Berliner Gesundheitspolitiker zu Corona: „Die Lage ist undramatisch“
Bisher verlaufen die Erkrankungen in Deutschland meist harmlos, sagt Wolfgang Albers, Vorsitzender des Gesundheitsausschusses. Er warnt vor Panik.
taz: Herr Albers, wie dramatisch ist die Corona-Lage in Berlin?
Wolfgang Albers: Undramatisch. Dramatisch wird die Panik, die drumherum entsteht und die offenbar auch nicht in den Griff zu bekommen ist.
Eine interessante These.
Wir hatten bis Montag 48 Fälle in Berlin. Alle sind bisher symptomarm bis symptomlos verlaufen. Wir Abgeordnete hätten in der Sitzung des Gesundheitsausschusses gerne genauere Zahlen dazu gehabt, wie viele dieser Fälle in ärztlicher Behandlung sind, wie viele davon in stationärer Behandlung und bei wie vielen wiederum es bisher zu ernsthaften Komplikationen gekommen ist. Aber die Zahlen gibt es offensichtlich nicht.
Da Sie dieses Zahlen nicht haben: Wie kommen Sie zur Einschätzung, die Lage sei undramatisch?
Wenn es dramatische Fälle gäbe, wäre das sicher längst öffentlich geworden. Wir wollen ja höchste Transparenz. Es gibt nach meiner Kenntnis am Mittwochmorgen vier stationäre Fälle in Berlin. Um den Schweregrad einer Krankheit wissenschaftlich objektiv einschätzen zu können, ihre Pathogenität also...
... das heißt die Einschätzung, wie schwer eine Krankheit verläuft …
... brauchen wir solche Fakten. Offenbar hält sich diese Pathogenität noch in engen Grenzen. Wir haben noch keine hochfieberhaften Patienten, die einer intensivmedizinischen Therapie bedürfen. Deswegen verstehe ich die Dramatisierung aus unserer bisherigen Erfahrung nicht. Die Ansteckungsrate beim Coronavirus ist unbestritten hoch.
Ein Infizierter steckt zwei weitere an.
Genau. Aber bei Grippe steckt jeder Mensch zwei bis drei andere an, bei Masern im Schnitt 16. Und man muss es ja nicht leugnen: Die Zahlen steigen. Was aber offensichtlich nicht steigt, ist die Anzahl der dramatischen Verläufe, zumindest in unseren bundesdeutschen Breitengraden.
Wolfgang Albers
geboren 1950, sitzt seit 2006 für die Linkspartei im Berliner Abgeordnetenhaus. Er ist dort Vorsitzender des Ausschusses für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung. Er hat Medizin studiert und ist Chirurg.
In Italien sieht es etwas anders aus.
Ja, da gibt es seit einigen Stunden offenbar eine dramatische Entwicklung mit erschütternden Aufrufen. Ich kann das nicht verharmlosen. Woran das liegt, kann ich nicht beurteilen. Aber in der Bundesrepublik ist es nicht so. Es gilt aber die Entwicklung in Italien ganz genau zu analysieren.
Mit wie vielen Infizierten rechnen Sie bis Ende März für Berlin?
Das weiß man nicht. Ich warne davor, das zu unterschätzen. Aber Panik machen hilft eben auch nicht: Infizierter ist nicht gleich Erkrankter. Das ist ganz wichtig. Eigentlich müsste neben der Zahl der Neuinfektionen auch immer die Zahl der tatsächlich Erkrankten genannt werden.
Immerhin sind die ersten Menschen in Deutschland gestorben.
Eine 89-jährige Frau. Mit 89 Jahren – das ist zwar bedauerlich – kann man auch an einer Virusinfektion sterben; die muss auch nicht Corona heißen. Der andere Fall war ein 78-Jähriger mit vielen Vorerkrankungen. Diese Bilanz macht mich epidemologisch zunächst einmal nicht nachdenklich.
Manche Wissenschaftler vergleichen den Verlauf in China, Italien und Deutschland und sagen, wir lägen bei den Zahlen gut eine Woche hinter Italien. Sehen Sie das auch so?
Was die Infektionsrate betrifft, ist das möglich. Aber noch mal: Derzeit gibt es – Stichtag 10. März – 1.139 Infizierte in Deutschland, darunter, wie gesagt, zwei Todesfälle. Das entspricht 0,17 Prozent. Und dabei muss man berücksichtigen, dass die Letalitätsrate wohl eher noch niedriger liegt, weil sie auf der Basis der nachgewiesenen Infektionen errechnet wird, man aber nie alle Infizierten erfasst. Das Robert-Koch-Institut (RKI) geht von einer 10- bis 20-fachen Untererfassung aus. Die Zahl der Verläufe mit tödlichem Ausgang ist also bisher eher niedrig und fällt nicht aus dem Rahmen auch anderer landläufiger Infektionskrankheiten. Bisher spricht auch nichts dafür, dass sich daran bei Covid-19, so heißt diese Erkrankung ja offiziell, noch etwas ändert.
In anderen Ländern ist die Sterberate höher.
In Italien ist sie momentan bei 4,9 Prozent. Das liegt zwar noch im Rahmen vergleichbarer Infektionskrankheiten, ist aber natürlich auffällig viel höher als anderswo. Und offenbar steigt sie noch weiter.
In Nordrhein-Westfalen ist die Lage schlimmer als in Berlin. Wird sich das angleichen?
Auch in NRW sind die meisten Betroffenen bisher nicht wirklich ernsthaft krank. In Berlin haben wir momentan noch viel mehr Probleme mit Menschen, die befürchten krank zu sein, als mit denen, die wirklich krank sind.
Wie meinen Sie das?
Nun, sie überfluten zum Beispiel die Untersuchungseinrichtung der Charité, die diese geschaffen hat, um eine Blockade der Notfallaufnahme zu verhindern, weil sie unbedingt auf das Virus getestet werden möchten. Und sie überlasten die Telefonleitungen der Hotline und der niedergelassenen Ärzte, weil sie sich – oft grundlos – Sorgen machen, infiziert zu sein. Das frisst Ressourcen an Personal, an Zeit und Material. Ressourcen, die wir eigentlich bräuchten, falls dann doch tatsächlich mehr und schwerer Erkrankte kommen. In Österreich wird jetzt bei allen Einreisenden Fieber gemessen: eine Maßnahme, wie mir scheint, mit wenig Sinn und noch weniger Wirkung. Reiner Aktionismus.
Warum?
Mit Fiebermessen erwischen Sie zwar Leute, die – aus welchem Grund auch immer – Fieber haben mögen. Aber es ist bekannt beim Coronavirus, dass es bereits ansteckend ist, bevor überhaupt solche Symptome wie Fieber beim Infizierten auftreten, und manchmal bleibt der gar völlig symptomlos, verbreitet seine Keime aber trotzdem. Die wenigen Fieber-Auffälligen werden so herausgezogen, aber die möglicherweise weit größere Zahl der symptomlosen Keimträger marschiert unbehelligt durch.
Der Regierende Bürgermeister hat sich am Dienstag gegen ein Pauschalverbot von Veranstaltungen mit mehr als 1.000 Teilnehmern ausgesprochen und drängt auf eine bundeseinheitliche Regelung. War Müllers Entscheidung richtig?
Ja, solche Absagen muss man im Einzelfall entscheiden. Die größte Massenveranstaltung ist in Berlin weiterhin der öffentliche Nahverkehr mit 4 Millionen Fahrgästen jeden Tag. Und den benutzen die Menschen ja auch und sind da auf engstem Raum zusammen. Im Moment schürt so ein undifferenziertes Verbot nur Panik. Das ist doch völlig irrational.
Kultursenator Klaus Lederer hat am Dienstagabend alle geplanten Veranstaltungen in den großen Sälen der staatlichen Theater, Opern- und Konzerthäuser in Berlin abgesagt – bis Ende der Osterferien.
Eine Entscheidung, die auf der Linie der Absage der Tourismusmesse ITB liegt. Der politische Druck ist groß; niemand mag sich dem Vorwurf aussetzen, gerade angesichts der aktuellen Nachrichten aus Italien, sich leichtfertig über Empfehlungen hinwegzusetzen, die auf Bundesebene geeint wurden. Ich enthalte mich da der Bewertung, kann seine Entscheidung aber verstehen.
Es dürfte auch in Berlin zu weiteren generellen Verboten kommen; am Donnerstag treffen sich ja die Ministerpräsidenten.
Nach dem Infektionsschutzgesetz können die nicht viel verbieten – da liegt die Entscheidung aus gutem Grund nach wie vor bei den lokalen Gesundheitsbehörden. Die werden sich aber wohl kaum dem ungeheuren politischen Druck widersetzen können. Das war ja schon bei der ITB so. Ich habe den Eindruck, dass hier auch viel Aktionismus im Spiel ist, mit dem sich mancher jetzt als Krisenmanager profilieren möchte. Aber wir brauchen Besonnenheit in politischer Verantwortung. Dazu gehört es nicht, erst die Verunsicherung zu schüren, die letztlich bis zu Hamsterkäufen führt, und sich dann in der Rolle als Deichgraf zu präsentieren, der mahnend den Dammbruch meistert. Unser ambitionierter Bundesgesundheitsminister gefällt sich offenbar in dieser Rolle.
Was glauben Sie: Wie lange müssen sich die Berliner auf Einschränkungen einstellen?
Das weiß ich nicht, und das wissen die, die diese Einschränkungen postulieren, auch nicht. Italien macht mir da schon Sorgen.
In China ebbt die erste Erkrankungswelle jetzt ja ab.
Aus der Entwicklung dort kann man wichtige Erkenntnisse schöpfen, da hat man nun grob ausgedrückt einen abgeschlossenen Krankheitszyklus vor sich: Wie lange hat die akute Phase gedauert, wer war betroffen und wie schwer war der Verlauf für welche Risikogruppen?
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Aber China hat auch sehr dramatisch reagiert!
Völlig richtig. China hat es relativ schnell geschafft, die Pandemie auf ein bestimmtes Gebiet zu begrenzen. Die meisten der Toten stammen aus einer Region.
Spricht das nicht doch dafür, dass ein drastisches Vorgehen in Deutschland und Europa erfolgreich sein könnte?
Wie soll das denn aussehen? Auch Viertel abriegeln und Straßen aufreißen? In Italien sind die Maßnahmen schon die ganze Zeit drastisch, aber die Wirkung ist offensichtlich ausgeblieben. Grenzen zu schließen – selbst wenn, dafür ist es viel zu spät. Und da fehlt es den Verantwortlichen dann ja auch an Konsequenz. Man hat in Berlin die ITB abgesagt, aber nicht die Berlinale eine Woche zuvor. Man lässt Busse und Züge von überall her weiterhin in die Stadt, die Flughäfen sind offen. Wir wissen doch gar nicht, wie viele Leute unter uns den Keim schon haben. Abriegeln macht da keinen Sinn.
Warum tun wir uns so schwer im Umgang mit dem Virus?
Tun wir das? Mich erinnert die öffentliche und mediale Debatte sehr an die Schweinepest 2009. Ein Riesentheater, fast noch größer als jetzt. Ich war damals schon gesundheitspolitischer Sprecher der Linksfraktion; der regierenden rot-roten Koalition wurde vorgeworfen, wir würden in Berlin nicht genug tun und massenhaft Tote durch die Grippe riskieren. Es gab auf der ganzen Welt, nicht nur in Berlin, Hysterie. Eine Posse, das alles.
Können Sie das erläutern?
Unmengen an Impfstoffen wurden angeschafft, die letztlich niemand brauchte und die dann schamhaft entsorgt wurden. Schließlich hat selbst der Europarat untersuchen lassen, welche Umstände damals die Weltgesundheitsorganisation bewogen haben mögen, die höchste Pandemiestufe 6 auszurufen, bei einer letztlich relativ harmlosen Erkrankung. Ich kann nicht vorhersagen, wie sich Covid-19 weiter entwickelt. Ich will es nicht verharmlosen, aber auch nicht dämonisieren. Doch manches in der jetzigen Debatte kommt mir daher vor wie ein Déjà-vu-Erlebnis.
Was raten Sie den Menschen hier?
Es gibt keinen Grund, beunruhigt zu sein. Wir haben einen neuen Keim, der wird auch einige Zeit in der Welt sein und je länger, desto mehr Abwehrkräfte werden sich wahrscheinlich dagegen entwickeln. Vielleicht gibt es auch in einem Jahr eine Impfung. Und wir sind ja auch heute schon keineswegs hilflos. Natürlich gibt es entsprechende Medikamente, mit denen die einzelnen Symptome behandelt werden können, die bekanntermaßen bei einer symptomatischen Coronainfektion im Vordergrund stehen, und diese Medikamente sind gegen den Husten, den Halsschmerz, den Kopfschmerz oder das Fieber auch wirksam. Problematisch wird es bei der Lungenentzündung, wie man den aktuellen Nachrichten aus Italien entnehmen kann.
Was sollte man also tun?
Sich so verhalten wie bisher bei Ansteckungskrankheiten. Testen lassen macht nur Sinn, wenn der Arzt das empfiehlt. Also: Hygiene beachten, Abstand halten, übrigens auch in der U-Bahn. Denn was die Gesundheitssenatorin am Montag gesagt hat, stimmt so leider nicht mehr ganz. Mittlerweile zeigt eine Studie: Coronaviren bleiben sehr wohl auch an glatten Oberflächen virulent, also auch an Handgriffen, und das bis zu fünf Tagen. Also nicht alles antatschen und die Finger dann auch nicht in den Mund!
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