Internationale Beziehungen: Global bescheidener auftreten
Die Welt ist zu komplex, um vom „Westen“ versus Autokratien zu reden. Diese Arroganz ist bei der Suche nach neuen Partnern wenig dienlich.
D er Westen – das ist mehr als die Himmelsrichtung, aus der das Wetter nach Europa kommt. Es gibt auch den politischen Westen. Deutschland wie Europa wird „der Westen“ gerne als politische Identität angeboten. Der politische Westen teilt sich in die Idee vom Westen und den realen Westen. Die Gegner der Idee des Westens ebenso wie die Verteidiger des realen Westens haben Interesse daran, die Differenz zwischen Idee und Realität zu leugnen.
Die Idee des Westens – das ist die Französische Revolution, das ist die Westminsterdemokratie Englands, das ist die amerikanische Verfassung – und das deutsche Grundgesetz. Es ist Demokratie, Herrschaft des Rechts, Gewaltenteilung, Meinungs- und Pressefreiheit ebenso wie die Gewerbefreiheit. Die Idee des Westens mündete im demokratischen Kapitalismus. Sie brachte Freiheit und Wohlstand weit über Europa und Nordamerika hinaus.
war Umweltminister und Fraktionsvorsitzender der Grünen. Bis zu seinem Austritt aus dem Bundestag war er Mitglied im Auswärtigen Ausschuss.
Die Idee des Westens hat sich universalisiert und fand ihren augenfälligsten Niederschlag in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die alle Mitglieder der Vereinten Nationen ratifizierten. Die Gegner der Idee des Westens, wie China oder Russland, versuchen, die Staaten des globalen Südens hinter Autokratien zu versammeln. Sie sehen eine Bipolarität zwischen Nord und Süd.
Die Vertreter des Status quo in Europa wie den USA teilen die Welt gerne in eine neue Blockkonfrontation zwischen Demokratie und Autokratie. Beide bipolaren Sichtweisen werden der Realität einer multipolar gewordenen Welt mit vielen Akteuren und Machtzentren nicht gerecht. Heute gefallen sich Länder wie China und Russland darin, die universellen Rechte der UN-Charta als „westliche“ Werte zu diskreditieren und zu denunzieren. Das ist falsch und gefährlich.
Keine reine Weste
Der reale Westen aber hat viel dazu beigetragen, dass Autokraten das gelingen kann. Von Beginn an stand der reale Westen im Konflikt zur Idee des Westens. Die Herausbildung der Vereinigten Staaten von Amerika geschah auf der Basis einer großartigen Verfassung, begleitet vom Rassismus und der Sklaverei gegen Schwarze, der Gewalt und dem Vertragsbruch gegenüber den indigenen Völkern Nordamerikas – zu besichtigen in zwei großartigen Museen in Washington D.C. Die Westminsterdemokratie England beutete seine Kolonien in Indien und Afrika brutal aus.
Das Land der Französischen Revolution hielt sich Kolonien von Vietnam über Algerien bis zum Sahel. Die kaiserliche deutsche Kolonialmacht war weit von der Idee des Westens entfernt – trotzdem brauchte Deutschland 50 Jahre Demokratie, bis es seinen Völkermord in Namibia anerkannte. Es gibt nicht nur diese finstere Geschichte. Der reale Westen hat Europa – gemeinsam mit Stalins Sowjetunion – vom Faschismus befreit. Eine große historische Leistung.
Mit dem Sieg über Nazi-Deutschland entstand die bis heute bestehende völkerrechtliche Ordnung im Rahmen der Vereinten Nationen. Aber sie spiegelt auch die Machtverhältnisse von 1945 wider, als Indien und China arm und kolonialisiert waren – während Frankreich und Großbritannien Weltmächte zu sein glaubten. Die Welt hat sich seitdem verändert. Die Idee des Westens aber blieb auch nach 1945 global im Widerspruch mit der Realität.
Indien musste sich die Demokratie im gewaltlosen Widerstand gegen England erkämpfen. Algerien und Vietnam befreiten sich gewaltsam von Frankreich. Vietnam musste danach erleben, wie die großen USA versuchten, das kleine Land „in die Steinzeit zurück zu bomben“. Die USA überzogen ganz Südamerika mit Militärdiktaturen. Sie überfielen nicht nur das winzige Grenada, sondern griffen völkerrechtswidrig den Irak an.
Auf Kosten der Demokratie
Der demokratische Kapitalismus Europas wie der USA lebte den Widerspruch zwischen Demokratie und Kapitalismus im Zweifel regelmäßig zulasten der Demokratie aus. Ob Südafrika, Brasilien oder Chile, in all diesen Ländern musste die Idee des Westens gegen den realen Westen erkämpft werden, von der Zivilgesellschaft und mit der Waffe in der Hand. Nelson Mandela und Ronnie Kasrils in Südafrika, Lula da Silva und Dilma Rouseff in Brasilien verkörpern beeindruckend die Idee des Westens.
Aber Südafrika und Brasilien sind mit dem demokratischen Indien Mitglieder der Staatengemeinschaft BRICS, die sich explizit gegen „den Westen“ gegründet hat und China wie Russland zu seinen Mitgliedern zählt. Der globale Süden hat die Widersprüche des demokratischen Kapitalismus Europas wie der USA aufmerksam wahrgenommen. Denn sie reihen sich in die lange Kette von kolonialer Selbstüberhöhung und Demütigung der Nicht-Weißen ein.
Der US-Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington („Clash of Civilizations“), bestimmt kein antiimperialistischer Ideologe, schrieb: „Der Westen eroberte die Welt nicht durch die Überlegenheit seiner Ideen oder Werte oder seiner Religion (…), sondern vielmehr durch seine Überlegenheit bei der Anwendung von organisierter Gewalt. Oftmals vergessen Westler diese Tatsache; Nichtwestler vergessen sie niemals.“
Der Globalhistoriker Jürgen Osterhammel, der 2014 Festredner zum 60. Geburtstag von Angela Merkel war, bemerkt zu Recht, dass „in den Begriffskern des Westens die Vorstellung der eigenen Überlegenheit eingebaut ist. Der Nicht-Westen wird stets inferior gesehen. Westen ist deshalb ein Begriff der Arroganz“. Und: „Kein Westen ohne Zivilisationsgefälle“. Westen ist kein durchweg positiver und erst recht kein unschuldiger Begriff.
„West gegen den Rest“ ist passé
Es ist im pragmatischen Eigeninteresse Europas und Deutschlands, sich von diesem Konstrukt Westen zu verabschieden und global bescheidener aufzutreten. Die Zeiten, als der Westen, die USA und Europa, sich diese Arroganz global leisten konnte, sind vorbei. Der demokratische Kapitalismus ist nicht mehr das Rollenmodell für Wachstum und Wohlstand – zu besichtigen am wirtschaftlichen Aufstieg Chinas.
Die Befreiung von 800 Millionen Menschen aus absoluter Armut, die Herausbildung einer globalen Mittelschicht war nicht möglich ohne die Globalisierung. Aber sie geschah ohne Demokratie und ohne Freiheit. Auch wenn es bitter ist: Das Wohlstandsmodell des demokratischen Kapitalismus hat einen echten Konkurrenten bekommen. Wer in dieser Welt den Kampf „West gegen den Rest“ ausruft, wird in weiten Teilen der Welt als hochmütiger Erbe einer finsteren Geschichte gesehen.
Verkannt wird, dass es unzählige große und kleine, demokratische wie semiautokratische Länder gibt, die sich weder exklusiv China noch den USA zuordnen wollen. Das gilt für Länder, die in ihrer Sicherheit von den USA, aber im Handel von China abhängig sind, von Japan über Südkorea bis Singapur. Das gilt für das autokratische Vietnam. Es gilt für Demokratien wie Südafrika oder Indien, obwohl sie militärisch mit Russland zusammenarbeiten.
Die multipolare Welt, in der wir schon jetzt leben, wird nicht von starren Blöcken wie vor 1989 bestimmt. In ihr dominieren komplizierte Aushandlungsprozesse, in denen konkrete Angebote und Interessen den Ausschlag geben. Europa kann da durchaus selbstbewusst auftreten. Im Verhältnis zu Indonesien oder Vietnam, Südafrika oder lateinamerikanischen Staaten hat Europa auch in der Konkurrenz mit China viel zu bieten – zumal die Realität der Zinszahlungen im Rahmen der chinesischen Belt and Road Initiative im Globalen Süden zunehmend sauer aufstößt.
Ein ökonomisch resilientes Europa
Die Idee Europa ist, so Jürgen Osterhammel, weit weniger „ideologisch, moralisch und normativ aufgeladen“ als die des Westens, trotz seiner Kolonialgeschichte. Ein souveräneres Europa lebt nicht in Äquidistanz zu den USA und China. China ist für Europa Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale. Die USA sind Partner, insbesondere in der Sicherheitspolitik, und Wettbewerber. Ob sie unter einer neuen Trump-Administration auch zu einem systemischen Rivalen würden, weil sie sich von der Idee des Westens verabschieden würden, ist eine offene Frage.
Ökonomisch aber ist der Westen eine Fiktion. Auf den Märkten sind die USA und Europa Konkurrenten, keine Verbündeten. Joe Biden hat den Zollkrieg von Trump gegen Europa, das „worse than China“ sei, nicht beendet, sondern zuletzt bei den Zöllen draufgesattelt. In einer multipolar gewordenen Welt ist die zukünftige Ausgestaltung der internationalen Ordnung offen. Europa hat ein großes Interesse an der Bewahrung der regelbasierten Ordnung auf der Basis der UN-Charta, am Schutz unserer Lebensgrundlagen.
Dafür muss Europa sich ertüchtigen. Dazu gehört mehr ökonomische Resilienz, wie sie Mario Draghi gerade treffend skizzierte. Und dazu gehören auch die von Ursula von der Leyen geforderten verstärkten gemeinsamen Rüstungsanstrengungen. Es geht um mehr europäische Souveränität. Die globalen Herausforderungen, von der Klimakrise, Ungleichheit, Pandemien bis hin zu Kriegen und Konflikten, kann Europa nicht allein, auch nicht allein mit den USA angehen.
Dafür braucht es Partner in der Welt. Alte, bewährte Partnerschaften, aber eben auch neue Partner. Die gewinnt man nicht, in dem man „den Westen“ beschwört. Es ist höchste Zeit, das Gerede von „dem Westen“ ad acta zu legen. Es schadet Europa mehr, als es nützt. Denn der politische Westen, der 1789 und die Französische Revolution, der die amerikanische Verfassung und die Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte meint, war nie der reale Westen.
Wir leben in einer multipolar gewordenen Welt. Wer in ihr den Süden gewinnen will, muss sich von „dem Westen“ verabschieden. Von seiner arroganten Rhetorik, aber vor allem von der Gewalt des realen Westens. Nur so kann die Idee des politischen Westens als universelle Vision überleben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Trump erneut gewählt
Why though?
Harris-Niederlage bei den US-Wahlen
Die Lady muss warten
Pro und Contra zum Ampel-Streit
Sollen wir jetzt auch wählen?
Pistorius stellt neuen Wehrdienst vor
Der Bellizismus kommt auf leisen Sohlen
Abtreibungsrecht in den USA
7 von 10 stimmen „Pro-Choice“
Protest in Unterwäsche im Iran
Die laute Haut