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Anschlag in SolingenEin Anschlag auf die Vielfalt

Nach dem mutmaßlich islamistischen Anschlag in Solingen kämpft die Stadt mit den Folgen: Wachsende Unsicherheit und Instrumentalisierung von rechts.

Mit Blumen, Kerzen, Schildern drücken Menschen in Solingen ihre Trauer und Fassungslosigkeit über den Anschlag aus Foto: Thilo Schmuelgen/rtr

Berlin/Solingen taz | Am Sonntagnachmittag ist der Tatort noch immer abgesperrt. Am Boden vor dem Fronhof in Solingen liegen Blumen und Kerzen. Auf einem Schild steht: „Warum?“ und „Du bist nicht allein.“ Von dem „Festival der Vielfalt“ und der ausgelassenen Stimmung, die hier herrschte, ist nichts mehr zu spüren. Solingen steht nach dem Anschlag unter Schock. Und während mehr Details über den Täter bekannt werden, sorgt sich die Zivilgesellschaft auch, dass der Anschlag nun für Hetze missbraucht wird.

Am Freitag waren Hunderte Menschen in der Innenstadt versammelt, um das 650-jährige Jubiläum ihrer Stadt zu feiern. Während eines Bandauftritts am Fronhof ging ein Mann mit einem Messer auf die Feiernden los und stach wahllos auf sie ein. Er tötete drei Menschen und verletzte acht weitere, fünf davon schwer. Sofort nach der Tat ergriff er die Flucht und warf die Tatwaffe in einen Mülleimer.

Suzan Köcher ist mit ihrer Band mitten in ihrem Auftritt, als sie bemerkt, wie die Stimmung kippt. Der taz und anderen Medien hat sie ein Statement geschickt: „Wir hatten gerade die letzte Note unseres vorletzten Songs gespielt, da ist mir plötzlich aufgefallen, dass die Leute fluchtartig den Platz verlassen.“

Als sie Menschen schreien hört, sucht sie sich Schutz. „Wir wussten nicht, auf wen es der Angreifer abgesehen hat und ob es sich um ein Messer oder eine Schusswaffe handelt, weshalb ich mich so flach hingelegt habe, wie es geht. Von der Tat selbst habe ich nichts gesehen“, schreibt die Sängerin. „Ich bin unglaublich traurig. Wir haben mit unserem Publikum getanzt und uns treiben lassen. Sekunden später haben Menschen ihr Leben verloren und hunderte weitere Leben haben sich schlagartig verändert.“

In der Nacht auf Sonntag konnte die Polizei den mutmaßlichen Messerangreifer festnehmen: ein 26-jähriger Syrer, Issa al-H. Laut Ermittlungsbehörden stellte er sich einer Polizeistreife und gestand die Tat. Fast zeitgleich hatte die islamistische Terrorgruppe „Islamischer Staat“ die Messertat für sich reklamiert. Inzwischen hat die Bundesanwaltschaft die Ermittlungen übernommen. Gegen der Syrer wurde ein Haftbefehl erlassen. Nach taz-Informationen hatten Sicherheitsbehörden zunächst keine Erkenntnisse, ob und wie Issa al-H. in direktem Kontakt zum IS stand. Die Terrorgruppe hatte erklärt, dass der Täter „ein Soldat des Islamischen Staates“ sei. Er habe die Tat „als Rache für die Muslime in Palästina und überall“ ausgeführt.

Angst vor „englischen Verhältnissen“

Erst im Mai hatte ein Messerangriff eines 25-jährigen Afghanen auf eine Kundgebung des Anti-Islam-Aktivisten Michael Stürzenberger in Mannheim für Bestürzung gesorgt. Ein Polizist wurde dabei getötet. Vor gut einem Jahr hatte ein Islamist in Duisburg einen Mann mit einem Messer getötet und vier weitere verletzt. 2021 hatte ein 27-Jähriger in einem ICE in Bayern auf drei Menschen eingestochen, 2020 ein 20-Jähriger in Dresden einen Mann erstochen und seinen Partner verletzt. Auch diese Taten wurden als islamistisch eingestuft.

Laut Medienberichten soll Issa al-H. bei der Festnahme blutverschmierte Kleidung getragen haben. Nach taz-Informationen fiel er bisher nicht extremistisch auf. Der 26-jährige war Ende 2022 nach Deutschland gekommen und hatte als Syrer zunächst einen subsidiären Schutzstatus erhalten. Im vergangenen Jahr sollte er nach Bulgarien abgeschoben werden, wo er zuerst in der EU eingereist sein soll. Am Abschiebetermin konnte er aber nicht angetroffen werden. Zuerst hatte die Welt darüber berichtet. Das Fest in Solingen war kurz nach der Tat abgebrochen worden, in der Stadt herrschte Entsetzen.

Daniela Tobias von der Bürgerinitiative „Solingen ist Bunt statt Braun“ beobachtet, wie Menschen das Motto der Jubiläumsfeier nun zum Anlass nehmen, um den Anschlag politisch zu instrumentalisieren. „Schon wenige Minuten nach dem Anschlag kamen die ersten E-Mails bei uns an. Auf Begriffen wie Vielfalt oder Klingenstadt wurde sofort rumgeritten“, sagte Tobias der taz.

Für Sonntagabend (nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe) hat die Junge Alternative, die Jugendorganisation der AfD, unter dem Motto „Remigration rettet Leben“ eine Kundgebung auf dem Kirchplatz angemeldet. Dieser liegt unmittelbar in der Nähe des Tatorts und auch der Flüchtlingsunterkunft, in der der Täter lebte.

In der Zange

Eine antifaschistische Kundgebung ist deshalb zeitgleich zwischen der Flüchtlingsunterkunft und der rechten Demonstration geplant. „Wir wollen uns schützend vor die Unterkunft stellen“, sagt Daniela Tobias. die die Kundgebung mitorganisiert. Die Zivilgesellschaft in Solingen sei stark, sagt sie. Aber man habe auch die Bilder vom Brandanschlag 1993 im Kopf, bei dem fünf Menschen von Rechtsextremen ermordet wurden. „Wir haben Angst vor englischen Verhältnissen“, sagt Tobias mit Blick auf die rechtsextremen Ausschreitungen in Großbritannien vor wenigen Wochen. Das Motto der antifaschistischen Demonstration trage deshalb den Namen: „Pogrome verhindern, bevor sie entstehen“.

Auch in den kommenden Tagen dürfte die Stimmung in Solingen angespannt bleiben. Für Montag hat der „Solinger Widerstand“ – ein Sammelbecken für Impfgegner und Rechtsextreme – mit Plakaten in der Stadt zu einer Demonstration aufgerufen.

In der Stadt herrscht ein Gefühl der Unsicherheit. „Dieser Mensch, der das getan hat, hat sich gegen Vielfalt gerichtet“, sagt Tobias. „Jetzt werden wir von zwei Seiten in die Zange genommen.“

Es ist diese Unsicherheit, die auch den Pfarrer Thomas Förster von der evangelischen Kirche bewegt. „Viele Menschen können noch gar nicht wirklich sortieren, was passiert ist“, sagte er der taz. Die Kirche hat nach dem Anschlag eine Notfallseelsorge für die Betroffenen des Anschlags eingerichtet.

Durch den Nebeneingang in die Kirche

Am Sonntagmorgen fand in der Stadtkirche ein Trauergottesdienst statt, sie grenzt direkt an den Tatort. Wegen der Absperrungen mussten die Trauernden die Kirche durch einen Nebeneingang betreten. Die Kirche war voll, einige Dutzend der etwa 700 Trauernden mussten stehen. Am Samstagabend kamen bereits 1.500 Menschen zu einer Gedenkveranstaltung auf dem Neumarkt zusammen.

Förster sagt, es sei „bitter, dass Menschen diese schreckliche Tat nun instrumentalisieren, um gegen Vielfalt zu sprechen“. Er hofft auf den Zusammenhalt seiner Mitbürger. „Ich wünsche mir, dass wir das als Stadt gemeinsam durchstehen“, sagt der Pfarrer.

Einen Bericht über die rechten Demonstrationen und Gegendemonstrationen am Sonntagabend finden Sie hier.

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13 Kommentare

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  • Gideon , Moderator*in

    Vielen Dank für eure Beiträge, wir haben die Kommentarfunktion geschlossen. Die Moderation

  • In Solingen wurden am Freitag drei Menschen bei einem Messerangriff getötet. Nun kämpft die Stadt mit den Folgen.



    ---



    Das ist mMn. der "Preis" für die Freiheit in der wir leben, leben möchten!



    Doch auch in "Unfreiheit" sind mMn. solche Taten nicht zu verhindern!



    Denn, selbst in "hoch autokratischen sich absperrenden Diktaturen", vergl Nord-Korean, oder Ex.DDR usw., sind solche Taten nicht zu verhindern. Es wird nur nicht darüber berichtet!



    "Ideologie getriebene Einzeltäter" sind mMn. fast nicht aufzuhalten.



    Solche Taten können nur im Vorfeld verhindert werden, & DAS ist nur dann möglich, wenn die "Community" Hinweise auf die o.a. weiter gibt, denn "Täter & Taten" kommen ja nicht aus ner "Black-Box", haben ein Umfeld, das etwas bemerken wird, kann, sollte usw.!

    Doch DAS werden die Menschen aus dem Umfeld wohl nur dann tun, wenn SIE sich hier willkommen fühlen, unsere Werte teilen & dieses unsägliche "WIR & DIE" soweit wie möglich verschwindet!

  • Für die Menschen, dute das miterleben mussten, ist es sicher ein Schock. Man will sich dute Situation gar nicht ausmalen, ist in Gedanken aber bei den Opfern und Hinterbliebenen.



    Aus der Ferne betrachtet wird natürlich der Brandanschlag von Solingen wieder wach, der für uns im Westen, ein schwerer Schlag war.



    Neben der Trauer um die Ermordeten und für Ihre Freunde und Verwandten, zeigte sich, dass derartige Anschläge eben nicht auf irgendwelche Regionen begrenzt waren, sondern Jederzeit und überall möglich sind.



    Das jetzige Attentat ist eine weitere, traurige Nachricht.



    Natürlich erschüttert das eine Stadt.



    Das einzig gute ist die aktuelle Meldung, dass ein Verdächtiger nun gefasst wurde.

  • Wasser auf die Mühlen der Populisten



    Leider hat sich nun bewahrheitet, was rechte Populisten ohne Beweis einfach so raus gehauen haben, als Täter hat sich ein Syrischer Asylant bekannt. Die Populisten werden dies nun widerlich ausschlachten und den Ausländerhass noch mehr schüren. Und ich fürchte wir werden das bei den anstehenden Wahlen schon merken - traurig.

  • Der Täter hat sich ja inzwischen gestellt. Es wird jetzt also wie immer das gleiche Schauspiel geboten werden.



    Die Rechten nutzen die Tat für widerliche Hetze. Die Linke bringt ihre Sorge zum Ausdruck, der Einzelfall könne instrumentalisiert werden. Beide Seiten kümmern sich Null darum das grundlegende Problem zu lösen, sondern sind nur bestrebt im Diskurs mit der Gegenseite zu punkten. Inzwischen leider das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung allerdings rapide und damit die Bereitschaft für law and order Populismus verfänglich zu sein. Kann es in solchen Artikeln nicht auch einmal um Fragen gehen wie was können wir ganz konkret tun, um die Wahrscheinlichkeit solcher Anschläge zu minimieren? Dann bräuchten wir auch weniger Krokodilstränen über rechte Propaganda zu vergießen.

  • Der Verweis auf den Brandanschlag ist hier wohl unseriös- der Täter ist ein Syrer und kein Rechtsradikaler.

  • Mein Beileid den Angehörigen. Es würde mich nicht wundern, wenn wie in Würzburg eine psychiatrische Erkrankung beteiligt wäre. Tagesschau24 hat berichtet, dass der Täter auf den Hals der Opfer gezielt hat. Mit dieser detaillierten Tatbeschreibung können wir den Effekt der Maßnahme "Klinge bis 6 cm" glatt vergessen, denn die Halsschlagader liegt direkt unter der Haut, das weiß jeder vom Erste Hilfe Kurs. Man kann nicht klar genug sagen: 1) dass die Häufigkeit schwerer psychiatrischer Erkrankungen in der Bevölkerung bei 1% liegt, 2) dass sich jeder Gedanken machen sollte wie er sich in einer derartigen Situation richtig verhält. Hier hat Panik zur Flucht des Täters geführt. In Mannheim hat ein Passant die erfolgreiche Abwehr des Angreifers zunichte gemacht, indem er auf andere Passanten eingeschlagen hat, die den Attentäter bereits erfolgreich fixiert hatten. Das Politikergerede von "schrecklich, feige, schwer betroffen etc." hilft für die Zukunft nichts. Es ist trotz der vielen gleichartigen Ereignisse so , als hätten sie nichts konkret nützliches für die Bevölkerung gelernt.

  • Es ist da was den meisten einfachen Leuten aus dem Volk klar war: Ein nahe des Anschlags lebender Asylbewerber aus Syrien der sich zum IS bekennt war es. Hat es gestanden und sich nach unklaren Informationen gestellt bzw. wurd ebei einer Durchsuchung aufgegriffen. Ein paar Punkte die wichtig sind wenn man normale Menschen und ihre Stimmen in Zukunft erreichen will:

    1) Die immergleichen Floskeln von Kanzler, Bundespräsident und Innenministerin bringen keinerlei Pluspunkte mehr, sie werden von vielen zynisch wahrgenommen. Sei es "Lebensweise nicht kaputt machen lassen" "nicht spalten lassen" oder anderes, das ist alles Makulatur, das Land sagt Feste ab und es ist politisch gespalten und im Umbruch wie die Wahlen nächste Woche zeigenw erden.



    2) Es bringt nichts mehr die Augen zu verschließen: Es ist moralisch überhaupt nicht zu verteidigen, was diese Schutzsuchenden hier tun und wie sie uns ängstigen (damit meine ich viele Menschen nicht jeden einzelnen TAZ-User, der das anders sehen mag) und viele Schwierigkeiten in der BRD verursachen.



    3) Es kommt reflexartig der Ruf den Rechten nicht in die Hände zu spielen als sei das das Problem was der Anschlag darstellt. Nein - Anschläge sinds

  • Mein Beileid den Angehörigen der Opfer. Hoffentlich werden die Verletzten wieder gesund.

    • @aujau:

      Ich schließe mich an.

  • Sotty, aber könnt ihr vielleicht bitte einen Artikel schreiben, wie man sich gegen Messerattacken schützen kann?



    Stühle, Einkaufswagen, Regenschirme,



    In Japan haben sie so eine lange Stange mit einer Art U vorne dran, damit hält man sich den Angreifer vom Hals.

  • Diese im Artikel geschilderte, jetzt schon einsetzende perfide politische Instrumentalisierung der schrecklichen Tat von rechter Seite widert mich so an, ich kann es gar nicht in Worte fassen. Man steht dem unheimlich fassungslos, traurig und zugleich wütend gegenüber.



    Ich kann diese Hetze einfach nicht mehr ertragen … irgendwie hoffe ich noch darauf, dass die Gesellschaft massenhaft, nachhaltig und wirksam dagegen aufsteht.



    Diejenigen, die politisches Kapital aus islamistischem Terror schlagen wollen und daraus ihren Honig saugen, sind um keinen Deut besser als der Attentäter und dessen islamistische Hintermänner, die die Tat jetzt für sich reklamieren … das sage ich in aller Deutlichkeit.



    Mein Mitgefühl und meine Trauer gilt jetzt jedoch den Opfern der schrecklichen Terrortat, ihren Angehörigen und der ganzen Stadt Solingen.

  • Ja da solle man sich vieleicht entscheiden, nebulöser Datenschutz oder realer Personenschutz durch Kameraüberwachung.



    Kameraüberwachung bei solchen Veranstaltungen wären eventuell die bessere Entscheidung. Kameras verhindern nicht unbedingt einen Anschlag, machen aber den Tätern größere Probleme und der Polizie eine bessere Täterverfolgung möglch.