Autoren über Antiimperialismus: „Hang zu binären Weltbildern“
„Kritisch“ statt „bedingungslos“ müsse Solidarität sein – dafür plädierte die Gruppe Demontage. Wie sieht sie den Hamas-Support einiger Linker von heute?
Ihr 1999 erschienenes Buch „Postfordistische Guerrilla. Vom Mythos nationaler Befreiung“ markierte eine Zäsur in der radikalen Linken. Der traditionelle Antiimperialismus hatte sich oft bruchlos an die Seite von militanten Bewegungen im Globalen Süden gestellt – auch wenn deren Agenda mit den eigenen Zielen kaum vereinbar war. Die Hamburger Gruppe Demontage wies auf diese Widersprüche hin, ihre Kritik wurde breit diskutiert.
taz: Den 7. Oktober hat ein Teil der Linken als „revolutionärer Tag, auf den wir stolz sein können“, gefeiert. Ist so die bedingungslose Solidarität des alten Antiimperialismus unter postkolonialen Prämissen zurückgekommen?
Olaf Berg: Das ergibt sich weder aus dem Antiimperialismus noch aus postkolonialen Theorien zwangsweise. Uns wurde damals vorgeworfen, wir würden mit dem Buch Schulnoten verteilen, würden uns anmaßen, über Befreiungsbewegungen zu urteilen. Der Impuls zu sagen, „Die kämpfen und wir können nur irgendwie folgen“, ist sehr alt. Natürlich müssen wir mitdenken, welche privilegierte Situation wir haben. Aber das entbindet uns ja nicht davon, für uns zu entscheiden, womit wir eigentlich solidarisch sein wollen.
taz: Heute wird die Verpflichtung zur Solidarität oft moralisch begründet – mit Verweis auf Kolonialismus, Hautfarbe und Privilegien. Ist das auch alt?
Olaf Berg, Gaston Kirsche und Christian Reichert waren Teil der Gruppe Demontage und des Autorenkollektivs des Bandes „Postfordistische Guerrilla. Vom Mythos nationaler Befreiung“.
Gaston Kirsche: Die ideologische Ummantelung hat sich sicher geändert. Der moralische Impetus – ich lebe in einem Land, dessen Reichtum auf der Ausbeutung anderer Teile der Welt basiert – ist derselbe. Die postkoloniale Theorie scheint nur neu, weil sie mit einem anderen Vokabular daherkommt.
Christian Reichert: Eine Kritik am Kolonialismus bedeutet nicht, dass ich mich solidarisch auf antiemanzipative Bewegungen beziehe oder gar reaktionäre Bewegungen glorifiziere. In unserem Buch haben wir ein traditionelles Verständnis des Antiimperialismus kritisiert, in dem Solidaritätsbewegungen auch Sichtweisen und politische Forderungen von Befreiungsbewegungen oder Menschen vor Ort übernommen haben, die wenig Anknüpfungspunkte an emanzipative Positionen hierzulande boten. Das Kriterium für die solidarische Unterstützung war häufig allein das wahrgenommene Unterdrückungsverhältnis.
Dem haben wir den Begriff der kritischen Solidarität entgegengesetzt. Die fehlende Unterscheidung zwischen Kritik an Unterdrückungsverhältnissen, Kritik an der Politik der israelischen Regierung, der Forderungen nach einer Verbesserung der Lebenssituation der Menschen etwa in Gaza und einer positiven Bezugnahme auf eine reaktionäre und menschenverachtende Bewegung wie die Hamas ist auch heute wieder das Problem.
Berg: Der Großteil derer, die jetzt solidarisch mit Gaza sind, sehen nur: Da gibt es das starke Israel und das schwache Gaza. Da ist man dann für die Schwachen. Dazu kommt, dass Israel immer als Kolonialist wahrgenommen wird. Die postkoloniale Theorie würde ich aber gegen diesen Vorwurf in Schutz nehmen wollen. Deren Kern lautet: Der Kolonialismus hat die Welt so geprägt, dass er nicht aufhört mit dem Ende des formalen Kolonialismus. Das finde ich absolut richtig. Den moralischen Impetus …
taz: … also als Privilegierter bedingungslos solidarisch zu sein?
Berg: Genau. Diese Bedingungslosigkeit lehne ich ab, und sie folgt nicht zwingend aus postkolonialer Kritik. Ich finde es aber gut, dass Menschen, die in Deutschland als nichtdeutsch gelesen werden, sich stärker organisieren, Selbstbewusstsein entwickeln, auf die deutsche koloniale Geschichte hinweisen und, wie an einigen Unis, diskursive Räume und Machtposition einnehmen. So wie sich früher Frauen Räume erschlossen und gesagt haben, da dürfen Männer nicht rein. Das hat alles seinen Sinn. Und in Diskussionen ist es richtig, erst mal zuzuhören, die andere Perspektive wahrzunehmen. Trotzdem sind wir alle Individuen, die ein Recht auf eine eigene Meinung haben. Das verwirke ich nicht dadurch, dass ich in eine privilegierte Position geboren bin.
taz: Warum haben Sie sich damals mit dem Thema befasst?
Berg: Es gab eine antirassistische Bewegung gegen die Nazi-Umtriebe hierzulande, etwa in Rostock-Lichtenhagen. Für die war klar: Der Nationalismus ist in Deutschland eine starke Wurzel rechter Gewalt. Gleichzeitig war man solidarisch mit nationalen Befreiungsbewegungen in anderen Ländern. Unsere Frage war: Ist dieses Nationale so flexibel, dass es in einem Fall ganz toll ist und im anderen ganz doof?
Und?
Reichert: Die ökonomische Globalisierung hatte damals den nationalstaatlichen Rahmen hinter sich gelassen. In Europa und den USA waren fordistische Produktions- und Gesellschaftsverhältnisse seit den 1980er Jahren großen Veränderungen unterworfen. Dazu im Widerspruch stand, dass sich auch in den neunziger Jahren noch viele Befreiungsbewegungen auf Ethnie, Volk und eine eigene Nation bezogen. Aber zur kritischen Solidarität gehörte für uns Kritik an Klassen- und Geschlechterverhältnissen, an Volk und Nation. Uns interessierte deshalb, bei welchen Bewegungen wir Anknüpfungspunkte für eine emanzipative Politik sahen.
taz: Haben Sie welche gefunden?
Kirsche: In den nominell sozialistischen Bewegungen steckte für uns emanzipatorische Hoffnung. Bei islamistischen oder nur völkisch-nationalistischen Bewegungen nicht.
taz: Ihre Kritik fand in der Linken damals Resonanz. Ist diese heute vergessen?
Kirsche: Es wird heute über Diskriminierung gesprochen, aber nicht über die materielle Geschichte, die dahintersteht. Es geht eher um moralische Fragen. Eine Gemeinsamkeit zum klassischen Antiimperialismus ist dabei der Hang zu einfachen, binären und dadurch falschen Weltbildern: Der Norden ist reich und alles, was aus dem Süden kommt, ist automatisch gut. Dann wird nicht begriffen, dass sowohl der Norden als auch der Süden von Klassenstrukturen, Ausbeutungsverhältnissen und Gewaltverhältnissen durchzogen sind.
taz: Was heißt das für die Frage, auf wen sich eine Linke positiv beziehen sollte?
Kirsche: Ich kann mich zum Beispiel nicht positiv darauf beziehen, wenn Putin die USA kritisiert, weil die den Jemen bombardieren. Ich muss zur Kenntnis nehmen, dass es heutzutage mehrere imperialistische Zentren in der Welt gibt, dass Russland sich imperialistisch verhält und China auch. Ich kann nicht mit einer moralischen Sicht Nordamerika und Westeuropa als Zentren des Kolonialismus immer für alles die Schuld geben und alles, was sie bekämpft, ist gut. Das führt zu keinem fortschrittlichen Gedanken, sondern dazu, reaktionären Bewegungen wie der Hamas oder dem iranischen Regime etwas Positives abzugewinnen.
taz: In Südeuropa oder in Afrika sieht man das teils sehr anders.
Kirsche: In Südeuropa ist gerade die radikalere Linke in einem erschreckenden Ausmaß antiisraelisch, in Italien oder Spanien etwa finde ich das kaum zum Aushalten. In Deutschland gab es nach 1989 eine antideutsche Kritik, die sagte, dass dem deutschen Nationalismus und Kapitalverhältnis nach der Shoah besonders der Antisemitismus eingeschrieben ist. Daraus entstand auch eine antikapitalistisch begründete Israelsolidarität als notwendige Konsequenz der Abwehr zukünftiger antisemitischer Attacken. Hätte es diese Debatte nicht gegeben, wären nur rechte und reaktionäre Kräfte mit Israel solidarisch.
taz: Aber auch für viele Linke, in- und außerhalb Deutschlands, ist Israels Vorgehen in Gaza völlig inakzeptabel.
Kirsche: Aber es ist wichtig, klarzustellen, dass eine Linke, die auf humanistischer Grundlage argumentiert, mit der Hamas nie solidarisch sein kann. Die sind Gegner von Emanzipation, von Befreiung, von einem friedlichen Zusammenleben. Ich bin fassungslos, dass so viele Linke diese Sachen, die sie sonst hochhalten, vergessen, sobald es um Israel geht. Dann frage ich mich, was da eigentlich vorher schiefgelaufen ist.
taz: Was glauben Sie denn, was schiefgelaufen ist?
Kirsche: Dass Mindeststandards nicht mehr ernst genommen werden: die universalistische Geltung der Menschenrechte, die Anerkennung, dass alle Menschen die gleichen Rechte haben, dass es keine Diskriminierung gibt, dass es keine Ausbeutung geben darf, freie Entfaltung. Misogyne Gewalt, Antisemitismus und Terrorisierung von Zivilbevölkerung stehen allem entgegen, was ich als Linker richtig finde. Deswegen bin ich entsetzt, wenn jemand im Angriff der Hamas ein positives Potenzial sieht. Ich weiß nicht, wie ich mit jemandem diskutieren soll, der so was verteidigt.
taz: Wie sollte man damit umgehen?
Berg: Solidarität kann zwei Ebenen haben: Die Frage nach Gemeinsamkeiten oder auch Menschenrechte für jene einzufordern, mit denen ich nicht übereinstimme. Auch sie haben ein Recht etwa zu leben und zu fliehen, das ich zu verteidigen versuchen kann. Ich finde es aber auch auffällig, dass Forderungen immer nur in Richtung Israel erhoben werden. All den Palästinafreunden der Region sagt kaum jemand: „Öffnet mal eure Grenzen, macht mal Kontingente auf, um die Zivilbevölkerung da rauszuholen und ihr Perspektiven zu geben.“ Die Palästinenser sind für all die umliegenden Staaten Verhandlungsmasse, um Druck auf Israel auszuüben, nie aber Menschen, denen man Perspektiven im eigenen Land eröffnen könnte.
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