Corona-Skeptiker in sozialen Netzwerken: Die Stunde der Hobbychecker
Viele Leute in den sozialen Netzwerken sind besser informiert als die Experten. Was sind das auch für Experten, die sich oft nicht sicher sind?
C orona macht es möglich. Auf einmal richten sie Radspuren auf dem Kottbusser Damm ein, einem der besten Jagdreviere der Stadt mit ganzjährig unlimitierter Hatz auf vogelfreie Radler. Eine Schonzeit gab es nicht, die Polizei feixte, die Verkehrsbehörde winkte gähnend ab, und jeden Abend hupten die Autofahrer vor der erlegten Strecke stolz ihr Halali.
Und nun das. Ich kann es nicht glauben. Ausgerechnet der Kottbusser Damm, die Todesfalle, die Hölle von Neukölln. Mit Tränen der Rührung in den Augen stehe ich vor den frisch gemalten gelben Linien und den Warnbaken, die sicher bald gestohlen und zerstört, umgefahren oder wieder abgebaut werden. Doch der gute Wille zählt. Danke, Berlin; danke, Bezirksamt! Danke, du liebes gutes Virus – dort tötest du zwar, doch hier schenkst du Leben.
„Radaktivisten überreichten den Arbeitern Blumen“, steht in der Zeitung, und sofort schiebt sich mir ein Schwarz-Weiß-Bild vors innere Auge: wie junge Französinnen 1944 die alliierten Befreier in den Straßen mit Blumen beschenken. Jahrelang waren sie schutzlos dem Unrecht und der Willkür mordlustiger Irrer ausgesetzt. Nun hat das Gute gesiegt. Als Radfahrer weiß ich genau, wie sie sich fühlen.
Doch der Feind schläft nicht. AFDP und ADAC sind schier am Ausrasten. Man befriedige hier nur Partikularinteressen, heulen die Autofreaks hochtourig auf. Was natürlich supergemein vom Straßen- und Grünflächenamt ist, solange es sich ausnahmsweise mal nicht um die Partikularinteressen der motorisierten Killerkommandos handelt.
Denen traue ich zu, dass sie nach dem Ende der Coronakrise erneut Oberwasser kriegen und mit doppelter Grausamkeit zurückschlagen. Dann basteln sie sich wahrscheinlich wie bei „Ben Hur“ obendrein noch rotierende Messer an die Räder. Auf das große verkehrspolitische Umdenken wage ich jedenfalls noch nicht zu setzen.
Die Erbtante der Enttäuschung
Vielleicht denke ich ja zu defensiv, zu vorsichtig. Hoffnung war für mich schon immer nur die Erbtante der Enttäuschung. Entsprechend bin ich auch mehr so der Drosten-Maßnahmen-Masken-Typ und kein Streeck-Lockerungen-Laisser-faire-Jünger. Meiner Entscheidung liegt also eher mein mindset und mein Bauchgefühl zugrunde, denn zwar informiere ich mich gründlich, doch wo sich selbst die Experten unsicher sind, erscheint mir meine Kompetenz als Laie allemal begrenzt.
Wie sehr beneide ich da die vielen Leute in den sozialen Netzwerken, die offenbar sogar besser informiert sind als jene zaudernden Experten. Kein Wunder, denn was soll das bitte für ein Experte sein, der oft nicht mal sicher Bescheid weiß? Ein guter Experte muss sein wie der Weihnachtsmann: Er liefert verlässlich aus dem Nichts. Ist doch uns egal, ob die Situation völlig neu ist!
Mit schneidigen Worten analysieren die Hobbychecker hingegen glasklar die Lage, decken Lügen auf und machen deutliche Ansagen, was nun auf der Stelle zu geschehen habe.
Ihr Tonfall wird seit Monaten aggressiver. Und leider, das muss ich Drosten-Muschi zugeben, ist „meine Seite“ nicht selten vorne mit dabei. Ihr bevorzugter Kommunikationsstil ist nach meiner Beobachtung: immer öfter, immer länger und immer lauter immer dasselbe schreien.
Variiert wird bestenfalls noch der Wortlaut der integrierten Beleidigungen. Als ob man durch das permanente Gebrüll die Argumente besser verstehen und in der Folge auf ihre Meinung umschwenken würde (der ich in diesem Fall ja ohnehin schon bin).
Das ist so, als glaubte man, dass Gefangene, die man 24/7 mit grellem Licht und lauter Musik foltert, hinterher genau die Musik auch privat hörten, wobei sie sich selbst zärtlich zuflüsterten: Horch, sie spielen unser Lied.
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