Aufstand im Warschauer Getto 1943: Helden, nicht Opfer
Vor 80 Jahren kämpften Juden und Jüdinnen im Warschauer Getto gegen die Nazis. Heute fordern viele eine neue Erinnerung, die auch ins Jetzt führt.
A uf dem großen Denkmal für die Helden des Warschauer Gettoaufstandes 1943 sind alle Kämpfer bewaffnet. Sie halten Granaten, Molotowcocktails, Gewehre und Revolver in den Händen. Eine Jüdin, die versucht, ein Kleinkind aus den Flammen zu retten, stürmt nach vorn – wie die Liberté im Gemälde von Eugene Delacroix. Sie gibt die Deutung vor: Der Aufstand vor 80 Jahren war ein Freiheitskampf.
Empfohlener externer Inhalt
Auf der Rückseite des großen Denkmals zeigt ein Flachrelief Kinder, Frauen, einen Rabbiner mit Thorarolle, gebückt gehende Alte und im Hintergrund wieder Flammen und Helme von Wehrmachtsoldaten. „Gang in die Vernichtung“ heißt das Relief. Für den Künstler Natan Rapaport waren auch sie, die Zivilisten, Helden.
Ihr Widerstand bestand darin, so lange wie möglich zu überleben, sich vor den Nazi-Schergen zu verstecken und – sollte es eine Chance zur Freiheit geben – diese zu ergreifen und auf die andere Seite des Gettos zu fliehen. Wer bis zum Kriegsende durchhielt, hatte eine Zukunft vor sich.
Zum 80. Jahrestag widmet das jüdische Geschichtsmuseum Polin diesem zivilen Widerstand die große Ausstellung: „Um uns herum ein Flammenmeer. Die Schicksale jüdischer Zivilisten im Warschauer Gettoaufstand“. Autorin ist Barbara Engelking, die führende Holocaust-Forscherin Polens.
Bewaffnet – und unbewaffnet
Seit knapp 20 Jahren steht sie an der Spitze eines Forscherteams, das die Shoah im deutsch besetzten Polen auf eine ganz eigene Weise erforscht – interdisziplinär und aus der Perspektive der Opfer. „Mit der Waffe in der Hand kämpften nur rund 1.000 Juden und Jüdinnen. Denn es gab viel zu wenig Waffen“, erklärt die 60-Jährige. „Die rund 50.000 Menschen, die im April 1943 von den einst über 450.000 Juden im Warschauer Getto noch am Leben waren, leisteten aber erheblichen zivilen Widerstand. Das wurde in der bisherigen Forschung oft übersehen.“
Schon Monate vor dem eigentlichen Ausbruch des Aufstandes hatten sich die meisten Juden und Jüdinnen Verstecke gesucht – oft in Bunkern, Kellern und Kanälen. Sie hatten sich Essens- und Trinkvorräte angelegt, sorgten auch für eine Kochstelle, wo weder das offene Feuer noch Rauch das Versteck verraten durfte.
„Die meisten hofften auf ein Weiterleben nach dem Krieg. Das wissen wir aus Briefen und Tagebucheintragungen. In der Ausstellung zeige ich ihren erbitterten Überlebenskampf. Er war auch immer wieder ein Ansporn für die bewaffneten Kämpfer und Kämpferinnen im Getto“, erklärt die Chefin des Zentrums zur Erforschung des Holocausts an der Polnischen Akademie der Wissenschaften.
Der zivile Widerstand im Getto stand in der Vergangenheit nur selten im Mittelpunkt des Interesses. „Wir mussten ihn für die Ausstellung nicht vollständig neu erforschen“, so Engelking. „Aber wir haben doch in den letzten drei Jahren jedes Tagebuch, das in einem Warschauer Gettobunker geschrieben wurde, erneut gelesen und versucht, mehr über die näheren Umstände seines Entstehens und über die Autoren herauszubekommen.“ Das sei auch gelungen.
Ungerechtigkeiten damals – und heute
„Das Interessanteste sind Fotos aus dem Getto, die nicht von deutschen SS-Männern oder Wehrmachtssoldaten gemacht wurden, sondern von Polen“, stellt Engelking klar. „Diese Fotos zeigen eine andere Perspektive.“
„Die neuen Fotos“, findet die Psychologin Paula Sawicka, „das Grau in Grau der Verstecke in den Kellern und Bunkern, vor allem aber die Musik auf dem Audioguide, inspirieren dazu, auch über die Ungerechtigkeiten hier und heute nachzudenken.“ In den letzten Jahren sei die Zahl derjenigen, die fernab der offiziellen politischen Gedenkrituale an die Opfer damals wie heute erinnern wollten, auf mehrere hundert gestiegen. In diesen Trend schreibe sich auch die neueste Ausstellung im jüdischen Geschichtsmuseum Polin ein.
„Die Nazis nahmen den Juden ihre Freiheit, ihre Menschenwürde und schließlich ihr Leben. Wenn wir an den Nachkriegsschwur 'Nie wieder’ denken, müssen wir nicht nur an all die Völkermorde nach der Shoah erinnern, sondern auch an die unmenschliche und entwürdigende Situation für Flüchtlinge an den Grenzen der EU“, stellt Sawicka, die sich für ein alternatives Erinnern ausspricht, klar.
Worte und Taten von Politikern aber klafften oft weit auseinander. Das sei im Kommunismus so gewesen. Und das sei heute nicht viel anders, da die regierenden Nationalpopulisten (PiS) die Wahrheit über die tatsächlichen polnisch-jüdischen Beziehungen im Krieg vertuschen wollten.
In Polen erfrieren wieder Menschen
„Wenn wir genau hinschauen, wo gerade die Menschenwürde mit Füßen getreten wird, dann sind es neben Syrien, Afghanistan und der Ukraine auch die EU-Außengrenzen direkt vor unserer Haustür“, so die 75-jährige Sawicka. In Polen würden an der polnisch-belarussischen Grenze immer wieder Menschen sterben.
„Sie erfrieren, verhungern und verdursten, weil keine medizinische und humanitäre Hilfe zu ihnen durchgelassen wird. Und im Mittelmeer ertrinken immer wieder dutzende, wenn nicht hunderte Geflüchtete, weil die Seenotrettungsschiffe nicht auslaufen dürfen.“
Die Geschichte ins Heute holen, ihr einen Sinn geben – das will auch der Geschichtslehrer Friedrich Huneke von der St. Ursula-Schule in Hannover. Seine Schule nimmt an einem deutsch-polnischen Austausch zum Gedenken an den Aufstand im Warschauer Getto am 19. April 1943 teil. In drei Wochen kämen dann die polnischen Schüler und Schülerinnen zum Gedenken an das Kriegsende am 8. Mai 1945 nach Deutschland.
„Ich bin unglaublich froh, dass wir in Warschau sind, und die 33 polnischen und deutschen Jugendlichen ‚Geschichte zum Anfassen‘ erleben können.“ Er unterbricht sich kurz, deutet auf einen Wolkenkratzer und wiederholt für alle hörbar: „Da genau stand die große Synagoge!“ Wenige hundert Meter weiter erstreckte sich das größte Getto im deutsch besetzten Europa.
Geschichte ernst nehmen
Die Nazis hatten hier die 350.000 Juden Warschaus und weitere rund 150.000 Juden aus der Umgebung, aber auch aus Städten wie Hannover oder Frankfurt auf knapp vier Quadratkilometern zusammengepfercht. Rings herum lief eine 18 Kilometer lange und drei Meter hohe Mauer.
Das angebliche „Seuchensperrgebiet“ konnte an 22 Toren mit von der SS ausgestellten Passierscheinen verlassen und betreten werden. Dennoch gelang nur ganz wenigen Juden und Jüdinnen die Flucht auf die polnische Seite. Die meisten Menschen im Getto starben an Hunger, Krankheiten und später in den SS-Vernichtungslagern Treblinka bei Warschau und Majdanek bei Lublin. Hier wurden auch die deutschen Juden vergast.
Zudem seien aus der Region Hannover über 350 Juden ins Warschauer Getto deportiert worden, ohne dass man dieser Opfergruppe heute gedenken würde. Auch das solle sich mit dieser Reise ändern. „Wenn wir das ernst meinen, dass wir aus der Geschichte lernen sollen, dann müssen bei den Jugendlichen Emotion und Analyse zusammenkommen, um sich auf das künftige Handeln auswirken zu können“, ist Huneke überzeugt.
Bozena Godley, Englischlehrerin am Zmichowski-Gymnasium in Warschau, stimmt ihrem deutschen Kollegen zu: „Die Jugendlichen haben sich vor der Reise schon intensiv mit dem Thema beschäftigt und gemeinsam – in Internetzeiten ist das ja möglich – ein T-Shirt entwickelt. Darauf steht das Motto der Reise: „Zivilcourage“ auf Deutsch und „odwaga cywilna“ auf Polnisch.“
Die Eindrücke der Schüler*innen
Kurz vor dem Abitur sei eine gute Zeit, um über wertegeleitetes Handeln nachzudenken. Respekt gegenüber anderen sei so ein Wert, Empathie oder auch die menschliche Würde – der eigenen Person wie auch die der anderen.
Nach einer kurzen Tour auf den Spuren des Warschauer Gettos ist die 18-jährige Helena aus Hannover fest entschlossen: „Ich komme in jedem Fall wieder. Was wir jetzt in der einen Stunde gesehen haben, das war ja nur eine einzige Straße im damaligen Getto, und wie viele spannende Geschichten das schon waren!“
Die Warschauerin Zuzia, 17 Jahre alt, will sich in der nächsten Zeit intensiver mit den Themen Intoleranz und Stereotype beschäftigen: „Das, was die Nazis damals angetrieben hat, Millionen Juden in Gettos zu pferchen und später zu ermorden, das muss noch schlimmer gewesen sein als ein starkes Vorurteil. Aber – noch fehlt mir das richtige Wort dafür.“
Franciszek, ebenfalls 17 und aus Warschau, kann es nicht fassen: „Obwohl hier Straßenbahn und Metro entlangfahren, wusste ich absolut nichts davon, dass hier gleich nebenan die größte Synagoge Warschaus stand und dass man heute hier die Getto-Dokumente im Original sehen kann.“
Neue Quellen tauchen auf
Barbara Engelking, die Autorin der Ausstellung „Um uns herum ein Flammenmeer. Die Schicksale jüdischer Zivilisten im Warschauer Gettoaufstand“, hat viel dafür getan, um das Wissen über das Leben im Getto zu erweitern und erfahrbar zu machen. Zusammen mit dem Historiker und Literaturwissenschaftler Jacek Leociak veröffentlichte sie das Ergebnis ihrer bisherigen Forschungen: „Das Warschauer Getto. Ein Führer durch eine nicht mehr existierende Stadt“.
In einem Beipack steckten ein knappes Dutzend ausklappbarer Karten. Das Buch gilt heute als Standardwerk und wurde auch ins Englische übersetzt. Für eine deutsche Ausgabe fand sich bislang kein Verleger.
„Wir bereiten gerade die dritte Auflage vor“, so Engelking. „Denn wir konnten in den letzten Jahren durch archäologische Arbeiten und neu aufgetauchte Quellen offene Fragen zum Verlauf der Getto-Grenzen klären.“ Außerdem wisse man heute wesentlich mehr über die Jüdische Soziale Selbsthilfe, eine der wichtigsten jüdischen Organisationen im Getto, sowie über das Leben im Getto, die schwindende Hoffnung auf ein Überleben, die Kontakte nach draußen, Hilfsleistungen, aber auch Erpressung und Verrat durch Polen.
„Für viele Geschichtsinteressierte wird überraschend sein, dass das Warschauer Getto keineswegs am 16. Mai 1943 aufhörte zu existieren, wie der deutsche Kriegsverbrecher Jürgen Stroop offiziell verkündete. Vielmehr versteckten sich Überlebende auf dem Getto-Gelände noch mindestens sieben Monate lang – bis zum Januar 1944“, erläutert Engelking. „Das sind unsere Helden und Heldinnen.“
Das Schicksal der elfjährigen Krystyna
Auch Krystyna Budnicka, die elf Jahre alt war, als der Getto-Aufstand am 19. April 1943 ausbrach und die auch den Warschauer Aufstand 1944 überlebte, gehört dazu. „Ihr Überlebenswille, der aus all ihren Erzählungen spricht, ist immer wieder beeindruckend“, so Engelking.
Budnicka, die vor dem Krieg Hena Kuczer hieß, verlor ihre ganze Familie – die Mutter Cyrla, den Vater Józef Lejzor, die Schwester Perla und die sechs Brüder Izaak, Boruch, Szaja, Ruben, Chaim und Jehuda.
Aus dem Bunker an der Zamenhofstraße, ganz in der Nähe des heutigen Polin-Museums, konnten sich von den zunächst 30 Versteckten nur Krystyna und ihre Cousine Anna retten. Als die Deutschen das Getto Haus für Haus abfackelten und auch ihr Keller glutheiß wurde, meisterten sie den tagelangen Weg durch die Kanäle.
Auf der anderen Gettoseite half ihnen die polnisch-jüdische Organisation Zegota, ein neues Versteck und später weitere Verstecke zu finden. Es war wohl auch Zegota, die für Kost und Logis bei christlichen Polen bezahlte. Während Anna nach dem Krieg nach Israel emigrierte, blieb Hena in Polen. Als Krystyna Budnicka lebt sie bis heute hochbetagt in Warschau. Auch am 80. Jahrestag des Aufstandes wird sie im Museum Polin wieder ihre Geschichte erzählen.
Blick weg von den Tätern
„Was uns nicht interessiert, sind die Täter“, erklärt Engelking. „Das geht so weit, dass wir uns bemühen, möglichst keine von den Deutschen gemachten Fotos aus dem Getto zu zeigen.“ Über viele Jahre habe sich die Öffentlichkeit daran gewöhnt, die Opfer mit den Augen der Täter zu sehen, weil es kaum andere als diese meist inszenierten Propagandabilder gab.
„Diese erneute Viktimisierung der Opfer hatte uns schon immer gestört. Während der Arbeiten zur Ausstellung ist es uns gelungen, neue, das heißt bisher unbekannte Fotos zu finden, die von Polen gemacht wurden. Wir hoffen sehr, dass in den nächsten Jahren weitere Fotos aus dem Getto auftauchen werden, vielleicht sogar Bilder, die Juden und Jüdinnen aus ihren Verstecken heraus machen konnten.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“