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Andreas Reckwitz' Buch „Verlust“Rasender Stillstand

Soziologe Andreas Reckwitz stellt in seinem Buch „Verlust“ fest: Die Motoren der westlichen Gesellschaften laufen auf Hochtouren – mit Schäden.

Das vielleicht eindrücklichste Sinnbild für Verlust: Eisberge, die schmelzen Foto: Jody Martin/reuters

Wenn Sie gern Texte wie diesen in der gedruckten taz lesen, steht Ihnen ein Verlust ins Haus. Die gedruckte taz wird ab Herbst 2025 nur noch als Wochenzeitung erscheinen, nicht mehr täglich. Die taz ist erst der Anfang. Die meisten gedruckten Tageszeitungen werden untergehen. Ist das ein Verlust?

In der klassischen, fortschrittsfrohen Moderne würde dieses Ende eher nicht als Minus verbucht, sondern als Übergang zu einer besseren, schnelleren, billigeren Art, Informationen unter die Leute zu bringen. Printzeitungen rechnen sich nicht mehr. Ihr Aus erscheint in der Erzählung ökonomischer Ratio und technischer Effektivierung zwingend. Die Gutenberg-Galaxis ist Vergangenheit, die wir getrost abhaken können. Das Digitale ist das Neue, das ein besseres Morgen verheißt. Kein Grund zur Trauer. Was untergeht, ist in einer besseren Zukunft aufgehoben.

Wenn wir Andreas Reckwitz folgen, befinden wir uns seit gut 40 Jahren in der Spätmoderne. Die wird noch immer von den Dynamiken der Moderne angetrieben. Aber die Kalkulationen mit Vergangenheit und Zukunft fallen anders aus: zwiespältiger, skeptischer, düsterer.

Vor allem Boomer, die mit Zeitungen groß geworden sind, werden die haptische Erfahrung vermissen, beim Frühstück die taz in der Hand zu haben. Das ist eine Marginalie, die aber auf ein größeres Bild verweist: Ist es das wert? Ist das Neue besser? Werden in dem entgrenzten, beschleunigten, digitalen Social-Media-Kosmos Informationen so rational verarbeitet wie in der Welt der Papierzeitungen und Brötchenkrümel?

Das Buch

Andreas Reckwitz: „Verlust. Ein Grundproblem der Moderne“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024, 463 Seiten, 32 Euro

Orkanartig digitale Umwälzung

Das Ende der Tageszeitungen ist ein mikroskopisch kleiner Teil der orkanartigen digitalen Umwälzung, die die westlichen Gesellschaften durchschüttelt. Industrien gehen unter, digitale Tycoone sind mächtiger, als es Industriebarone je waren. Die Klimakatastrophe, Ergebnis entfesselten Fortschrittsglaubens, verschlingt Inseln. Der Fortschritt ist auch nicht mehr, was er mal war. Verluste haben, so Reckwitz’ zentrale These, ein gefühltes Gewicht bekommen, das von keiner lichten Zukunftsidee mehr schwerelos gemacht wird.

„Verlust“ ist der nicht unbescheidene Versuch, die westlichen Gesellschaften als Projekt zu beschreiben, das vor allem damit befasst ist, die Schäden wegzuerklären, die sie in ihrem Zukunftsfuror selbst anrichteten. Westliche Gesellschaften sind erfindungsreich, um den Preis des Fortschritts zu verkleinern, zu verdrängen, zu banalisieren. Der Unfall gilt als Ausnahme. Wer keinen Erfolg hat, ist selbst schuld. Weil Tod eine Kränkung für jede Fortschrittseuphorie ist, wurde er in der Moderne weitgehend aus dem sozialen Leben verbannt.

Reckwitz katalogisiert und summiert in der ersten Hälfte der Studie die Narrative, die minimieren, was den Fortschritt stört. Bearbeitet werden vor allem Begriffe, Empirie spielt eine Nebenrolle. Die ersten 200 Seiten lesen sich wie eine Schadensbilanz, die ein leicht nerdiger Begriffs-Buchhalter auflistet. Ideen sind seltsamerweise in Fußnoten versteckt. Man rechnet hier offenbar mit einer geduldigen, hochkonzentrierten Leserschaft.

Selbstverwirklichung im Kulturkapitalismus

Reckwitz gilt als präziser Beobachter, der mit dem Besteck soziologischer Begriffsanalyse der Gesellschaft den Puls fühlt. In „Gesellschaft der Singularitäten“ fusionierte er 2017 Individualisierungstheorien mit Analysen des Selbstverwirklichungskapitalismus zu einer neuen Erzählung. Im Kulturkapitalismus müssen alle besonders sein. Das ist ganz schön anstrengend, kann aber auch klappen.

Reckwitz hat ein feines Gespür für Zeitstimmungen. Angesichts von Corona und Kriegen, Klimawandel und Abstieg des Westens ist Verlust als Buzzword treffsicher gewählt. Diese Stimmungsbilder fügt Reckwitz wie Mosaiksteine in großformatige, sperrige Theorien ein. Anders als dunkle, postmoderne Zeitdiagnostiker wie Byung- Chul Han können wir uns Andreas Reckwitz als freundlichen Liberalen vorstellen, der in jedem Katastrophenszenario den brauchbaren, sozialverträglichen Ausgang sucht.

„Verlust“ ist keine radikale Kulturkritik. Das Interesse gilt vielmehr kühl der Frage, wie Gesellschaften Schäden bearbeiten oder verdrängen. Im zweiten, inspirierteren Teil werden diese Manöver mit intellektuellem Schwung seziert. Bereden und Verschweigen sind, so die hellsichtige Deutung, weniger Gegenteile als Aggregatszustände der Verlustbearbeitung.

Reckwitz gilt als präziser Beobachter, der der Gesellschaft den Puls fühlt

In der Spät­moderne (ein Begriff, der mit der Postmoderne nur entfernt verwandt, mit der zweiten, reflexiven Moderne von Ulrich Beck eng verbunden ist) gibt es fast eine Explosion von Verlustbearbeitungen. Der Bogen reicht nicht mehr nur vom Sozialstaat bis zur Haftpflichtversicherung, er umfasst Therapiekultur, postmoderne Architektur und postkoloniale Opferdiskurse. Überall sind Strategien zu erkennen, mit denen künftige Verluste kompensiert oder vergangene dem Vergessen entrissen werden sollen.

Gefühlte Verluste

Reckwitz’ trickreiches Argument lautet: Sowohl die rüde Verdrängung als auch die neuen Empfindsamkeiten zeigen, wie drängend Verlusterfahrungen sind. Die gefühlten Verluste nehmen zu – das ist auch ein Effekt der Gesellschaft der Singularitäten. „Das Ideal des lebenslangen Wachstums der Persönlichkeit radikalisiert den Fortschrittsimperativ, indem er ihn sogar in die Psyche des Subjekts hineinverlagert: Die Biografie selbst soll damit dem Muster des „Immer-besser und des Immer-mehr folgen“.

Wo alle Anspruch auf sozia­len Aufstieg, Wohlstand und private Erfüllung, kurzum Glück, haben, wächst das Unglück auch. Gerade in Gesellschaften, in denen kaum noch jemand an das bessere Morgen glaubt, bekommen die Enttäuschungswellen enorme Wucht.

Die aggressiven Retrofantasien der Rechtspopulisten passen fast fugenlos in diese Skizze. Trump & AfD antworten auf Verlustwahrnehmungen und verknüpfen Opferinszenierungen mit einer rückwärtsgewandten Utopie. Trump ist das Gesicht einer wütenden Gesellschaft, die für die Verluste, die zum Wesen der Moderne gehören, keine sinnvolle Erzählung mehr hat – und dieses Vakuum mit Hass auf Eliten und Migranten füllt.

Aufstieg der Rechtspopulisten

Der Aufstieg der Rechtspopulisten ist in „Verlust“ aber keineswegs der Fluchtpunkt. Die Rechtspopulisten kommen nonchalant am Rande dieses Panoramabildes vor – neben der alternden Gesellschaft (schon wieder – Zukunftsverlust). Das passt zu Reckwitz’ diskursivem Stil, lieber das Strukturelle zu beleuchten, als rhetorische Knalleffekte zu zünden.

Der Fortschritt ist in zwei Teile zerfallen. Die Maschinen der Gesellschaft laufen zwar auf Hochtouren. Unternehmen investieren, weil sie mit Gewinnen in der Zukunft rechnen. Generelles Zukunftsmisstrauen würde zum sofortigen Kollaps der globalen Ökonomie führen. Auch Staaten und Wissenschaft planen unverdrossen.

Doch der Zukunftshorizont ist verfinstert. Die Handys werden besser, schneller, billiger. Aber die Erzählung, in der dies bedeutsam war, ist zerbrochen. Diese widersprüchliche Lage beschreibt Reckwitz mit Paul Virilio als „rasenden Stillstand“.

China und Indien außen vor

Reckwitz betont, dass diese Befunde für westliche, individualisierte Gesellschaften gelten, nicht global. Fair enough. Eine Antwort auf die Frage, ob man 2024 eine Theo­rie der Moderne schreiben kann – das will „Verlust“ sein –, ohne China und Indien im Augenwinkel wahrzunehmen, ist das nicht.

„Verlust“ ist ein kluger, anregender, weit ausgreifender, manchmal ziemlich steifer Versuch, unsere Gegenwart im Westen profund zu beschreiben. Erstaunlich unterbelichtet bleibt dabei der Abstieg des Westens, der nach Jahrhunderten vom imperialen Zentrum zu einem Player unter anderen wird.

Am Ende empfiehlt Reckwitz als Alternative zum Untergang oder stumpfem „Weiter so“ die „Reflexion der Verlusterfahrungen“ und eine Art „reparierte Moderne“. Doch wer da warum den Klempner spielen wird, bleibt diffus. In diese Passage schleicht sich nicht zufällig ein Ton des Appells und ein Gestus des Händeringens. Vielleicht reicht es, wenn Soziologen für die Diagnosen zuständig sind und nicht für Therapien.

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7 Kommentare

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  • Es sind nicht nur die Print-Ausgabe von Zeitungen die verschwinden. Mit dem Medium Druck ging einher, daß die Verteilung der Information ein wesentlicher Kostenfaktor war. Dabei war es ziemlich egal ob es 5 oder 50 Blätter Zeitungspapier waren. Also entwickelten sich Zeitungen zu einem Gemischtwarenladen in dem für jeden etwas drin war: Feuilleton und Politik, Sport und Kultur.



    Im Digitalen besteht dafür keinerlei Grund mehr. Im Gegenteil:

    Das ganze Konzept hat sich in diesem Jahrtausend komplett erledigt: „gewaltige Mengen an Information“? Jeder von uns hat über sein Handy Zugriff auf Wikipedia. Das entspricht ca. 1640 Büchern.

    Wenn ich aber kein Verteilernetz mehr brauche, weil es das Internet gibt, warum sollte ich als Kunde ein Zeitung bezahlten, die Sport, Kultur, Erziehungstipps, Wissen, Ausgehtipps für München, Gesundheit, Arbeit, usw. enthält, wenn mich nur die Politik interessiert? Oder nur für Meldungen über Mosambik? Mit dem Vertriebsweg ist auch das Konzept der Universalzeitung tot. Es existiert nur noch, weil die meisten von uns älter als das Internet sind und an unseren Gewohnheiten hängen, wie an unseren Autos.

  • Das Vergraben in der Zeitung am Frühstückstisch ist eine furchtbare Angewohnheit, die ich mir nie zugelegt habe.

    Vergleichbar unhöflich empfinde ich eigentlich nur noch, wenn alle am Essenstisch ins Handy glotzen.

  • 'Vielleicht reicht es, wenn Soziologen für die Diagnosen zuständig sind und nicht für Therapien.'

    Gute SoziologInnen sollten sich nicht im Stile von SozialtechnikerInnen als Reparaturdienst oder BeraterInnen der Politik und Gesellschaft andienen. Ihre Stärke liegt in der beschreibenden Analyse von Ist-Zuständen in Vergangenheit und Zukunft. SoziologInnen brauchen keine Antworten darauf zu geben, was nun zu machen sei, sie sollten aber die besseren Argumente haben, um zu erklären, warum die Dinge so laufen wie sie laufen. Damit ist in einer Welt, die mittels Narrative geordnet und erklärt wird, schon viel gewonnen.

    In Anlehnung an D. F Wallace: SoziologInnen erklären den Fischen das Wasser in dem sie schwimmen. Die Fische finden das oft merkwürdig, weil sie ja tagein-tagaus im Wasser schwimmen und darum meinen, ihre Missachtung sei die höchste Form des Wissens.

  • Und was ist, wenn Enthaltsamkeit im Ressourcenverbrauch und anderes gar nicht Verlust wären, sondern Besinnung und Fokus?



    Wenn Verluste akzeptieren, sogar den eigenen, das Leben öffnete?

    • @Janix:

      "Verluste" sind ein denkbar schlechtes Framing.

      Menschen akzeptieren so etwas nicht.

      So überzeugt man die Menschen nicht auch wenn Sie faktisch Recht haben.

      Was ist wenn der jetzige Zustand der Verlust bedeutet?

      Sind 2-3Paar Schuhe die ein Leben lang halten und absolut perfekt passen nicht besser als 2 neue Paare pro Jahr? Ist bei Essen nicht der Nährwert und der Geschmack am wichtigsten? Aktuell zählt nur Menge/Form/Optik alle anderen Werte bei Obst/Gemüse sind im Tiefflug. Auch die Auswahl im modernen Supermarkt lässt zu wünschen übrig. Wie viele verschiedene Kräuter gibt es? Wie viel verschiedenes Obst und Gemüse?Vielfalt gibt es doch nur beim Junkfood.

      Wir brauchen MEHR. Nicht WENIGER. Nur halt vom richtigen.

      MEHR offgrid Systeme, MEHR öffentlichen nichtkommerziellen Raum, MEHR Public gardening, MEHR urban Farming. Frische Kräuter und essbare Blumen auf dem Einkaufszentrum ziehen und direkt darunter pflückfrisch verkaufen. MEHR gesellschaftliches Knowhow und Partizipation beim Recycling von Bio Abfällen. MEHR Minimalismus. MEHR lokales, MEHR Auswahl. Qualität > Quantität.

    • @Janix:

      Danke für die Vorlage. Jetzt kann ich wieder zwei meiner Standardsprüche einwerfen:



      "Entsagung ist ein Hochgenuss,



      vorausgesetzt, dass Überfluss



      die Basis der Askese ist,



      denn echter Mangel, der ist Mist."



      --



      Es zählt der Mensch am End



      nur als Konsument.

      • @starsheep:

        Ich weiß nicht ganz, wie Sie es meinten.



        Dass Essen, Trinken, Bildung, Grundinfrastruktur erst mal stehen muss, ist klar. Das heißt in manchen Ländern noch kluges Wachstum.



        Dass das 10. Paar Schuhe nur ungenutzt Platz im Schrank blockiert, doch aber auch. Oder das feiste Auto, in dem nur einer sitzt.



        Wie stellen Sie sich denn vor, wie wir uns wieder in die realen Ressourcenbegrenzungen hineinarbeiten?

        Der 2. Satz passt ferner nicht zum 1. so mein Eindruck.



        Der Mensch ist ferner kein abzufütterndes Haustier mit Brieftasche, sondern seine Würde ist es, die zählt - ich referiere jetzt unser Grundgesetz.