Berlin als Ort der Literatur: Wo der Laptop steht

Vom Sehnsuchtsort zur Selbstverständlichkeit: Ist Berlin auserzählt? Eine Momentaufnahme. Zugleich ein Rückblick auf die Literatur dieses Jahres.

Blick über das Tempelhofer Feld auf dem viele Menschen unterwegs sind

Einmalig in einer Großstadt, die Weite des Tempelhofer Feldes Foto: Stefan Zeitz/imago

Es gibt sie noch, man kann sie weiterhin unternehmen, diese Gänge ins Weite und Offene, wegen denen unter anderem man schließlich einmal nach Berlin gezogen ist, vorbei an einem halben Dutzend historischer Hotspots und noch viel mehr unterschiedlichen Lebensentwürfen. Neulich erwischte mich noch einmal dieser freie Wind auf dem Tempelhofer Feld wie sonst nur am Meer. Und in Neukölln begegnete ich in einem Pelmeni-Imbiss, den ich noch nicht kannte, rauchenden russischen Damen wie aus dem Klischee.

Doch das sind jetzt mehr so Ausflüge, und ein bisschen hat man dabei das Gefühl, als laufe man der Geschichte, die Berlin sein kann, hinterher, von wegen Labor Berlin, Großstadt und so, während Berlin aber tatsächlich kleiner geworden scheint. Die große, lockende Stadt, an der Schwelle zum zweiten Coronawinter schrumpft sie wieder zur unmittelbaren Umgebung.

Auch wer sich stets dagegen wehrte, zur Kiezpflanze zu mutieren, sieht sich wieder zurückgeworfen auf die Straßen, die man noch konkret abläuft, zum Einkaufen und vielleicht noch zum Yogastudio. Begegnungen geht man aus dem Weg, und die Eindrücke verdichten sich kaum noch zur großen, den Alltag unter Spannung setzenden oder ihn gar überformenden Geschichte.

Berlin ist der „Sehnsuchtsort derer, die selbstbestimmt und frei leben wollen, die mit Rollen und Masken experimentieren“. So steht es in Jens Biskys Monografie „Berlin: Biografie einer großen Stadt“; fast könnte man nostalgisch werden, wenn man darin blättert. Wenn man nämlich das Buch sinken lässt und aus dem Fenster sieht, dann ist da mit ausgelebter Sehnsucht und Lebens-Experimenten grad nicht viel. Der Pandemiealltag schluckt das weg.

Spannung ist das Stichwort, sie war immer wichtig in Berlin, vor allem war sie immer da. „Die Spannung zwischen dem großen Ganzen, das keiner überblickt, und dem Kiez, der unmittelbaren Nachbarschaft, […] formt die Großstädter“, heißt es bei Bisky weiter. Und es stimmt einerseits natürlich, dass die Spannung gerissen ist, weil man unter Corona vom großen Ganzen gerade wenig hat. Aber ist das andererseits auch die ganze Wahrheit?

Der Großstadtdschungel

Das große Ganze, das keiner überblickt, das ist ja nicht nur das ausgedehnte Häusermeer, der Großstadt­dschungel. Sondern das sind auch die leuchtenden, lockenden Geschichten von Selbstverwirklichung und Anderssein, Kreativitätsausleben, Durchfeiern und Seindingmachen, die an der Basis der Sehnsucht stehen, die Jens Bisky anspricht und Berlin ausmachen.

Und kann es sein, dass die Spannung zwischen ihnen und dem Berliner Alltag sowieso nachgelassen hat? Auch schon vor Corona? Anders gesagt: Ist Berlin ein Stück weit auserzählt?

Auf diesen Gedanken kann man kommen, wenn man dieses Literaturjahr Revue passieren lässt. Er hat ambitionierte und streckenweise tolle Romane über die Vorgeschichte des Labors Berlin hervorgebracht. Ulrich Peltzer hat in „Das bist ja du“ von den intellektuellen und lebensweltlichen Abenteuern des Heraustretens aus dem Identitätszwang (französische Philosophie, Liebe, Musik) erzählt.

Mit historischem Edelrost

Sven Regener führte in „Glitterschnitter“ mal wieder zurück in die Kreuzberger Boheme aus Teilnehmerperspektive und ohne all den Überbau-Schnickschnack. Und in den Berlinepisoden von Emine Sevgi Özdamars Epos „Ein von Schatten begrenzter Raum“ kann man in die Atmosphäre von geteilter Stadt und Nachkrieg eintauchen.

Das alles sind sehr genau gearbeitete, jeweils eigensinnige Bücher, die allerdings eben auch von dem unter Germanisten sprichwörtlichen historischen Edelrost überzogen sind. Die Berliner Gegenwart kam dagegen nicht so ambitioniert vor. Und es stimmt ja auch. Will man einen weiteren Gentrifizierungsroman lesen?

Und was für ein Möglichkeitsraum Berlin-Mitte nach dem Mauerfall gewesen ist, hat Lutz Seiler in „Stern 111“ schon 2020 beschrieben. Immerhin, Einblicke in den dysfunk­tio­nalen aktuellen Berliner Vermietungsmarkt finden sich in den Wohnungssuchkapiteln von Sharon Dodua Otoos „Adas Raum“.

Dieses Berlingefühl

Der Punkt könnte also sein, dass die Geschichte von der leuchtenden, lockenden Stadt Berlin so bekannt und eingeführt ist, dass man sie historisch gestalten und dabei auch die Rückseiten beleuchten kann, dass es aber keinen großen Spaß macht, sie als neu und gegenwärtig zu behaupten.

Daneben ist allerdings in diesem Literaturjahr auch noch etwas anderes passiert – und auch das gehört zu einer Momentaufnahme des Berlingefühls hinzu: Die Au­to­r*in­nen mögen gerade nur zögerlich über die Gegenwart Berlins selbst erzählen, dafür erzählen sie aber aus Berlin heraus. Berlin scheint vom Thema zur Basis des Erzählens geworden zu sein.

Tatsächlich kommt man mit der wenn auch groben Beschreibung ziemlich weit, dass noch vor zehn Jahren der idealtypische deutschsprachige Debü­tan­ten­nach­wuchs im Prenzlauer Berg gewohnt hat und auch über den Prenzlauer Berg geschrieben hat und er inzwischen aber in Neukölln wohnt oder im Wedding und aber keineswegs über Neukölln oder den Wedding schreibt, sondern darüber, von wo er oder sie herkommt. Und Berlin ist dabei nicht nur der reale Ort, an dem Laptop und Schreibtisch stehen, sondern auch der Standpunkt, der es Au­to­r*in­nen ermöglicht, einigermaßen gelassen auf das eigene Leben und auch den Rest der Welt zu blicken.

Identitär nicht festgelegt

Offenbar gilt gerade nicht mehr: Schaut auf diese Stadt! Sondern: Schaut aus dieser Stadt!

Man kann dabei an einen Roman wie „Vater und ich“ von Dilek Güngör denken, deren Erzählerin in Berlin selbstverständlich als Radioredakteurin arbeitet, doch, sobald sie zu ihren Eltern ins Schwäbische fährt, wieder als Gastarbeitertochter identifiziert wird.

Oder an „Das achte Kind“ von Alem Grabovac, der von Migration erzählt und von der Erfahrung, als Pflegekind aus dem ehemaligen Jugoslawien bei einer ziemlich rechten deutschen Familie in Westdeutschland gelandet zu sein; auch hier erscheint Berlin als der Ort, an dem man auf seine Herkunft zumindest nicht restlos identitär festgelegt wird und gerade deshalb erst von ihr erzählen kann.

Bisschen krass immer wieder

In Sasha Marianna Salzmanns Roman „Im Menschen muss alles herrlich sein“ kommt Berlin in verschiedenen Perspektiven vor. Diejenigen Mitglieder der im zweiten Teil beschriebenen postsowjetischen Migrantenszene, die noch an Familienverbänden festhalten und verbrämten Sowjetzeiten hinterhertrauern, verbinden Berlin mit Einsamkeit. Für ihre jungen Nachgeborenen aber, bebend und teilweise überfordert von Lebensmöglichkeiten, bietet es alle Gelegenheiten, sich auszuprobieren: bisschen krass immer wieder; herausfordernd, klar; aber auch selbstverständlich und real.

Wie es an einer Stelle heißt: „Berlin war ein Schild, das besagte:,Alle Richtungen'. Es ging überallhin. Eine Startlandebahn für jene, die noch tanken mussten.“ Salzmann braucht nur einige Stichworte anzutippen – Clubs, Queerness –, und man hat beim Lesen gleich den ganzen Hintergrund von Diversität und vielfältigen Identitäten im Kopf.

Ein klassischer Spruch besagt, Berlin sei dazu verdammt, immerfort zu werden und niemals zu sein. Das ist in diesen Büchern, und sei es nur indirekt, anders. Es geht nicht um Sehnsucht, sondern um tatsächlich erreichte Errungenschaften. Berlin ist hier eine Stadt, in der man leben und arbeiten kann, ohne sich groß für seinen Lebensentwurf rechtfertigen zu müssen, von der als Basis aus man dann aber auch rückblickend oder sonst wie in die Welt schauend feststellen muss, dass es nicht überall so frei zugeht. Während wiederum das offene Leben in Berlin so selbstverständlich geworden ist, dass es gar nicht mehr eigens thematisiert werden muss.

Böse auf die Großstadt

Das trennt diese Bücher etwa von Juli Zehs „Über Menschen“ und anderen Landlebenromanen, die von einer wie ambivalent auch immer beschriebenen ländlichen Idylle aus böse auf die Großstadt Berlin blicken und in ihr ein entfremdetes Dasein ausmachen.

Wobei das gesellschaftliche Momentum derzeit offenbar eher auf der Seite Berlins liegt. Wenn man in den rot-grün-gelben Koalitionsvertrag schaut, zum Beispiel auf die Vorhaben, den Paragrafen 219a abzuschaffen und gleichgeschlechtliche Elternpaare rechtlich besserzustellen, dann scheint Gesamtdeutschland gesellschaftspolitisch jedenfalls ein Stück weit an Lebensverhältnisse heranzurücken, die in Berlin längst selbstverständlich sind. In anderen Großstädten auch, doch in Berlin am selbstverständlichsten.

Berlin als das ganz Andere einer strukturkonservativen Gesellschaft ist also tatsächlich wohl erst einmal auserzählt. Aber Berlin als selbstverständliche Basis des Erzählens hat natürlich auch seine Tücken. Wer weiß zum Beispiel, wie lange das noch so geht (die Mieten etwa sind ja wirklich rapide gestiegen). Außerdem gibt es die Geschichte vom Ankommen in Berlin und den Berliner Verhältnissen schon in so vielen Facetten, dass man inzwischen vielleicht auch einmal wieder neu vom Hiersein in all seinen internen Widersprüchlichkeiten erzählen kann.

Vielleicht kommt also bald eher wieder eine Zeit für neue Berliner Gesellschaftsromane; Ansätze dazu gibt es, etwa bei Anke Stelling oder auch den Berlinszenen der „Blauen Frau“ von Antje Rávik Strubel.

Mal sehen, welche Spannungen da sein werden, wenn Corona erst einmal wieder weg sein wird.

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