestellt hat. „Das ist nicht irgendwer, der das schreibt. Das ist ein Journalist, der sich auskennt“, sagt sie, wie sich Simon später erinnert.

Urheber des Impf-Reports ist laut Impressum Hans U. P. Tolzin. Der in Baden-Württemberg ansässige Autor veröffentlicht die Zeitschrift seit über zehn Jahren im nach ihm benannten Selbstverlag und betreibt neben dem Impf-Report-Magazin und der dazugehörigen Website die Seite impfkritik.de. Er bezeichnet sich selbst als „Medizin-Journalisten“, der „unabhängige Impfaufklärung“ betreibe, tatsächlich aber verbreitet er Desinformation über alle möglichen Impfungen für Mensch und Tier.

Im Editorial der 129. Ausgabe im Mai 2021 schreibt Tolzin: „Liebe Leser, eigentlich wissen wir schon eine ganze Menge über die neuen Corona-Impfstoffe: Z. B., dass es sich nicht wirklich um Impfstoffe handelt, sondern um eine völlig neuartige und ungetestete Therapieform, die in das Genom des Menschen eingreift und dass alle Geimpften Versuchskaninchen der Hersteller darstellen.“ Dass mRNA-Impfstoffe das Erbgut verändern, ist insbesondere unter Verschwörungsgläubigen eine weit verbreitete Behauptung, für die es keine wissenschaftliche Grundlage gibt.

Sie mag Netflix gucken, er Spiegel TV

Schon damals, als es darum geht, ob das zukünftige Kind geimpft werden soll, versucht Simon dagegenzuhalten, doch er fühlt sich seiner Partnerin oft unterlegen. Zu viele vermeintliche Informationen prasseln auf ihn ein, die er spontan nicht widerlegen kann. Er ist gekränkt von ihrem Vorwurf, er wolle wissentlich ihrem zukünftigen Kind schaden. Gleichzeitig sieht er in ihr eine verunsicherte Mutter in spe, die ihm leidtut. Irgendwann einigen sie sich darauf, dass das Kind im ersten Lebensjahr nicht geimpft wird, und das Thema ist erst mal „aufgeschoben“, wie Simon sagt.

Dass die Impfskepsis seiner Freundin etwas mit Verschwörungserzählungen zu tun haben könnte, sei ihm damals gar nicht in den Sinn gekommen. Dann kommt das Jahr 2020 und mit ihm die Pandemie. Sie haben inzwischen geheiratet, ihr gemeinsames Kind ist zwei Jahre alt. Zu der Impfskepsis seiner Partnerin gesellt sich Angst. Sie möchte wegen des neuen Virus nicht mehr in den Supermarkt. Simon erledigt nun alle Einkäufe allein, auch er ist verunsichert. Trotzdem hätten sie gut zusammengehalten während des ersten Lockdowns, sagt Simon.

Sie verbringen, wie die meisten Menschen in diesen Tagen, viel Zeit zu Hause. Simon in Videokonferenzen, seine Frau mit dem Kind. Abends schauen sie fern, getrennt voneinander. Sie mag Netflix, er Spiegel TV. Dort werden die ersten Dokumentationen von den zu diesem Zeitpunkt noch als Hygienedemos bezeichneten Coronaprotesten gezeigt. Simon denkt, die sind ja wie die Pegida-Leute, „irgendwelche Spinner“.

Dann sei es auch bei ihnen zu Hause losgegangen, erinnert sich Simon. Zunächst mit Kleinigkeiten. Hier mal eine Bemerkung darüber, dass Masken ja gar nichts brächten und für Kinder sogar schädlich seien, weil ihr Gehirn so zu wenig Sauerstoff bekäme, da mal ein Video von einer polizeilich gestürmten Geburtstagsparty während des Lockdowns, bei dem sie Partei für die Feiernden ergreift.

Immer öfter zeigt sie ihm nun solche Videos auf Youtube, immer unwilliger lässt sich Simon darauf ein. „Es war eh schon alles so anstrengend, ich war froh, wenn es mal nicht um Corona ging“, erzählt er, aber sie habe das Thema nicht wie er ausblenden wollen oder können. Mit wachsendem Unbehagen merkt Simon, dass sich seine Frau verändert. Aus der Unsicherheit wird Empörung, aus der Angst wird Wut. Sie sagt, „der Staat“ nutze seine Macht aus, um die Menschen zu unterdrücken. Die Beschränkungen würden nie wieder aufgehoben werden. Gleichzeitig behauptet sie, „die Politiker“ wüssten ja gar nicht, was sie da täten.

Simon fühlt sich oft unterlegen. Zu viele vermeintliche Infos prasseln auf ihn ein, die er spontan nicht widerlegen kann

Seine Frau, die sich vor der Pandemie nicht sonderlich für Politik interessiert hatte, wollte plötzlich über jede Maßnahmendebatte im Bundestag diskutieren. Simon sagt: „Allein schon an den Worten habe ich es gemerkt: ‚Der Staat‘, ‚die Politiker‘, das hatte sie so noch nie gesagt. Ich habe sie dann gefragt: Wen oder was meinst du denn damit genau?“

Simon fängt zu recherchieren an, von wem die Videos kommen, die seine Frau ihm zeigt. Er stößt auf Bodo Schiffmann und Samuel Eckert. Beide sind im ersten Pandemiesommer schnell zu Promis der Coronaleugnerszene avanciert, HNO-Arzt Schiffmann als Bühnenredner auf Coronademos, Eckert als Youtube-Streamer und Kommentator der Proteste. Simon merkt, dass seine Frau jenen „Spinnern“ Glauben schenkt, die er zuvor bei Spiegel TV belächelt hat.

Simon ist ernüchtert, in Erinnerung an diesen Moment sagt er: „Ich hätte nie gedacht, dass meine Frau – ich sage es mal, wie es sich damals für mich angefühlt hat – so dumm ist, auf diese Leute reinzufallen. Und so waren unsere ersten Gespräche dann auch, und das war natürlich ein Problem.“

Denn noch etwas verändert sich: Simon und seine Frau streiten – immer öfter, immer hitziger. Zu Beginn ist Simon noch derjenige, der sich unterlegen fühlt, der wieder mal nicht hinterherkommt mit der Recherche, um ihrer Desinformationswut Fakten entgegenzusetzen. Als Simon aber merkt, dass selbst Fakten nichts nützen, wird auch er wütend: „Irgendwann habe ich gesagt, ich bin derjenige, der weiß, wie es richtig ist. Und du bist die, die da unten ist, die darauf reinfällt. Und da fühlte sie sich natürlich in die Enge getrieben.“ Das Paar verliert die Augenhöhe und mit ihr das Gleichgewicht.

Mann, Frau und Kind, fragmentiert und gefesselt im Schwurbel

Illustration: Eléonore Roedel

Wenn Simon von dieser Zeit erzählt, flüchtet sein Blick oft nach unten, auf die Hände, auf die Tischplatte. Er wirkt beschämt.

Scham ist es auch, die Simon wochenlang davon abhält, sich jemandem anzuvertrauen. „In gewisser Weise war es mir peinlich, dass meine Frau diese Dinge glaubt. Aber ich habe gemerkt, dass ich mit jemandem darüber reden muss, weil ich selber nicht mehr klarkomme“, sagt er. Gemeinsame Freun­d:in­nen kommen nicht infrage, er möchte nicht, dass sie stigmatisiert wird.

Irgendwann offenbart Simon sich einer vertrauten Kollegin, mit der er seit Jahren eng zusammenarbeitet. Doch sie geht nicht auf ihn ein, springt schnell weiter zu einem anderen Thema. Das Gespräch zieht ihn runter, er fühlt sich isoliert, allein mit einem Problem, das er nicht einmal richtig benennen kann.

Simon fängt an zu googeln. Er stößt auf die Seite der gemeinnützigen Initiative „Goldener Aluhut“, dort und auf anderen Seiten findet er Tipps, wie man mit verschwörungsgläubigen Personen am besten kommuniziert:

Nicht auf Nebenschauplätze leiten lassen, sondern beim Thema bleiben. Denn viele Ver­schwö­rungs­ideo­lo­g:in­nen bedienten sich – meist unbewusst – des sogenannten Gish-Galopps. Bei dieser Debattiermethode wird das Gegenüber mit einer Flut von Falschaussagen, Halbwahrheiten und Fragen in einem ständigen Erklärungszwang gehalten. So bekommt es keine Gelegenheit dazu, die vorgebrachten Argumente einzeln zu entkräften. Zusammen recherchieren. Hinterfragen, welche Rolle die persönliche Vergangenheit und Biografie im Zusammenhang mit dem Verschwörungsglauben spielt.

Simon erklärt sich das im Fall seiner Frau so: Allgemein fühle sie sich eher unsicher. Als Kind sei sie Opfer von sexualisierter Gewalt geworden, der Täter ein Mitglied der Familie. In ihrer Verunsicherung suche sie nach einfachen Antworten auf komplexe Fragen, die ihr das bisschen Grundsicherheit zurückgeben, das sie in der Pandemie verloren hat. Sie findet Trost in der Verschwörungsszene, weil diese so klar benennt, wer die vermeintlichen Schuldigen sind. Schuldige, gegen die sie ihre Wut und Verzweiflung richten könne.

Eine Wirklichkeit auszuhalten, die für manches keine eindeutigen Verantwortlichen bereithält, die in ihrer Komplexität Widersprüche hervorbringt, fällt Verschwörungsgläubigen schwer. Ambiguitätsintoleranz nennt die Psychologie dieses Phänomen.

In zwei Studien von 2021 haben Psy­cho­lo­g:in­nen der Universität Osnabrück und der Fernuniversität Hagen untersucht, ob Betroffenen ihr Glaube an Verschwörungsmythen tatsächlich dabei hilft, sich besser zu fühlen, Ängste zu reduzieren oder Ungewissheit besser auszuhalten. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Negative Empfindungen wie Ängste oder Unsicherheit würden kurzfristig sogar verstärkt.

Simon fühlt sich nach seiner Internetrecherche bald selbst wie verheddert in einem Gewirr aus Widersprüchen. Einerseits wird ihm empfohlen, die Diskussion mit seiner Partnerin abzubrechen, wenn sie sich zu einem Streit entwickelt.

An anderer Stelle liest er wiederum: „Denken Sie daran, dass Sie möglicherweise der einzige Mensch sind, dem die Person vertraut. Seien Sie froh, dass Sie mit Ihnen redet. Halten Sie die Gespräche am Laufen. Blocken Sie sie nicht ab.“ Aber auch: „Achten Sie auf sich selbst. Werden Sie nicht laut, werden Sie nicht hitzig.“ – „Was ich dann aber geworden bin, als es in Richtung Holocaustverharmlosung ging“, sagt Simon.

Als seine Frau die Gegenwart „schlimmer als zur Nazizeit“ nennt, ist für ihn eine Schwelle überschritten. Er resigniert, zieht sich zurück. Die gemeinsamen Aktivitäten werden weniger, er schaut viel fern, „um abzuschalten“, wie er sagt. Auch auf der Arbeit habe er „nichts mehr hingekriegt“. „Über allem lag so eine Traurigkeit. Ich bin ein depressiver Mensch geworden und habe alles buchstäblich in mich reingefressen.“

Simon nimmt elf Kilo zu, fühlt sich antriebslos, ohnmächtig. Als er von dieser Zeit erzählt, sackt er ein Stück in sich zusammen. „Mir liegt so viel an dieser Frau, aber sie ist wie gefangen in dieser Gedankenwelt, und ich weiß nicht, wie ich sie dort rausholen kann.“ Als hätte etwas Macht von ihr ergriffen. Er meine das nicht diabolisch, spirituell oder krankhaft, aber irgendwas halte sie fest. „Dort“ meint den Ort, an dem er nicht ist. Einen Ort, an dem der einst geteilte „Glaube an das Positive im Menschen“ keinen Platz zu haben scheint.

Irgendwann im Juni 2020 rafft sich Simon dazu auf, nochmals nach Hilfe zu suchen. Die Tipps im Netz hatten nur teilweise geholfen, dank ihnen hatte er sich kurz nicht mehr so alleine damit gefühlt, aber sie kratzten doch nur an der Oberfläche. Und: Sie seien zu wenig auf die Probleme in Paarbeziehungen zugeschnitten. „Im Internet liest man von Tanten, dem Opa oder Freunden, aber sorry, das ist nicht dasselbe wie in einer Ehe. Wir leben zusammen, wir haben ein Kind, wir verbringen viel Zeit miteinander.“

Simon durchforstet das Internet nach Beratungsstellen und findet auf den Seiten der evangelischen Landeskirchen in Hessen den Pfarrer und Referenten für Weltanschauungsfragen Oliver Koch. Weil der aber all die Anfragen schon nicht mehr bewältigen kann, vermittelt er Simon an einen Arzt, dessen Frau Impfungen ebenfalls ablehnt, erzählt Simon.

Sie verabreden sich zum Telefonat. Heimlich, von Simons Büro aus, ruft er den Arzt an, damit seine Frau nichts davon erfährt. Der Betroffene rät ihm: „Überlegen Sie sich, ob Sie es ihr sagen wollen. Und dann sagen Sie es vielleicht so: ‚Es geht hier nicht um dich, sondern um mich. Ich hole mir Hilfe, weil ich mit der Situation nicht klarkomme.‘ “ So spiele er mit offenen Karten und signalisiere ihr, dass das Problem nicht ausschließlich bei ihr liege. Und dass er aktiv nach einer Lösung suche, für beide. Simon entscheidet sich dagegen, zu groß ist die Angst vor einem Konflikt.

Einen Strich drunter ziehen

Fünf, sechs Mal noch telefonieren sie wöchentlich für eine Stunde. Der Arzt gibt ihm noch einen Rat: Wenn seine Frau wieder eine Behauptung aufstelle, die in Simons Augen ein Bauteil eines Verschwörungskonstrukts sei, solle er sich Zettel und Stift nehmen und seine Frau darum bitten, ihm in Ruhe zu erklären, wie sie zu ihrer Ansicht komme. Simon solle ihr nur zuhören und alles mitschreiben. „Am Ende sollte ich sie fragen: War das alles? Und einen Strich drunter ziehen. Er meinte: ‚Sie werden merken, das wird Ihnen und Ihrer Frau richtig guttun‘“, erinnert sich Simon.

Und plötzlich schimmert ein bisschen Hoffnung durch, als er mit lauterer Stimme anfügt: „Und das war wirklich so! Sie hat geredet. Und ich habe fast zweieinhalb Seiten vollgeschrieben. Ich habe weder zugestimmt noch widersprochen, sondern ihr einfach zugehört. Sie fand das sehr positiv.“ Später habe er die Stichpunkte mit dem Arzt besprochen und selbst noch mal nachrecherchiert. Im nächsten Gespräch hätten er und seine Frau so wieder auf die Sachebene gefunden, wieder gemeinsamen Boden unter den Füßen gespürt.

Eine Weile reden sie nicht mehr über Corona, über das Impfen. „Das tat gut. Natürlich ist da dann dieser Elefant im Raum und keiner spricht ihn an, weil sie ja trotzdem noch regelmäßig auf ihrem Handy Videos schaut, aber wir fühlten uns einander wieder näher“, sagt Simon.

Im Herbst 2020 kommt das Impf­thema wieder auf. Ihr Kind, ein Jahr und drei Monate alt, soll ab Januar in die Kita. Aber es ist nicht gegen Masern geimpft, und eine Masernimpfung ist seit dem 1. März für den Besuch von Kindergärten und Schulen Pflicht. Simon und seine Frau streiten, sie droht damit auszuziehen, er fühlt sich erpresst. Sie machen einen Termin bei der Eheberatung und einigen sich darauf, dass das Kind bis zu seinem dritten Geburtstag zu Hause bleibt und sie zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr eine Lösung für das Impfproblem finden. Wieder aufgeschoben, um den Frieden zu wahren.

Simon sagt: „Wahrscheinlich wird es noch lange dauern, bis wir normal über das Thema reden können. Aber das wäre mein großer Traum – dass es ein Danach gibt.“ Er hoffe darauf, dass das Thema und all die Verschwörungserzählungen drumherum irgendwann durch ein anderes Thema ersetzt würden, durch einen neuen Lebenszusammenhang, durch Dinge, die dann wieder wichtiger wären.

Es ist die Zeit, in der auch die Zulassung des Corona-Impfstoffs kurz bevorsteht. In der Verschwörungsszene geht bereits die Angst vor einer allgemeinen Impfpflicht um. Simons Frau macht sich Gedanken darüber, wie sie dann noch Geld verdienen kann: Mit einem Putzjob oder privater Kinderbetreuung bei ungeimpften Familien? Ende November fällt Simons Frau eine Entscheidung für sich, die Simon überrascht – und hoffen lässt. Sie sagt, sie möchte sich ein zweites Handy zulegen, um Telegram und Youtube darauf auslagern zu können. Damit die Welten nicht mehr so miteinander verschwimmen, damit sie wieder mehr Kontrolle darüber bekommt, wann sie was in den sozialen Medien konsumiert.

Eine Figur umgeben von Telefonhörern und einem Telefon als Kopf

Illustration: Eléonore Roedel

„Das war so einer der Momente, wo ich vorsichtig optimistisch geworden bin“, sagt Simon. Zu Weihnachten wünscht sie sich ein Gerät, mit dem man mithilfe von Licht eine angebliche Strahlung aus dem Wasser filtern kann. Es kostet 50 Euro im Onlineversand, Simon glaubt nicht an seine Wirkung, zähneknirschend bestellt er es trotzdem für sie.

So richten sie es sich ein in der neuen Normalität ihrer Beziehung, geprägt von Höhen und Tiefen, größeren und kleineren Konflikten. Trotzdem bleibt sie da, die Hoffnung auf das „Danach“, und so nimmt Simon noch einmal Anlauf und sucht sich im Frühjahr 2021 Hilfe, diesmal bei einem „Coach für Beziehungsfragen“, diesmal nicht mehr heimlich. In den ersten Monaten hat er alle zwei Wochen einen Termin, dann alle drei bis vier Wochen. Er lerne dort, „gelassener“ zu sein. „Wenn ich immer alles so schlimm finde, dann ist auch alles schlimm“, wird zu einem Satz, den er sich immer wieder in Erinnerung ruft.

So erzählt er es bei einem Telefonat im Herbst 2021. Und es scheint zu helfen. Als die Corona-Impfung für ihre Altersgruppe naht und Simon sagt, er wolle sich impfen lassen, findet sie das nicht gut. Aber er schafft es, das Thema kleinzuhalten, „es nicht größer zu machen, als es ist“. Als sie in den Urlaub nach Süddeutschland fahren, überzeugt er sie, sich ausnahmsweise in einem Testzentrum testen zu lassen, wegen der 3G-Regel, damit sie in das Hotel einchecken können. Auch zum Tragen einer FFP2-Maske – zuvor für sie „undenkbar“ – kann er sie bewegen, denn die ist mittlerweile Pflicht. Der Familienurlaub ist gerettet.

Dann ist der Impfstoff da und mit ihm der Stoff für neue Konflikte. Simons Frau bringt das Kind zum Kinderturnen. Auf einmal fragt die Leiterin ab, wer geimpft, genesen oder getestet ist, mit einer Liste steht sie vor den Eltern und hakt ab. Simons Frau fühlt sich von den anderen Eltern beobachtet und von der Leiterin bloßgestellt. Aufgewühlt kommt sie nach Hause und erzählt ihrem Mann davon.

Simon, Ehepartner

„Ich habe gemerkt, dass so etwas besser tut, als immer wieder Druck zu machen, sie auflaufen zu lassen oder zurückzuweisen“

Simon hält kurz inne, atmet durch, dann setzt er sich mit ihr hin und sie formulieren gemeinsam einen Text, den sie der Turngruppenleiterin schicken wollen, mit der Bitte, in Zukunft einen anderen, nichtöffentlichen Weg für die Anwendung der 3G-Regel zu finden. „Ich habe gemerkt, dass so etwas unserer Beziehung besser tut, als immer wieder Druck zu machen, sie auflaufen zu lassen oder zurückzuweisen – auch wenn ich mir manches anders wünschen würde oder eigentlich nicht in Ordnung finde.“

Auch das Masernthema kommt wieder auf. Das Kind hatte seinen zweiten Geburtstag, laut ihrer Verabredung haben sie nun ein Jahr Zeit, sich auf etwas zu einigen. Simon wird ungeduldig, er findet, sein Kind solle mehr Kontakt zu gleichaltrigen Kindern haben, mit anderen spielen lernen, Freun­d:in­nen finden.

In einer Beziehung gehört es dazu, auch abseitige Interessen, Eigenarten, Marotten des anderen zu akzeptieren. Aber wo verlaufen die Grenzen, wenn davon die Gesundheit des eigenen Kindes berührt wird?

Simons Frau recherchiert und findet heraus, dass man in der Schweiz die Masernimpfung als Einzelimpfstoff spritzt, nicht wie in Deutschland in Kombination mit Impfstoffen gegen Mumps und Röteln. Die MMR-Kombi-Impfung ist in der impfkritischen Szene besonders verschrien. Denn die Studie eines britischen Arztes, an der zwölf Kinder teilgenommen haben, belege, dass die Impfung Autismus auslösen könne. Spätere Studien mit Tausenden von Kindern konnten hingegen keinen Zusammenhang feststellen. Simons Frau möchte trotzdem lieber eine Einzeldosis des Impfstoffs importieren lassen. Für Simon ist das ein guter Kompromiss.

Als Simon sich gegen Covid-19 impfen lässt, möchte sie ihn zwei Wochen lang nicht küssen und einen Monat keinen Sex ohne Kondom haben, obwohl er sterilisiert ist. Zu groß ist die Angst davor, dass über den Austausch von Körperflüssigkeiten etwas von dem Impfstoff in ihren Körper gelangen könnte. Simon macht es traurig, dass der neue Glaube seiner Frau bis in die intimsten Sphären der Beziehung dringt. Aber das mit dem Küssen hält sie selber nicht durch, sie brechen das Tabu, sie lachen darüber.

Als Simon im Oktober 2021 am Telefon davon erzählt, klingt er beinahe fröhlich, aufgeräumter als noch im Februar, als er oft zwischen den Themen hin und her gesprungen ist, sich in Sätzen verhedderte, zerstreut wirkte. Da ist wieder mehr Leichtigkeit, sagt er.

Den Winter über, als vielerorts die 2G-Regel gilt, bittet Simons Frau ihn, das Kind nun zum Turnen und zur Musikschule zu begleiten. Simon übernimmt. Das zweite Coronaweihnachten fährt Simon allein mit dem Kind zu seinen Eltern, um sie nicht zu gefährden. Auch das ein Vorschlag von ihr. Simon gewöhnt sich daran, dass Pläne platzen können. Nicht mehr wegen hoher Inzidenzen, sondern weil seine Frau nicht geimpft ist.

Für das Frühjahr buchen sie einen Urlaub am Meer, in der Gewissheit, dass sie nicht fahren können, wenn bis dahin noch immer 2G gilt. Simon und seine Frau üben sich in einem „unaufgeregten Umgang“ – „wir gehen die Herausforderungen an, wenn sie wirklich da sind“, sagt Simon.

So halten sie es auch mit der allgemeinen Impflicht, über die in der ersten Aprilwoche im Bundestag abgestimmt werden soll. Im Mai wird das Kind drei und soll mit dem importierten Einzelimpfstoff gegen Masern geimpft werden und dann in die Kita gehen. Geplant ist, dass Simons Frau wieder halbtags arbeitet, als Erzieherin, ungeimpft. So sie denn die Mehrheit des Bundestags auf ihrer Seite hat.

Das Paar hält aneinander fest und wird doch immer wieder getrennt: vom Glauben an zwei Wirklichkeiten. Auch wenn seine Frau längst nicht mehr so viel auf Telegram und Youtube unterwegs sei wie noch vor einem Jahr, kämen immer wieder „Sachen hoch“, sagt Simon. Als der Krieg in der Ukraine ausbrach, habe sie die Angst vor einem Atomkrieg, der in den einschlägigen Gruppen und Kanälen besonders geschürt wird, dazu getrieben, Jod­tabletten zu kaufen und Wasservorräte anzulegen. Da habe er gemerkt, dass sie noch immer „von der einseitigen Richtung geprägt“ sei.

Aber der Beziehungscoach habe ihm etwas Wichtiges mit auf den Weg gegeben: „Sie werden das Thema nicht mehr los, also müssen Sie es akzeptieren oder loslassen“ – die Hoffnung auf das „Danach“ loslassen, auf ein Leben ohne Verschwörungsglauben. Simon sagt: „Ich weiß, dass ich Opfer bringen muss. Aber wir schaffen das schon.“

* Simons Name ist zum Schutz des Paares geändert worden. Er ist der Redaktion bekannt.

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