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Corona-Stellungnahme der LeopoldinaSchweigen ist Gold

Die Leopoldina veröffentlicht ein viel diskutiertes Papier. Darin finden sich viele bekannte Überlegungen – und einige, nicht zufällige, Leerstellen.

Der Chef der Leopoldina, Gerald Haug (M.), bei seiner Inauguration im Februar Foto: Sebastian Willnow/dpa

Wir alle kennen ihn: Diesen einen Typen, den es in jeder Konferenz gibt und der sich am Ende meldet, wenn schon alles gesagt ist. Aber eben noch nicht von ihm. Dieser Typ, der dann alles das noch einmal von vorne referiert. Diesen Typen gibt es offenbar auch als Akademie – und er heißt Leopoldina.

Seit Wochen reden Politik, Wissenschaft, Medien und Zivilgesellschaft über die Coronakrise. Und den allermeisten ist klar: Jetzt geht es nicht ohne Eingriffe in die Grundrechte. Aber: Diese müssen verhältnismäßig sein und dürfen keinen Tag länger andauern als unbedingt nötig.

Nun hat die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina eine „Ad-hoc-Stellungnahme“ veröffentlicht. Und was steht drin? Grob zusammengefasst: Jetzt geht es nicht ohne Eingriffe in die Grundrechte. Aber: Sie müssen verhältnismäßig sein und dürfen keinen Tag länger andauern als unbedingt nötig. Schrittweise müsse der normale Alltag zurückkehren. Sofern möglich. Wenn die Infektionsraten niedrig genug sind, was auch immer niedrig genug genau heißt.

Die Krise treffe die ganze Gesellschaft, schreiben die Autor*innen. Von „Solidarität“ ist immer wieder die Rede. Deswegen sei es wichtig, „vielfältige Perspektiven in die Abwägungsprozesse“ einzubeziehen. Schade nur, dass die Leopoldina selbst das nicht tut. Unter den 26 Autor*innen sind 24 Männer. Es gibt dort mehr Thomase und Jürgens (jeweils drei) als Frauen (zwei). Keine*r der Expert*innen ist unter 50 Jahren alt. Es ist gerade mal eine Person of Color dabei. Die Liste ließe sich fortsetzen.

„Systemrelevante“ kommen nicht vor

Dass die Krise manche Gruppen härter trifft als andere, das haben die Forscher*innen verstanden. Und so schreiben sie, dass etwa die Last der wegfallenden Kitas und Schulen mehrheitlich von Frauen geschultert wird und dass eine Zunahme häuslicher Gewalt drohe. Auch gebe es für psychische Belastung besonders anfällige Risikogruppen. Dann aber begnügen sie sich mit einer Aufzählung: „Alleinerziehende, Migrantinnen und Migranten ohne Sprachkenntnisse, allein lebende Ältere, psychisch Erkrankte, Pflegefälle und Arbeitslose“.

Was genau man tun könnte, um diesen Menschen zu helfen? Hm. Keine Überlegungen auch dazu, dass es vielleicht keine gute Idee ist, Geflüchtete in Sammelunterkünften zu Hunderten unter Quarantäne zu stellen – in Ellwangen haben sich auf diese Weise jüngst fast 250 Menschen angesteckt. Auch zu denen, die seit Neuestem als „systemrelevant“ bezeichnet werden: kein Wort.

Nichts steht in der Leopoldina-Stellungnahme zu Arbeitsbedingungen und Entlohnung von Kassierer*innen, Erntehelfer*innen oder Pflegekräften. Zum Zustand des Gesundheitswesens heißt es lediglich, hier müssten künftig zusätzliche Mittel fließen. Nicht nachgedacht wird hingegen über die Frage, ob es nicht höchste Zeit wäre, Gesundheitswesen und Profitorientierung strikt zu trennen.

Mit klassischen Hierarchien an die Wand gefahren

Von 1992 bis 2017 ist in Deutschland der Anteil der Krankenhäuser in privat­wirtschaftlicher Trägerschaft von 15,5 auf 37,1 Prozent gestiegen. Träger, die etwa den Bund kritisieren, weil dieser Personaluntergrenzen in der Pflege einführen will. Stattdessen soll der Staat sich laut Leopoldina so bald es geht aus allen Unternehmen herausziehen, die er gerade krisenbedingt unterstützt. Ach so, und Steuererleichterungen, schwarze Null und Soli-Abschaffung wären auch gute Ideen.

Die Coronakrise hat deutlich wie selten gezeigt, wie sehr wir mit unseren klassischen gesellschaftlichen Hierarchien an die Wand gefahren sind. Doch die, die „systemrelevant“ sind, kommen in dem Papier nicht vor – genauso wenig wie ihre Perspektiven und Bedürfnisse.

Viel ist gerade die Rede davon, dass unsere Gesellschaft am Ende dieser Krise eine bessere sein könnte, eine solidarischere. Wenn das aber Wirklichkeit werden soll, und zwar umfassend und nicht nur für wenige, dann müssen wir endlich anfangen, diejenigen Stimmen zu hören, die wir sonst gerne überhören – obwohl sie nicht nur Teil dieser Gesellschaft und ihres Wohlstands sind, sondern oftmals ihr Fundament.

Doch dafür müssten wir aufhören, aus Gewohnheit immer weiter die zu fragen, die wir sowieso immer fragen. Und die Dauergefragten müssten aufhören, aus Gewohnheit immer Antworten zu geben – selbst, wenn sie schlicht nichts Substanzielles beizutragen haben.

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9 Kommentare

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  • Die bittere Erkenntnis aus dieser Krise ist aber leider auch, daß trotz aller Kritik unser teilprivatisiertes Gesun dheitssystem viel besser mit der Situation zurechtkommt, als staatliche , halb sozialistische Systeme wie in China oder Italien.



    Also verpufft die Kritik doch im internationalen Vergleich.



    Ein Problem ist vielleicht eher die Mischung aus Preismonopol und Kassenfinanzierung, was zu überhöhten Kosten in einigen Sparten führt (Zahnmedizin, Pharma, Apotheke) bei gleichzeitigem Dumping mancher Löhne (Pflegebereich, Landärzte).

    • @Jens Jesse:

      halb sozialistische Systeme wie in Italien: so ein Unsinn, da hat man ja gerade mit Hilfe der Schwarzen Null (die im Rollstuhl) die ehemals sozialistischen System geschliffen und privatisiert genau darin liegt doch besonders in Italien das Problem, sogar die fehlenden Intensivbetten wurden genau wegen dieser neoliberalen Forderungen a la Leopoldina abgebaut

  • Super Kommentar!



    Ich fasse zusammen: wir brauchen ungefähr 50% farbige junge Frauen in der Leopoldina, dann steigt die Kompetenz von selbst.



    Guter Ansatz, sofort umsetzen!

  • Es ist ohne hin erstaunlich wie unterschiedlich unsere Politik die Rettung von Menschenleben betrachtet.



    Ich denke da nur an das fehlende Tempolimit und das verkorkste Transplantationsgesetz.



    Beide kosten Jahr für Jahr etliche Menschenleben - die man aus politischem Kalkül in Kauf nimmt.

    Das "Corona"-Risiko ist unzweifelhaft deutlich höhrer - aber gibt es bei Menschenleben eine Toleranzschwelle ?

  • Kann sich jemand hier vielleicht vorstellen, dass es die Rolle dieses Gremiums eben technisch beratend ist?



    D.h., dass die angeführten politischen Fragen im Prozess garnicht angesprochen werden sollen?



    Es ist halt nicht als Partei und schon gar nicht politischer als Ratgeber positioniert.

  • Das ist jetzt aber schon die dritte Stellungnahme der Leopoldina.

  • Diese Kritik an dem Papier ist mehr als berechtigt. Danke dafür, Frau Riese.

    Ich bin wahrscheinlich nicht der Einzige, der von diesem eingetragenen Verein vor diesem Papier noch nie gehört hat. Plötzlich wurde Leopoldina über den grünen Klee gelobt als die Mutter aller NaturwissenschaftlerInnen. Aber selbst als die Klimakrise aus der öffentlichen Diskussion nicht mehr weg zu denken war, tauchte nach meiner Wahrnehmung nie der Name dieses Vereins auf.

    Das Papier zum behutsamen Ausstieg aus den Kontaktrestriktionen hätte auch jeder gut informierte Mensch formulieren können plus hilfreicher Ausführungen über die Menschen in den Berufen, die wirklich wichtig sind.

    • @Rolf B.:

      Jetzt gibt es scheinbar ein Überbietungswettbewerb bezüglich Verriss von dem Papier. Erst der Kaube von der FAZ und jetzt die TAZ. Habt ihr jeweils den ganzen Text gelessen oder das wir ihr lesen wollt. Mein Kommentar und da ziehe ich mehr Punkte raus. Der Mensch und die Gesundheit stehen im Vordergrund: "Der Schutz jedes einzelnen Menschen und die Ermöglichung eines menschenwürdigen Lebens stehen im Mittelpunkt allen staatlichen Handelns." Weiter: Maßnahmen müssen dann überzeugend dargestellt werden und nicht mit Strafe bedroht werden (also eher gegen die ganzen Bußgeldkataloge der Länder); vor Lockerungen müssen die Testungen, das Gesundheitssystem auf Stand gebracht sein und immer wieder überprüft werden; die Datenbasis muß auf anderer Grundlage gestellt werden; die Risikogruppe soll nicht weggesperrt werden; die Nachhaltigkeit und Ökologie soll beachtet werden. Zitat:" Alle politischen Maßnahmen, die nicht der unmittelbaren Rettung von Unternehmen dienen, müssen sich auf nationaler wie internationaler Ebene an dem Prinzip der Nachhaltigkeit orientieren. Daher müssen die folgenden Maßnahmen, die auf einer breiten wissenschaftlichen Evidenz und einem breiten gesellschaftlichen Konsens beruhen, weiterhin mit hoher Priorität umgesetzt werden. Der Aufbau einer klimafreundlichen Wirtschaft und eine konsequente Mobilitäts- und Landwirtschaftswende setzen wesentliche Impulse für Innovation und Wachstum. Dazu gehören die umgehende Einführung eines Preises für fossiles CO2, die schnellstmögliche Verabschiedung und Umsetzung der nationalen Wasserstoffstrategie sowie die Neuregelung des Strommarktes. Ziel muss ein starker europäischer Green Deal“ bleiben." Das man über den Vorschlag zu den Schulen geteilter Meinung sein kann, ist doch klar. Da haben wir ja wieder 80 Mio. Experten. Und man sieht in der Stellungnahme den interdisziplinären Ansatz. Das ist auch schon mal gut. Und da bringt auch Kaube`s Schulaufsatz nicht viel dagegen. Das einer Maßnahme der anderen folgt,

    • @Rolf B.:

      Nachdem in Umfragen die Öffnung der Schulen positiv gesehen wurde, hat sich die Bundesregierung das zu Eigen gemacht. Jetzt war sie ganz froh, eine gewisse Autorität zu finden, die dasselbe gefordert hatte, so dass man sich (unter Verbiegung der Aussagen) dahinter stellen bzw. verstecken kann.