Illustration: Eine alte Frau liegt auf einem rosafarbenem Kissen, eine junge Frau hält ihre Hand. Es regnet

Foto: Yvonne Kuschel

Leben und Tod:Vom Anfang, vom Ende und dem Danach

Unsere Autorin begleitet ihre Mutter beim Sterben. Sie fragt sich, was wir im Umgang mit dem Tod besser machen können.

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22.1.2023, 17:40  Uhr

Das Sterben meiner Mutter fühlt sich an wie eine schwere Geburt. Es passiert etwas mit ihrem Körper, worüber sie kaum Kontrolle hat. Sie liegt in einem Bett in einem Berliner Hospiz, über ihr an der Decke ein Bild mit Wolkenhimmel. Sie ist unruhig, sie kämpft. Ständig versucht sie sich aufzusetzen, es wirkt, als würde sie von etwas auf die Matratze zurückgezogen. Sie zupft und zieht an unseren Ärmeln, zaghaft, mit letzter Kraft.

Wir versuchen herauszufinden, was sie möchte, mit Ja-Nein-Fragen, der Tumor hat ihr die Stimme genommen. Wir, ihre Kinder, sitzen neben ihr, jedes zu einer Seite, Tochter und Sohn. Einmal noch, ganz nah. Irgendwann sagt sie ihre letzten verständlichen Worte: „Schöne Scheiße.“

Das trifft ziemlich genau, was ich in den vergangenen Monaten erlebt habe. Ich habe meine Mutter beim Sterben begleitet, und weder sie noch ich waren darauf vorbereitet. Seither treibt mich die Frage um, warum es so kam und nicht anders, und ob es mit mehr Tod im Alltag nicht vielleicht – wenigstens ein kleines bisschen – einfacher wäre, einen geliebten Menschen sterben zu sehen.

Meine Mutter ist an Krebs erkrankt, eine von jährlich 500.000 Menschen in Deutschland, in deren Leben diese Diagnose wie ein Komet einschlägt. Uns erreicht der Komet am 17. Dezember 2020. Meine Mutter, 63 Jahre alt und vor kurzem als Requisiteurin für Film und Fernsehen in Frührente gegangen, ist schon seit Wochen heiser. Ich tingle gerade für eine Recherche von Querdenker-Demo zu Querdenker-Demo. Am Tag zuvor schreibt sie mir eine Whatsapp:

„Huhu, ich hoffe du gehst nicht im Querdenker Stress unter? Meine Stimmlosigkeit kommt von einer linksseitigen Stimmbandlähmung. (verunsichertes Emoji) war am Montag beim HNO Arzt und heute beim CT… jetzt warte ich auf den Befund und mir ist schon etwas mulmig. (zwei Kussmund-Herz-Emojis)

Ich frage sie, wann der Befund kommt, ob sie Schmerzen hat, ob der Arzt etwas zur Ursache gesagt hat. Keine Antwort, bis zum nächsten Abend nicht. Ich rufe sie an, genervt, weil sie mir nicht geantwortet hat.

In einem Tagebuch habe ich den Einschlag des Kometen festgehalten:

Dann kommt der Satz, vor dem ich mich in Gedanken schon so oft gefürchtet hatte: „Ich muss dir was sagen.“ Mir wird schlecht, mein Herz schlägt schneller, wie ein Trommelwirbel, der einen Schicksalsschlag ankündigt. „Ich habe ein Bronchialkarzinom und Metastasen an den Lymphknoten.“ Ich schweige nicht, da sind sofort Worte, die rauswollen, „Scheiße“ und „Fuck“. Ich stehe vom Küchenstuhl auf, gehe drei Schritte zur Tür und wieder zurück, sitzen, aufstehen, drei Schritte vor und zurück, sitzen, wieder aufstehen, bis wir auflegen.

Eine Frau steht an einem Wasserbecken, neben ihr ist eine Giesskanne. Auf einer rosafarnbenen Wolke über ihr ist ein Engel. Der kitzelt sie mit einer Feder

Foto: Yvonne Kuschel

Die Schriftstellerin Joan Didion beschreibt einen solchen Moment so: „Life changes fast, life changes in the instant. You sit down to dinner and life as you know it ends.“ In ihrem Buch „The Year of Magical Thinking“ verarbeitet sie den plötzlichen Tod ihres Mannes, und immer wieder schiebt sie – wie um sich selbst zu vergewissern – diesen einen Satz ein: Life as you know it ends. Meine Mutter ist noch nicht tot, aber: Mit dem Kometen ist der Tod in unser Leben eingeschlagen, und ich frage mich, ob er nicht hätte anklopfen können.

Warum bin ich dem Tod bisher so selten begegnet, und warum überrascht er mich so sehr? Ich lese mich ein. Auf die erste Frage finde ich eine profane Antwort: Es wird weniger gestorben, weil wir seltener schwer krank werden und länger leben.

Die zweite Frage ist komplizierter. Der Psychologe Joachim Wittkowski begründet den Überraschungseffekt in einem Artikel der Zeitschrift fluter so: Weil wir ab einem Alter von 8 bis 10 Jahren verstehen würden, „dass Zeit linear ist und der Tod irreversibel“, das mache uns Angst, also verdrängten wir ihn, bis er vor der Tür steht.

Der Kulturhistoriker Norbert Fischer sagt, das sei noch nicht immer so gewesen, erst seit der Moderne, als das christliche Weltbild anfing zu bröckeln. Da sei die Idee aufgekommen, „dass doch nicht Gott allein alles bestimmt“. Im 20. Jahrhundert sei der Tod immer weiter aus der Gesellschaft und in die Tabuzone gedrängt worden.

Und in einem Psychologie heute-Interview mit dem Therapeuten Jürgen Grieser lässt sich nachlesen: „In großem Maßstab manifestiert sich unsere Haltung gegen den Tod in einer Überbeschäftigung mit Fortschritt und Konsum, die uns nicht zur Ruhe kommen lässt. {…} Solange ich kaufen kann, lebe ich – das ist gewissermaßen ein Gegengedanke zum Sterben.“

Schuld sind also Gott, der nicht mehr da ist, der Kapitalismus, der ihn ersetzt hat, und unsere Psyche, die bei allem mitspielt, wie eine Komplizin des Bösen?

Nach dem Telefonat am Küchentisch zieht das erste von vielen Gedankengewittern auf: Lungenkrebs, das bekommen doch nur die anderen. Die vom Hörensagen, die Freundin eines Freundes, der Vater einer Bekannten. Aber meine Mutter doch nicht, bestimmt ein Irrtum. Sie ist doch nur heiser. Und was, wenn doch?

Ich denke an die Reportagen über den Pflegenotstand, die Bilder von Menschen, die für alles Hilfe brauchen, weil sie sowas haben wie Krebs. Und dann daran sterben. Es wird eng in meiner Brust. Wo ist mein großer Bruder? Den brauche ich jetzt. Aber der weiß noch von nichts, außerdem lebt er in Hongkong und wegen Corona kommt er da gerade auch nicht weg. In mein Tagebuch schreibe ich:

Ich wünschte, ich könnte alle Verantwortung abstreifen, sie wie einen Mantel an einen Haken hängen und gehen. Ich schäme mich dafür, jetzt schon.

Im Licht des ersten Gewitters wird sichtbar, was ab diesem Tag unser Leben prägen wird: Angst, Ohnmacht und viele offene Fragen. Was passiert, wenn ein Mensch, den man liebt, an einer unheilbaren Krankheit erkrankt, was passiert, wenn er stirbt? Wer kümmert sich und welche Grenzen hat das Kümmern?

In den Wochen danach fühle ich mich wie vom Leben betrogen. Das Gedankengewitter ist abgezogen, nun drehen sich meine Gedanken im Kreis: Warum sie, warum ich, warum wir? Innen ist alles seltsam dumpf, außen geht das Leben weiter wie eine schlechte Vorabendserie. Erst drei Wochen später bricht sich der Kummer Bahn, ich weine und weine und fühle mich danach wie eine verschrumpelte Birne.

Erst drei Wochen nach der Diagnose bricht sich der Kummer Bahn. Ich weine und weine und fühle mich danach wie eine verschrumpelte Birne

Und mein Körper tut Dinge, die ich nicht kenne. Ich google die Symptome „Plötzlich auftretendes Herzrasen, schwitzige Hände, Druck auf der Brust“. Doktor Googles Diagnose: Womöglich Panikattacke. Ich schreibe meiner ehemaligen Therapeutin eine Mail. Haben Sie noch Kapazitäten? Sie vermittelt mich an eine Kollegin, was für ein Glück, vorerst.

Am 18. Februar beginnt die erste Chemo, und der tennisballgroße Tumor in der Lunge unserer Mutter heißt jetzt Hermann. Mein Bruder hat ihn so getauft. Irgendwo hat er gelesen, dass das helfen kann. Nicht gegen das Krebsgeschwür, aber gegen die Ohnmacht. Unsere Mutter bezieht ihr Zimmer in einem Krankenhaus am Rand von Berlin. Nach dem Mittagessen schreibt sie eine Nachricht in die Familiengruppe, an meinen Bruder und mich:

„Alle sind sehr nett hier (Daumen-hoch-Emoji). Ein Arzt kommt irgendwann, ich darf im Park spazieren gehen… der Erbsen Graupen Eintopf war lecker und bestimmt sehr gesund. Damit ich mich nicht langweile, ist jetzt noch eine Omi zu mir ins Zimmer gekommen (Zwinker-Emoji)

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Mein Bruder antwortet:

„Das ist doch mal ein guter Einstand. Und jetzt – Hermann – bugger off!“

Mein Bruder bemüht sich um Optimismus. Unsere Mutter, eine kleine, zierliche Frau, hat es schon seit ein paar Jahren schwer, ihr Gewicht zu halten. Nichts half, weil niemand darauf kam, dass es Hermann sein könnte, der mitisst. Sie wurde immer weniger, wie ihre Hoffnung auf Heilung. Aber mein Bruder, aus der Ferne, gibt nicht auf. Jetzt erst recht, zusammenhalten, durchhalten.

Er ist es auch, der sich einliest, in die Welt der Tumore und Karzinome, während ich regelmäßig Befunde abfotografiere, um sie nie wieder anzuschauen. „Information is control“ schrieb Joan Didion, aber für mich gilt dieses Gesetz nicht. Ich gehe für Mama einkaufen und mit dem Hund, sitze in ihrer Küche und erzähle ihr aus meinem Leben. Der Einschlag des Kometen hat einen Krater des Grauens hinterlassen. Wir balancieren an seinen Rändern und versuchen nicht reinzuschauen.

Nach der Chemo wird bestrahlt. Am 13. April schreibt unsere Mutter in die Gruppe:

„Hermann ist geschrumpft (Sektgläser-Emoji, umarmendes Emoji, Sektflaschen-Emoji) und ab übermorgen wird das Bestrahlungsfeld verkleinert (umarmendes Emoji)

Wird jetzt doch alles wieder so, wie es neulich noch war?

Für ein paar Wochen kehrt so was wie eine Vor-Diagnosen-Normalität zurück. Der Frühling macht, dass alles wächst, auch unsere Zuversicht. Meine Mutter geht wieder einkaufen, und manchmal zum Yoga. Sie kommt in die taz-Kantine zum Mittagessen, wir sitzen draußen und blinzeln in die Sonne. Mutter und Tochter im Alles-wird-gut-Modus.

Im Juli geht der Kampf gegen Hermann in die nächste Phase. Denn Hermann hat meiner Mutter heimlich wieder ein Stück Leben abgegraben. Der nächste Schritt: eine Immuntherapie. Ich google die Nebenwirkungen und lande auf daskwort.de, einer Seite des Pharmakonzerns Roche. Ich lese den Slogan „Das K Wort – Diagnose Krebs, Sag Ja zum Leben!“ und wundere mich.

Das K Wort? Das klingt wie ein billiges Rezept: einfach nicht mehr „Krebs“ sagen und stattdessen das Leben bejahen. Ist auch das nicht Spiegel einer Gesellschaft, die versucht, die Krankheit, an der Menschen in Deutschland am zweithäufigsten sterben, aus dem Leben zu verbannen?

Die Emojis sind traurig und haben Schweißperlen

In den Nachrichten, die meine Mutter diesmal aus dem Krankenhaus schreibt, häufen sich die Wörter „müde“ und „schlapp“, die Emojis sind traurig und haben Schweißperlen auf der Stirn. Mein Alles-wird-gut-Modus schlägt um in Aktionismus. Je getrübter die Stimmung meiner Mutter, desto schneller werde ich: Ich kümmere mich um Vieles, aber wenig um mich selbst. Ich mache selten eine Pause, gehe oft ins Büro. Trinke mehr und esse weniger. Ringe um Kontrolle am Tag, suche ihren Verlust in der Nacht.

Ich glaube, ich verdränge. Die Journalistin und Autorin Gabriele von Arnim beschreibt das Phänomen in ihrem Buch „Das Leben ist ein vorübergehender Zustand“ als Gratwanderung: „Flucht in Verdrängung ist so oft beides. Erst Notwendigkeit und dann Versäumnis. Und wenn man nicht spürt, wann der eine Zustand in den anderen kippt und man sich zu oft vor sich in sich versteckt, dann verliert man sich.“

Immer wieder finde ich mich auf dem Grat wieder, den von Arnim beschreibt. Also verlängere ich meine Therapie. Manchmal sitze ich dort im Sessel und lasse los. Dann weine ich und fühle mich leichter, als hätte jede Träne zuvor ein tausendfaches ihres Gewichts gewogen. Immer öfter aber höre ich mich die immer gleichen Dinge sagen. Dinge wie: „Ich fühle mich so hilflos und klein. Wie kann ich bloß lernen, den Tod zu akzeptieren?“ Es tut gut, sie auszusprechen, doch sie finden keinen Widerhall. Kann eine „normale“ Therapie so etwas leisten?

In diesen Tagen stoße ich online auf einen Artikel im Süddeutsche Zeitung Magazin. Darin wird die Autorin und ehrenamtliche Sterbebegleiterin Ilka Piepgras zitiert. Piepgras schrieb einmal über die Faszination der Sterbebegleitung, „den eigenen Turbo-Lebensrythmus der langsamen Gangart eines verlöschenden Menschen unterzuordnen“. Während ich das lese, werde ich wütend. Ich will meinen Turbo-Lebensrhythmus, weil da Leben drin steckt, und ich will den auch für Mama, für den „verlöschenden Menschen“!

Als ich mich beruhigt habe, denke ich, ehrenamtliche Sterbebegleitung, das könnte doch Teil der Lösung sein – für Sterbende und Zugehörige, denen im besten Fall Angst und Sprachlosigkeit genommen wird, und für die Begleitenden, die dem Tod eines Fremden schon mal die Hand schütteln können. Sollte das nicht zu einem festeren Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens werden?

Verdrängen kann zwar eine Bewältigungsstrategie sein, die uns vor psychischen Totalausfällen bewahrt, wenn wir die Täler existenzieller Krisen wie Krankheit oder Tod durchschreiten. Nur was, wenn eine ganze Gesellschaft verdrängt, was für jeden Menschen unausweichlich ist?

„Dann fehlen ihr die Werkzeuge“, sagt Claudia Cardinal. Sie hat vor über 20 Jahren damit begonnen, analog zur Geburtsheilkunde eine Sterbeheilkunde zu begründen, sie begleitet Sterbende und Trauernde und bildet andere zu Sterbeammen und Sterbegefährten aus. Diese Analogie ist so klar, eigentlich: Wenn ein Mensch ins Leben kommt, bereiten sich werdende Eltern oft akribisch vor, es gibt Hebammen, die sie begleiten, die darüber sprechen, wie sich der Körper verändert, ob es wehtut. Wenn ein Mensch geht, ist das Schweigen laut.

Wenn ein Mensch ins Leben kommt, bereiten wir uns akribisch vor. Wenn ein Mensch geht, ist das Schweigen laut

Bei einem Gespräch erklärt Cardinal, dass mit der Aufklärung eine spirituelle Leerstelle um unsere Vergänglichkeit entstanden sei. „Man braucht nur die Frage nach der Seele zu stellen und gleich wird man gefragt: Bist du Esoterikerin oder so was?“ Dabei gehe es darum, Wege und Werkzeuge zu finden, bewusster und angstfreier mit dem Tod und den Gefühlen, die ihn umgeben, umzugehen, „die Sprachlosigkeit zu überwinden“.

Auch ich bin sprachlos. Und ich frage mich unentwegt: Bin ich genug? Empathisch genug? Genug für sie da? Ist da genug Nähe? Genug Zuversicht? Aber auch: Bin ich ehrlich genug – mit ihr, mit mir, mit der Endlichkeit? Und: Wie weit reicht meine Verantwortung? Müsste ich mehr aufgeben von meinem Leben für das, was noch bleibt von ihrem? Wem würde ich damit gerecht werden wollen, mir, meiner Mutter, der Gesellschaft? Meine Therapeutin sagt: Sie tun, was Sie können, und das ist genug. Manchmal hilft es.

Im September geht Mama in die Reha. Da ist Erleichterung, sie ist versorgt, ich kann weg, in die Berge, wandern, Luft holen. Am 22. September schreibt sie mir am Abend:

„Verdacht auf Lungenentzündung (Schweißperle-auf-Stirn-Emoji/Kackhaufen-Emoji) keine Luft und keinen Bock mehr“

Wir wissen es noch nicht, aber sie hat ihren letzten freien Atemzug schon getan.

Am 12. Oktober ist die Reha vorbei. Rehabilitiert hat sie nur die Gewissheit, dass Hermann wächst und gedeiht. Meine Mutter liefert sich selbst ein. Die Lungenentzündung geht weg, aber die Atemnot bleibt. Die Ärztin bittet um ein Gespräch mit meiner Mutter und mir. Sie empfiehlt ein Hospiz. „Und vielleicht wäre es gut, über den Tod zu sprechen“, sagt sie. Ja verdammt, aber wie?, denke ich, nicke stumm und weine.

Im Zimmer meiner Mutter hänge ich später auf dem Stuhl neben ihrem Bett und schaue in den grauen Himmel. Kraniche ziehen vorbei und ich will ihnen folgen, mit ihnen wegfliegen, egal wohin. Ich fühle mich schlecht. Da ist sie wieder, die Schuld. Wie sie abstecken, die eigenen Grenzen? Wie erspüren, dass sie erreicht oder überschritten sind? Oder hat die Schuld eine soziale Funktion, die richtig und wichtig ist? Das Individuum dazu zu bringen, über sich hinauszuwachsen und der Fürsorge für andere mehr Gewicht zu geben als sich selbst?

Ende Oktober ist Mama wieder zu Hause. Ein Pflegedienst kommt nun zweimal am Tag, bringt Medikamente, einen Ständer für den Tropf, ein Sauerstoffgerät wird per Kurier geliefert. Es ist schwer und röchelt. Wir taufen es Darth Vader.

Meine Mutter ist immer ein Küchen-Mensch gewesen. Dort saßen wir, tranken Kaffee, manchmal rauchte ich mit ihr, Pall Mall rot, obwohl ich eigentlich gar nicht rauche, immer lief das Radio. In der Küche ist Mama kaum mehr, sie liegt jetzt meistens im Bett.

Vieles in ihrer Wohnung erinnert an ein Leben, das sie nicht mehr führt und nie mehr führen wird. Die bunten Klamotten auf der Kleiderstange, der Restaurant-Gutschein, den sie zu ihrem 64. Geburtstag bekommen hat, die Yogamatte, der Autoschlüssel. Ihr Schlafzimmer indes füllt sich mit Requisiten der Palliativmedizin.

Ich lerne, dass Palliativ von palliare kommt, lateinisch für zudecken, bemänteln. Das ist irgendwie schön, fast tröstlich. Auch wenn das Wort Medizin hier eine Nebelkerze ist, denn mit medicina, der Kunst des Heilens, hat das Ummanteln nichts mehr gemein. Der Mantel lindert das Leid, aber er bekämpft es nicht mehr.

An einem Samstag wasche ich Mama die dünnen, weißen Haare, kopfüber über der Badewanne. Ein paar Tränen tropfen mir vom Kinn, sie verschwinden mit dem Shampoo im Abfluss, Glück gehabt. Ich finde, sie soll mich nicht weinen sehen, nicht noch meinen Kummer mittragen. Also lasse ich keine Nähe zu, werde roboterhaft, liebevoll höflich, aber distanziert. Doch ist es nicht gerade Nähe, die sie jetzt braucht, und ich auch? Ich frage mich, wie Menschen es schaffen, ihre Angehörigen zu pflegen, manchmal jahrelang. Wie kriegen sie das hin, das mit der Nähe?

Am Abend frage ich sie, ob sie sich fürchtet, und wie es sich anfühlt, an ein Hospiz zu denken. Sie zuckt mit den Schultern, „Ich weiß nicht. Komisch.“ Die Woche darauf telefoniere ich im Büro Hospize ab, zum Weinen verziehe ich mich auf die Feuertreppe, und schäme mich dafür, weil ich das Gefühl habe, das passt hier nicht hin, das darf hier nicht sein.

Ob ich lieber mal zu Hause bleiben sollte oder ein paar Tage Urlaub angebracht wären, frage ich mich nicht. Ich weiß: Nicht arbeiten ist keine Option, und zu Hause sitzt auf dem Sofa die Angst. Dann doch lieber ins Büro.

In einem Anfall von „Ich muss mich doch irgendwie vorbereiten“ kaufe ich das Buch „So sterben wir“ von Roland Schulz. Der Autor adressiert darin den Leser als sterbende Person, beschreibt den Prozess bis ins kleinste Detail. Ich komme bis zu Seite 32. Da steht:

„Du bist schwach. Du hast Schmerzen. Du hast plötzlich zu viel und zu wenig Zeit zugleich. Zu wenig, weil du spürst, dein Leben verrinnt. Zu viel, weil du das, was dein Leben ausgemacht hat, nach und nach nicht mehr ausführen kannst.“

Illustration: Eine Frau umarmt ein rosafrbenes Kissn, das könnte auch eine Wolke sein

Foto: Yvonne Kuschel

Mein Brustkorb ist wie zugeschnürt, ich lege das Buch weg.

Warum haben wir so etwas nicht in der Schule gelesen, frage ich mich später, und finde heraus, dass es in den USA seit den 1970er Jahren die Fachrichtung „death education“ gibt, auf deutsch „Unterrichtung über Sterben, Tod und Trauer“ (USTT). Sie soll „Kenntnisse über die Todesthematik vermitteln“ und den Menschen „den Umgang mit Sterbenden und Trauernden durch den Abbau von Ängsten erleichtern“.

Während die Palliativmedizin seit 2009 in Deutschland im Medizinstudium gelehrt werden muss, hat es Unterricht über das Sterben bisher nur vereinzelt in die Schulen geschafft. Vor allem dort, wo Leh­re­r:in­nen selbst die Initiative ergreifen, sagt Claudia Cardinal, die professionelle Sterbeamme. Sie selbst habe eine Zeit lang jedes Jahr drei Tage mit Ober­stu­fen­schü­le­r:in­nen zum „Sinn des Lebens“ gearbeitet, inklusive Besuch in einem stationären Hospiz. Das sei aber nur gegangen, weil ein befreundeter Lehrer ihr seine Unterrichtszeit zur Verfügung gestellt habe. Sonst gelte: „Das Thema wird in die Religionsfächer abgeschoben“.

Seit Jahren fordere die Hospizbewegung, die Inhalte in die Lehrpläne aufzunehmen, aber immer wieder werde argumentiert, „es könne von den Lehrkräften nicht verlangt werden, da sie selbst unsicher mit dem Thema seien“. Weil schon die Erwachsenen nicht gelernt haben, mit dem Tod umzugehen, lernen es auch die Kinder nicht? Klingt nach Teufelskreis.

Mama, sage ich, es ist Zeit für das Hospiz

Am 28. November ist Mamas Angst vor der Atemnot so groß, dass sie die Nacht nicht mehr allein sein will. Es ist Sonntagabend, ich schiebe Darth Vader ins Wohnzimmer. Dann hole ich Mama hinterher, die durch den langen Schlauch, der ihr in der Nase klemmt, mit dem Gerät verbunden ist. Sie legt sich aufs Sofa, ich setze mich daneben. Wir schauen „Tatort“ – wie früher, als ich noch zur Schule ging –, ein letztes Mal.

Später liegt sie im Bett und ich auf dem Sofa, die Türen stehen offen, damit ich ihr Not-Glöckchen höre, wenn sie die Angst heimsucht. Rufen kann sie nicht mehr. Das leise Gurgeln, Zischen, Röcheln des Sauerstoffgeräts im Nachbarzimmer macht mich schläfrig, aber ein Gedankengewitter zieht auf, hält mich wach, mit Fragen: Was mache ich, wenn sie panisch wird? Wenn sie große Schmerzen hat? Wenn sie kollabiert?

Am nächsten Morgen, draußen ist es noch dunkel, klingelt der Pflegedienst sein kurzes Ankündigungsklingeln und öffnet die Tür. Puh, nochmal gut gegangen. Aber so geht es nicht weiter. Mama, sage ich, es ist Zeit für das Hospiz. Sie nickt, mit einem Blick, der sagt, es tut mir leid.

Zwei Tage später, am 30. November, ziehen wir um. Ich packe ihre Tasche mit Dingen, die man braucht, wenn man auf eine Reise geht. Und ein paar Weihnachtskugeln, ein kleines Schaf aus Draht und Wolle, eine Lichterkette. Ich habe gehört, dass manche Menschen in einem Hospiz nochmal zu Kräften kommen und noch Monate leben, und selten, aber manchmal, kommen sie sogar wieder raus. Daran halte ich mich fest.

Und als mein Freund und ich am Abend die letzte Tasche aus dem Auto geholt haben und durch die Tür des Hospizes kommen, läuft meine Mutter ohne Sauerstoffgerät, eingehakt bei einem Pfleger, aufrecht und mit einem schelmischen Grinsen den Flur auf und ab. Als wolle sie sagen: Ich bin gekommen, um zu bleiben.

Doch die Tage darauf werden die Nachrichten immer seltener und kürzer, nicht mal für Emojis hat sie noch Kraft. Am Abend rase ich mit dem Rad zu ihr. Sie verlässt das Bett kaum noch, auch nicht zum Zähneputzen. Sie wünscht sich trotzdem eine neue elektrische Zahnbürste. Ich sage: „Ich kümmer mich.“

Sie nimmt keine feste Nahrung mehr auf, trotzdem will sie wissen: Was essen wir an Heiligabend? Ich sage: „Ich überleg mir was“, und massiere ihr dabei die dürren Beine, die Haut, dünn wie Pergament.

Am 7. Dezember am frühen Nachmittag kommen mein Bruder und sein Mann aus Hongkong an. Ab hier sind meine Erinnerungen fragmentiert, ich kann sie nur in Fetzen abrufen. Irgendwann rufe ich meinen Freund an und sage: „Ich glaub, es geht los.“ Wie bei einer Geburt.

Die letzten 48 Stunden verschmelzen zu einer zeitlosen Masse. Es ist, als ob es nur noch diesen Raum, dieses Bett und uns gäbe. Vor dem Fenster die kalte, graue Stadt mit ihren Autos, den irgendwohin eilenden Menschen, den Touristen, den Hundehalterinnen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite fällt der Blick auf einen zugewucherten Friedhof mit verwitterten Grabsteinen – alles wirkt kulissenhaft und weit, weit weg.

Die Pfle­ge­r:in­nen kommen und gehen wie stille Held:innen. Sie beobachten unsere Mutter, legen den Handrücken auf ihre Stirn, ersetzen leere Beutel am Tropf, geben neues Morphium rein, und Mama dämmert ihrem Tod entgegen. Wie lange dauert es noch?, frage ich, sehne mich nach Erlösung und wieder schäme ich mich dafür.

Ich bleibe über Nacht, baue mir aus zwei Sesseln ein Bett und rolle mich darauf wie ein Embryo zusammen, mit dem Gesicht zu Mama. In meinem Handy habe ich die Erinnerungsfetzen ihrer letzten 12 Stunden festgehalten:

Die Nacht hat sie tief geschlafen, den Mund weit geöffnet, langsam verändert sich ihr Körper, der Daumen wird als erstes blau, die Hand ist noch lange warm, zwischendurch leuchten ihre Wangen rot, Tumorfieber sagt die Pflegerin, der Tumor sondert Stoffe ab, das Immunsystem reagiert, immer noch, dann zerfällt auch Hermann irgendwann, ein schwacher Trost, eine kleine absurde Genugtuung, dass auch er mit ihr zu Grunde geht.

Mein Bruder zählt die Atemzüge pro Sekunde, die Pausen werden länger

Mein Bruder zählt die Atemzüge pro Sekunde, die Pausen werden länger; wir beobachten sie, als wären wir Medizinstudenten in einem Praxisseminar.

Am frühen Morgen aufrichten, wieder in die Kissen fallen, mit den Armen rudern, die Hände greifen ins Leere, Flockenlesen nennt man das, die Augen weit aufgerissen, dann wieder fast geschlossen, im Delirium, die Lunge rasselt, sie röchelt, etwas brodelt, gluggert, man möchte es mit ihr aushusten, Todesrasseln sagen sie dazu.

9 Uhr letzte halbe Stunde

Der erste Schnee ist gefallen

Um 9.28 Uhr fangen die Friedhofsglocken an zu schlagen

Fast auf den letzten Schlag schlägt auch ihr Herz ein letztes Mal, nimmt sie den letzten Atemzug, japst ihre Lunge ein letztes Mal nach Luft, sie hat ihr Gesicht unter ihren Händen vergraben

Wir halten inne, einen zeitlosen Moment. Ich weine, aus verzweifelter Erleichterung. Um sie, um mich, um uns, um das, was war, was nicht war, was nie sein wird, oder nie mehr. Hatte sie Angst? Hatte sie Schmerzen? Verstand sie, was vor sich ging, oder fühlte sie sich ausgeliefert? War sie bereit zu gehen? Kann man das sein, bereit zu sterben? Ich glaube, sie war es nicht. Und ich auch nicht. Aber nun ist es vorbei und da liegt, was von Mama übrig geblieben ist, eine Hülle mit halbgeöffneten Augen und leerem Blick.

Sie wurde 64 Jahre alt.

Roland Schulz schreibt in seinem Buch:

„Dein Anblick erschreckt. Gerade in einer Gesellschaft, in der Tod weniger als Gewissheit, sondern als Folge schlechter Lebensentscheidungen gilt. Einer Gesellschaft, die jung oder alt kaum mehr als körperliche Zustände, sondern als Geisteshaltung begreift.“

Und ja, ich bin erschrocken, zutiefst, monatelang verfolgen mich die Bilder ihrer letzten Stunden, tauchen einfach auf, beim Abwaschen, beim Fahrradfahren, beim Einschlafen und Aufwachen.

Für mich war der Tod keine Gewissheit, er existierte nur als abstraktes Konzept, auf die vermeintlich lange Bank des Lebens geschoben. Dann lernte ich am Donnerstag, den 9. Dezember um 9.29 Uhr in all seiner Endgültigkeit und in den Worten von Joan Didion: Life as you know it.

Ein Jahr später, es geht auf den Dezember 2022 zu, schreibe ich an diesem Text. Ich blicke auf das erste Trauerjahr zurück, von dem die meisten glauben, mit seinem Ende überwinde man den Verlust. Eine enge Freundin, die auch ihre Mutter verloren hat, fand kluge Worte dafür, wie es wirklich ist: „Die Trauer bleibt, der Schmerz bleibt, aber man baut sein Leben drumherum.“ Der Alltag ohne Mama nimmt langsam Konturen an, und dem Tod habe ich einen Platz in meinem Leben eingeräumt, dort, wo vorher eine Leerstelle war.

Vor dem ersten Todestag fürchte ich mich fast. Dann ist er da, der 9. Dezember, der für mich für immer einen der größten Verluste markieren wird, und er wird schön. Wir gehen in dem Kiez frühstücken, in dem ich mit meiner Mutter lange Zeit gelebt habe, wir kaufen eine Amaryllis zum Einpflanzen, so eine hatte sie in der Adventszeit immer in der Küche stehen, wir treffen uns am Grab mit ein paar engen Freun­d:in­nen von mir, die meine Mutter vor allem aus der Schulzeit kannten, als die mit den bunten Hosen.

Wir buddeln die Amaryllis ein, ein Freund hängt ein selbstgebasteltes Gesteck aus Mamas getrockneten Hortensien an einen Busch. Und all die Anspannung der letzten Wochen blättert langsam von mir ab.

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