Bildungskatastrophe in Deutschland: Märchenhafte Schulreform
Lehrermangel, Leistungsschwäche, Integrationsprobleme, mangelnde Digitalisierung. Es braucht komplett neue Strukturen an den Schulen.
W enn es Sie reizt, eine stabile Gruppe von 10 Kindern oder 8 Jugendlichen kontinuierlich über sechs Jahre zu begleiten, ihnen Basiskompetenzen und Mediennutzung zu vermitteln, ihre Lernerfahrungen zu organisieren, in die Bildungsprozesse das soziale Umfeld der Kinder einzubeziehen, und dabei selbst neue Erfahrungen zu machen …“ – Die Bildungsministerin ließ die Vorlage auf den Schreibtisch fallen: „Was soll denn das sein?“ Der junge Staatssekretär errötete: Ich dachte, ich denke mal voraus …“ Seine Stimme war leicht belegt.
„Ich habe das mal alles zusammengedacht: Die 60.000 Lehrer, die fehlen und die geschrumpfte Attraktivität des Berufs – selbst die Verbeamtung bringt’s ja nicht mehr. Zweitens, die Silvesterkrawalle, also die Problemviertel und Milieus. Drittens: die gesicherten Zahlen, dass ein Viertel der Viertklässler nicht richtig schreiben und rechnen kann – und beileibe nicht nur die Migrantenkinder. Und schließlich das, was uns die Fortnite-Kultur und Chat-GTP noch erwarten lässt.“
„Chat-GTP?“ Die Ministerin hob die Augenbrauen. „Muss ich jetzt auch noch wissen, was das ist?“ Der sehr junge Staatssekretär seufzte: „Ihre Kollegen in den Ländern haben auch noch nichts davon gehört. Also, das ist ein Computerprogramm, das druckreife Texte verfasst, in jeder gewünschten Länge. Noch nicht perfekt, aber Schüler und Studenten benutzen es schon für ihre Referate. In ein, zwei Jahren dürfte das Standard sein. Und niemand weiß bis jetzt, was daraus für die Kompetenzen und die Leistungsbeurteilung folgt, und ob man da überhaupt noch gegensteuern kann.“
„Und was hat das alles jetzt mit dieser … Stellenanzeige zu tun, die Sie mir hinterlegt haben?“ Der junge Staatssekretär holte tief Luft. „Ich denke, wir müssen Schule völlig neu denken. Dieses System ist nicht zu retten. Es muss zusammenbrechen, vorher passiert nichts. Mit den bestehenden Strukturen können wir weder das Integrationsproblem, noch die Leistungsschwächen, noch die fehlgeleitete Digitalisierung, noch den Lehrermangel, noch den Motivationsschwund korrigieren.
Wir müssen die Schule ganz neu denken. Und wir müssen ansetzen, wo die Probleme beginnen: bei der Erziehungsschwäche der Familien.“ Die Ministerin hob beide Hände: „Benutzen Sie das Wort bitte nie öffentlich …“ „Nicht von mir. Stand in einer Schrift des konservativen Soziologen Helmut Schelsky:,Aufgabe der Schule in der industriellen Welt'. Anfang der Fünfzigerjahre, damals war er noch Sozialdemokrat.
Kurz gefasst: Die Anforderungen des Berufslebens, der Trend zur Kleinfamilie und Alleinerziehenden, die Frauenerwerbstätigkeit, das alles stresst die Familie und erfordere eine stärkere Übernahme der Erziehung durch die Schule, weit über die Vermittlung von Wissen hinaus – und, wie wir sehen, tut das nicht nur in der Unterschicht not. Auch die basalen Eigenschaften wie Ordnung, Arbeitstugenden etc. würden nun zur Aufgabe der Schule, der enge Elternkontakt der Lehrer und regelmäßige Familienbesuche, wie auch die Kooperation mit den Betrieben.
Schelsky entwarf das Bild einer Gemeinschaftsschule, die Technik und Tradition verbindet und sozialen Zusammenhalt herstellt. Schule müsse in die Mitte der Gesellschaft geholt, zum sozialen Ort werden.“ Das war 1957. Und mehr noch: Schelsky, beileibe kein Linker, forderte damals eine Unterrichtung in den Familienfähigkeiten und „Freizeiterziehung“ als Reaktion auf die „Enthemmung des Konsumstrebens“, ja des „Konsumterrors“.
„Das klingt nicht sehr populär, eher nach asketischer Volksgemeinschaft oder Subbotnik“, warf die Ministerin ein. „Und was ist mit den Lehrern? Sollen die nun zu Sozialarbeitern werden?“ Der junge Mann hatte sich in Fahrt geredet. „Die müssen sowieso umlernen. Der pure Stoff wird in Zukunft immer stärker mit digitalen Techniken angeeignet. Vokabeln, Daten, Zahlen, Fakten.
Jetzt kommt es darauf an, diese Möglichkeiten zu nutzen, und nicht als pure Nothilfe oder Sparmaßnahmen zu verspielen, sondern um die Lehrer in die Lage zu versetzen, als Mentoren, als Führer ins Leben oder meinetwegen sogar als Vorbilder zu wirken.“ Er sah, wie die Ministerin die Augenbrauen hob. „Entschuldigen Sie die altmodischen Wörter, aber die neuen werden uns noch einfallen müssen. Vielleicht sogar ein neues für Schule.“
Die Ministerin seufzte: „Schöne Idee. Klingt nach den Siebzigerjahren, nach Ivan Illich und Hartmut von Hentig – da waren Sie noch nicht geboren. Seit Rousseau nichts Neues. Aber woraus wollen Sie Ihre Idealmentoren backen? Wenn ich an die Lehrer und die Schulen denke, die ich kenne, dann brauchten wir da eine ganz andere Auswahl, eine ganz andere Ausbildung, andere Eltern und vor allem ganz andere Schulbehörden …“
Der Staatssekretär fiel ihr ins Wort: „Entschuldigung, aber wenn alles ganz anders werden muss, und mir scheint gerade, da sind Sie ganz bei mir, dann muss man ja irgendwo anfangen.“ Die Ministerin blickte auf ihre Uhr. „Und was schlagen Sie vor?“ Die Antwort kam sofort: „Legen Sie ein Programm auf für 1.000 Versuchsschulen, die je ein paar Hunderttausend kriegen und ausreichend zusätzliche Planstellen, wenn sie überzeugend klarmachen, dass sie etwas wirklich Neues ausprobieren wollen.
lebt als freier Autor für Print und Radio in Berlin. Er ist Herausgeber von „RE: Das Kapital. Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert“ (Kunstmann, 2017).
Sorgen wir bei der Auswahl dafür, dass es kreative bis charismatische Schulleiter sind, und geben wir ihnen drei Jahre, in denen sie frei experimentieren dürfen, ihre Lehrer weiterbilden, mit den Eltern arbeiten. Und fangen wir gleich damit an, nicht erst 2024. Wir können uns Warten nicht mehr leisten.“
Die Ministerin stand auf. „Sie haben mich wieder mal plattgeredet“, lachte sie. „Okay. Schreiben Sie es auf, meinetwegen für einen Namensartikel. Mit Ihrem Namen natürlich. Und schicken Sie das an die Zeitungen. Aber bitte gleich an die Feuilletons. Weiter vorn finden wir ja nicht statt.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja