Beziehungscoach über freie Liebe: „Exklusivität macht ruppig“
Monogam oder polyamor, für immer oder für den Moment – wie funktionieren Beziehungen? Lass uns mal die Oma fragen, die freie Liebe erforscht hat.
Schon als Kind war mir klar, dass ich keine Standard-Oma habe. Freund:innen aus dem Kindergarten haben ihre Großeltern auf dem Land besucht, es gab Eisbein, und sonntags ging es in die Kirche. Meine Oma wohnte in einer Kommune. Genauer gesagt: im ZEGG in Bad Belzig, dem Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung. Sie hat mich in Cowboystiefeln vom Bahnhof abgeholt und hatte jüngere Partner. Auf dem Feld haben wir nach großen Steinen für die Schwitzhütte gesucht, dann haben sich die Erwachsenen nackt um die heißen Steine gesetzt. Oma hat Kurse über „Die Kunst, mehrere zu lieben“ gegeben oder über „Intimität und Wildheit“. Ständig standen Leute mit Beziehungsproblemen in ihrem Bungalow, die einen Rat von ihr wollten. Jetzt bin ich zu Besuch.
wochentaz: Oma, wird die Liebe überbewertet?
Jahrgang 1945, ist Künstlerin und Coach. Sie berät Einzelpersonen, Paare, Familien und Gemeinschaften zu Beziehungsfragen. Sie hat 25 Jahre im ZEGG gelebt und freie Liebe erforscht.
Rotraud Rospert: Nein, die Liebe ist sehr wichtig. Aber sie wird romantisiert!
Darin bin ich gut.
Ich weiß.
Du bist Expertin für die Liebe. Nicht nur für mich, sondern auch für all die Paare oder Ex-Paare und Singles, mit denen du in den letzten 30 Jahren gearbeitet hast.
Ich habe die Liebe in vielen Facetten kennengelernt in meinem Leben, das stimmt. Aber ich würde nicht sagen, dass ich eine Liebesexpertin bin. Vielleicht bin ich eher Expertin für die Nicht-Liebe. Für alles, wo Liebe Wunden und Spuren und Flecken hinterlässt. Ich arbeite mit Menschen, bei denen die Liebe viel Unglück verursacht.
Neulich hast du zu mir gesagt, ich sei verklemmt.
Verklemmt? Nein, das habe ich so nicht gesagt.
Doch, das hast du. Ich glaube, es ging darum, dass ich Fan von monogamen Beziehungen bin. Dabei warst du auch mal verheiratet und hast mit deinem Ehemann ein Kind bekommen. Warst du als junge Frau konservativ?
Mit 20 habe ich noch gedacht, die Liebe, das bedeutet, einen Freund zu haben, mit dem ich ganz viel teilen kann. Mit dem ich sexuell schön zusammenkomme, mit dem ich Blödsinn machen kann, auf den ich mich verlassen kann. Heute weiß ich: Das ist sehr reduziert. Damit machen wir die Liebe so klein.
Wie kam es, dass du dich von diesem Bild gelöst und die freie Liebe entdeckt hast?
Nach der Trennung von deinem Opa dachte ich, das war’s jetzt. Ich war 32 und plötzlich Single. Das hat sich sehr nach Scheitern angefühlt. Aber ich konnte es mir erlauben, Soziale Arbeit zu studieren. Deine Mutter hat viel Zeit bei ihrem Vater verbracht. Ich tauchte ab in eine Frauenwelt. Ich studierte fast nur mit Frauen, dann habe ich im Frauenhaus gearbeitet. In den 70ern und 80ern wurde viel für die Frauenrechte gekämpft. Irgendwann habe ich gemerkt: Das ist eine Sackgasse, ich habe gar keinen Kontakt mehr zu Männern. In mir ist wieder der Wunsch nach einer Beziehung entstanden. Eine Frau hat mir dann von einem Projekt in Baden-Württemberg erzählt, wo es um eine neue Gesellschaftsgestaltung ging.
Was war damit gemeint?
Es ging darum, die Ehe, so wie sie ist, zu hinterfragen. Ist es wirklich so, dass man nur einen lieben kann – und nicht mehrere? Das hat mich angesprochen und neugierig gemacht, also habe ich das Projekt besucht. Da waren lauter tolle Männer, und dann hat man eben ein bisschen rumgemacht, kreuz und quer. Es hieß ja freie Liebe. Durch diese Erfahrung, die neuen Ideen und die Offenheit war ich angeheizt. Das war wie eine Initialzündung. Danach habe ich angefangen, Männer spontan anzusprechen, wenn sie mir gefielen.
Wie hast du das gemacht?
Einmal habe ich mir zum Beispiel auf dem Weg nach Hause nach der Arbeit eine Pizza geholt. Da stand ein sehr schöner und freundlicher Pizzabäcker hinter der Theke. Also habe ich gefragt: Na, wann hast du Feierabend? Vielleicht hast du Lust noch vorbeizukommen? Da hat er geguckt. Ja, gerne, hat er gesagt. Und dann kam er später zu mir, wir haben eine schöne Nacht verbracht.
Wenn mich jemand aus dem Nichts fragen würde, ob ich mit nach Hause komme, wäre ich überfordert. Ich glaube, mir wäre das unangenehm.
Dann kannst du ja sagen: Oh, das passt gerade nicht. Aber danke für die Einladung. Man muss ja nicht alles annehmen.
Ich würde das auch nie fragen.
Das war nicht so ein Riesending, wie du jetzt denkst. Das war spontan.
So spontan bin ich, glaube ich, nicht.
Wir Menschen sind manchmal kompliziert.
Und drucksen zu sehr rum?
Ja! Wir haben im ZEGG später ganze Kurse nur zu Schüchternheit und Scham veranstaltet.
Du hast diese offene Kommunikation, die sexpositive Einstellung in diversen Projekten kennengelernt. In den 80er Jahren hast du in verschiedenen gemeinschaftlichen Wohnprojekten gelebt, mit bis zu zwanzig Menschen. Ist das so gemütlich, wie es klingt?
Viele Menschen verwechseln Gemeinschaften mit einer Familie oder mit einer Beziehung. Viele denken, das ist toll, nicht so anonym wie in der Stadt. Aber eine Gemeinschaft lebt davon, dass du mehr hineingibst, als du rausnimmst. Dadurch kann sie wachsen. Wenn die Menschen aber denken: Ach, ich werde Teil einer Gemeinschaft, da bin ich aufgehoben, da werde ich anerkannt und bekomme all das, was ich vorher von der Familie erwartet habe, dann geht es schief. Dann wird man unglücklich. Gemeinschaft ist kein Nest, in das man sich reinsetzen kann. Man muss dieses Nest bauen, weißt du. Man muss gucken, dass es sauber bleibt. Man muss sich einbringen.
Klingt anstrengend. Aber 1991 habt ihr euch sogar vergrößert. Du hast mit 80 Menschen ein großes Gelände in Brandenburg bezogen, dort habt ihr das ZEGG gegründet. Was war eure Idee?
Wir wollten eine Gesellschaft, die nicht mehr dem Kapital hinterherhechtet. Eine Gesellschaft, die sich in ihren Beziehungen von engen Vorstellungen löst. Die die Ressourcen vor Ort nutzt. Auf dem Gelände haben wir einen Garten angelegt, um uns selbst zu ernähren.
Zwei Kernthemen im ZEGG sind die Ökologie und die Liebe. Das gehört jetzt nicht unbedingt zusammen.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Klar gehört das alles zusammen! Wir müssen mit der Natur anders umgehen. Wie wir sie im Moment behandeln, ist wirklich wüst, wir zerstören sie. Da ist keine Liebe für die Natur. Wir wollten das anders machen. Das war aber nicht so sehr mein Revier. Im sozialen Bereich neue Wege zu gehen, das hat mich interessiert. Sicher wollten manche von uns die Welt revolutionieren. Daran habe ich aber nie geglaubt.
Und die Liebe?
Die wollten wir befreien. Von den ganzen Zwängen. Von der Vorstellung, dass es nur die Zweierliebe gibt, von der Romantik. Wir haben die Liebe erforscht, würde ich sagen.
Als ich noch Kind war und dich besucht habe, ist mir die sexpositive Stimmung im ZEGG aufgefallen. Manchmal war mir das unangenehm. Ich erinnere mich, wie ich am Teich gespielt habe. Plötzlich rannte eine Gruppe nackter Erwachsener, die am ganzen Körper bunt bemalt waren, johlend übers Gelände. Oder wenn die Menschen sich so übertrieben innig umarmt haben, minutenlang. Das hat mich irritiert. Meine Eltern haben Freunde nicht so viel umarmt.
Es war eine bestimmte Art von Freizügigkeit. Wir haben uns von vielen Zwängen befreit. Natürlich fühlten sich manche Gäste auch belästigt von diesen Menschen. Wahrscheinlich hatten sie gerade einen Kurs in Körperbemalung, und vor Freude, dass sie sich bemalt haben, sind sie überall rumgesprungen. Viele haben da auch ein Nachholbedürfnis, im Umarmen zum Beispiel. Das habe ich erst letztens wieder erlebt, als ich als Sterbebegleiterin im Krankenhaus war. Ich habe mich zu einem Mann ans Bett gesetzt, er hatte eine schöne weiche Hand. Also habe ich gefragt, ob ich seine Hand nehmen dürfte. Ja, hat er gesagt und sie mir gegeben. Dann habe ich sie nur gehalten. Er war sehr berührt und hat gesagt, dass ihm eine fremde Person einfach so die Hand hält, das hätte er noch nie erlebt. Da kommen wir her, aus der Nicht-Berührung. Und wenn sich die Menschen dann plötzlich wie wild umarmen, finden wir es komisch. Das geht nicht nur Kindern so, sondern auch Erwachsenen.
Du hast mit sehr vielen Menschen an ihren Beziehungen gearbeitet. Was machen die Leute falsch?
Da ist diese Wunschvorstellung, dass man jemanden sieht und denkt: Das ist er, oder das ist sie.
Also ist Liebe auf den ersten Blick Quatsch?
Nein, die gibt es. Aber das heißt ja nicht, dass sie dann ewig hält. Zur Liebe gehören Auseinandersetzung, Wut und auch der Schatten. Das wollen viele nicht wahrhaben. Manche erdrücken andere durch ihre angebliche Liebe. Sie haben eine Vorstellung davon, wie der andere sein soll, und kneten und beschneiden ihn, damit der Partner in das Bild reinpasst. In vielen Beziehungen führt auch die Ausschließlichkeit dazu, dass wir uns nicht mehr mit ausreichend Respekt begegnen. Durch Exklusivität wird man ruppig. Man denkt, man kann sich alles leisten. Man ist sich zu sicher und wird deshalb flapsig, kritisiert rum.
Und das passiert in offenen Beziehungen seltener?
Das habe ich so erlebt. Viele denken auch, sie haben ein Recht auf die andere Person. Ich habe ein Recht darauf, dass du nichts mit einer anderen Person hast. Aber was heißt das denn für den anderen?
Manche fühlen sich vielleicht eingeengt.
Ja, man beschneidet dadurch die andere Person!
Ich fühle mich in monogamen Beziehungen eigentlich nicht eingeengt. Bisher wollte ich immer nur mit dieser einen Person sein.
Da bist du bei dir, das ist gut. Ich will nur diese eine Person. Das muss man sich eingestehen, und es auch der Partnerin oder dem Partner gestehen. Viele schauen aber erst mal auf das Gegenüber: Du darfst nicht fremdgehen! Du, du, du.
Hast du mal mehrere Menschen auf einmal geliebt? Also polyamor gelebt?
Na ja, Polyamorie. Das Wort mag ich eigentlich nicht. Das klingt so oberflächlich. Ich habe den Karsten geliebt. Ich habe den Jon geliebt. Das war gleichzeitig.
Wie geht das, mehrere Menschen auf einmal lieben?
Jeder hatte seinen Platz oder hat auch etwas anderes in mir hervorgerufen. Jon hatte dieses Amerikanische, dieses Entdecken, er war so neugierig. Karsten war die Stabilität. Ich konnte immer zu ihm. Das Schöne ist, dass man so auch sich selbst besser kennenlernt. Mit jedem Menschen lernt man unterschiedliche Seiten von sich kennen. Ich habe gemerkt, was noch in mir steckt, was für Qualitäten ich habe, dass ich gerne unterwegs bin und weit reise, zum Beispiel.
Aber zerreißt einen das nicht auch ein bisschen? Ich würde gar nicht mehr wissen, was ich will. Den oder den?
Ja, das kann überfordern. Man kann sich darin verlieren, und es kann wie eine Sucht werden, zu viel Raum einnehmen. Man kann auch nicht für zu viele Menschen präsent sein, dann geht es nur noch um Konsum.
Karsten führt jetzt auch zwei Beziehungen, mit dir und mit einer anderen Frau. Wie hältst du das aus?
Wie meinst du das? Was soll ich aushalten?
Ihn mit einer anderen Frau zu teilen.
Ich kann doch gar nicht alles erfüllen, was sich ein Mensch wünscht und vorstellt. Das will ich auch gar nicht. Er hat ja noch andere Interessen, die ich nicht teile. Das kann er doch mit den anderen machen. Ich finde es schön, wenn die sich treffen, dann mache ich mir ein freies Wochenende. Ich möchte dich sehen, deine Mutter, meine Freundinnen. Dafür brauche ich auch Zeit.
Also bist du nicht eifersüchtig?
Doch, ich bin davon nicht frei. Aber wenn ich eifersüchtig werde, frage ich mich, was gerade mit mir los ist. Meistens fehlt mir dann etwas.
Du und Karsten, ihr wart mal getrennt und seid dann wieder zusammengekommen. Ist das einfach so passiert, oder kann man das beeinflussen?
Wenn die Liebe mal stockt, können wir uns auch aktiv für sie entscheiden. Manchmal muss man sich aufraffen und sehen, was da ist. Wir haben uns ja nie ganz verloren, das war auch entscheidend.
Wie geht das, dass man sich nicht verliert und überwirft?
Dazu muss man über die Verletzungen, die man sich gegenseitig zugefügt hat, sprechen. Offen sagen, wo man das Gefühl hatte, der andere hat einen im Stich gelassen. Und man muss sich fragen, was habe ich selbst dazu beigetragen? Wo war ich ganz schön fies? Wenn man sich das alles zugesteht und einander sagt, was man durch die Beziehung gelernt hat, dann sieht man Juwelen auf dem Weg. Das ist auch ein Ritual, was ich mit Menschen mache, die sich trennen wollen oder auch nicht trennen wollen.
Meinst du mit diesem Ritual diese drei Fragen, die du mir auch mal nach einer Trennung gegeben hast?
Genau. Was hat mich verletzt? Was habe ich dem anderen angetan? Und was habe ich durch ihn Positives gelernt?
Und dann soll man sich bedanken, oder?
Ja. Dann kann man auch wieder zu Freunden werden.
Irgendwann werde ich mir wieder eine Dating-App runterladen. Ist Onlinedating der Teufel, Oma?
Das glaube ich nicht. Es gibt eine Ähnlichkeit mit den großen Treffen im ZEGG: Da ist eine Gruppe von Menschen, die Erfahrungen suchen. In der Gemeinschaft bekommst du dein Verhalten aber gespiegelt. Du wirst darauf hingewiesen, wenn du nicht gut mit einer Person umgegangen bist. Dann kannst du versuchen, das wieder geradezurücken. Beim Onlinedating denken die Menschen, sie können sich einfach aus der Verantwortung stehlen, und antworten nicht mehr.
Jemanden ghosten meinst du.
Genau, ghosten. Die Leute wissen gar nicht, was sie ihrem Gegenüber antun, wenn man einfach nicht mehr anruft und kein Feedback gibt. Man hat etwas von sich gezeigt, und dann ist der andere plötzlich Luft. Hat dich schon mal jemand geghostet?
So richtig schlimm noch nicht, aber ich wurde auch schon ohne Erklärung stehen gelassen.
Das ist schmerzhaft. Wem das passiert, der denkt beim nächsten Mal vielleicht, jetzt melde ich mich auch einfach nicht mehr, das wurde auch so mit mir gemacht. Man verroht dabei. Es ist aber wichtig, dass wir uns mit Respekt und Integrität begegnen. Dass wir den anderen nicht als eine Ware betrachten, die man nimmt, begutachtet und dann wieder ins Regal stellt. Sondern mit Dankbarkeit für das Erlebnis.
Wird die Liebe im Alter einfacher?
Eigentlich schon, ja. Wenn man gemeinsam Höhen und Tiefen durchlebt, wächst das Vertrauen. Die Liebe wird tiefer. Wir können uns alles sagen.
Rotraud Rospert, 78, ist Künstlerin und Coach. Sie berät Einzelpersonen, Paare, Familien und Gemeinschaften zu Beziehungsfragen. Sie hat 25 Jahre im ZEGG gelebt und freie Liebe erforscht.
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