Krawalle in Großbritannien: Tote Mädchen als Machtinstrument

In Großbritannien marodieren nach einem Mord an drei Mädchen rechtsextreme Mobs. Incels und Rechte motiviert eine diffuse ideologische Mischung.

Hauptsache Zerstörung: De­mons­tran­t*in­nen vor dem Holiday Inn in Rotherham Foto: Danny Lawson/PA Wire/dpa

BERLIN taz | Was am Wochenende in Großbritannien passiert ist, zählt zu den brutalsten rechtsextremen Ausschreitungen im Großbritannien der Nachkriegszeit. Seit Tagen marodieren Mobs aus organisierten Neonazis und Wut­bür­ge­r*in­nen durch zahlreiche britische Städte, verüben Angriffe auf Moscheen und Geflüchtetenunterkünfte und schaffen eine Atmosphäre absoluter Angst, vor allem für muslimisch gelesene Menschen.

Als Legitimation für diese pogromartige Gewalt wird der Mord an drei Mädchen in der Küstenstadt Southport im Nordwesten Englands am 29. Juli herangezogen. Der 17 Jahre alte Täter drang in die Räumlichkeiten einer Tanzschule ein, wo gerade ein Taylor Swift-Tanzkurs stattfand, und tötete die sechsjährige Bebe King und die sieben Jahre alte Elsi Dot Stancombe. Er verletzte neun weitere Kinder und zwei Erwachsene, die sich schützend vor die Schü­le­r*in­nen stellten. Die neunjährige Alice Dasilya Aguiar verstarb im Krankenhaus.

Bereits kurze Zeit nach dieser Tat haben Mitglieder der besonders ekligen Orte im Internet den dreifachen Mord zelebriert. Auf Incel-Foren wird der Mörder bereits als „neuer Heiliger“ gehandelt. Die Kommentare lauten beispielsweise: „Taylor Swift-Fans sind alle Feministinnen, also ist das toll“, oder „Komplettes Lifefuel [Incel-Jargon für „Lebenselixier“]. „Das werden sicher Huren, die, wenn sie aufwachsen, das Schwanzkarussell reiten und Incels hassen“.

Wie kaum eine andere kontemporäre Künstlerin steht Taylor Swift für weibliche Selbstbestimmung – und ist damit Hassobjekt von misogynen Männern auf aller Welt. Auf Incel-Foren, dem Imageboard 4chan und auf dem von Menschenfeinden frequentierten Troll-Forum Kiwi Farms amüsieren sich User nicht nur über den dreifachen Kindsmord, das Leid der Angehörigen und der Community von Southport, sondern auch darüber, dass der Täter Migrationshintergrund hat.

Viele User dieser Foren zeichnen sich durch extremen Zynismus und voyeuristische Freude an Gewalt aus. Seitdem bekannt ist, dass der Täter nicht weiß ist, erwarten Mitglieder dieser Online-Echokammern händereibend rassistische Ausschreitungen.

Empathie ist ihnen fremd

Empathie mit den Mord­opfern und den Angehörigen oder Angst um als muslimisch gelesene Bri­t*in­nen ist ihnen fremd. Bereits am Tag des Mordes folgte auf eine friedliche Mahnwache eine rechtsextreme Demonstration, bei der laut Angaben der antifaschistischen Britischen NGO „Hope Not Hate“ über 60 Po­li­zei­be­am­t*in­nen verletzt worden sind.

Die Demonstrierenden machten deutlich, dass sie kein Interesse an einer pietätvollen Trauerveranstaltung hatten: rassistische Sprechchöre und Skimasken prägten die Veranstaltung, die der Auftakt zu einem Wochenende voller rassistischer Hetze und Gewalt war. Die Demonstrationen sind ein ideologischer Mischmasch aus Muslimfeindlichkeit und einem generellen diffusen Hass auf „die da oben“.

Unterfüttert wird der Hass von einer Flut an Desinformationen, gepusht unter anderem durch rechtsextreme Ak­teu­r*in­nen wie den Neonazi Tommy Robinson, den frauenverachtenden Influencer Andrew Tate oder Ver­tre­te­r*in­nen von faschistischen Gruppen wie der Patriotic Alternative. Sie behaupten fälschlicherweise, der Mörder der drei Mädchen sei Migrant und Muslim gewesen. Dies stimmt beides nicht – er ist Brite und auch nicht muslimisch.Obwohl der Täter minderjährig ist, wurde seine Identität von rechten Gruppen publik gemacht.

Die aufflammenden Proteste sind lose und über Telegram organisiert. In der inzwischen privaten Telegram-Gruppe „Southport Wakes Up“ organisieren knapp 15.000 Use­r*in­nen Aktionen, vernetzen sich und teilen rechtsextreme Propaganda, darunter Videos und Bilder des Attentats von Christchurch.

Muslimfeindliche Fake News

Ein Post verherrlicht den Rechtsterroristen, der 55 Muslime ermordet hat, als „weiße Legende“, darunter steht „Fuck Islam, fuck Jews, 1488“ – letzteres ein rechtsextremer Zahlencode, der für die „14 Words“ [eine Chiffre für den von dem US-amerikanischen Neonazi David Eden Lane geprägten Satz „We must secure the existence of our people and a future for white children“] und „Heil Hitler“ steht.

Immer wieder werden die Chats, aber auch Plattformen wie Tiktok und Twitter mit muslimfeindlichen Falschnachrichten geflutet, um die Empörung am Laufen zu halten: Muslime hätten einen Pub angezündet oder Demonstranten mit einem Messer angegriffen.

Auch deutschsprachige rechtsextreme und verschwörungsideologische Telegram-Gruppen verbreiten die rassistische Propaganda aus Großbritannien. Die Intention ist eindeutig: auch in Deutschland soll eine ähnliche rassistische Stimmung wie im Vereinigten Königreich angefacht werden.

Klima der Verrohung

Ras­sis­t*in­nen brauchen keine Gründe oder Legitimation für ihren Hass. Reaktionäre menschenfeindliche Ideologien sind nicht rational. Rassismus ist eine Ideologie und ein Instrument der Abwertung, Ausbeutung und Herrschaft von und über nichtweiße Menschen. Dass diese Ausschreitungen aber gerade jetzt auftreten, ist in das aktuelle politische und gesellschaftliche Klima einer allgemeinen Verrohung einzuordnen.

Weltweit erstarken faschistische Kräfte, und die Krisen des Spätkapitalismus artikulieren sich regelmäßig in beispielsweise Sozialchauvinismus oder Geflüchtetenfeindlichkeit, in der Illusion, durch Ausgrenzung von Schwächeren den eigenen kleinen „Wohlstand“ verteidigen zu können.

Influencer*innen, die Menschenfeindlichkeit zu ihrem Geschäft gemacht haben, radikalisieren bereits Jugendliche. Kurz: die rassistische Propaganda rechtsextremer Ak­teu­r*in­nen trifft gerade auf einen extrem fruchtbaren Boden.

Misogyne Ideologie

Die drei ermordeten Mädchen könnten den rassistischen Mobs egaler nicht sein – es handelt sich hier um Menschen, deren politische Ideologie grundlegend misogyn und antifeministisch ist. Aber gerade so etwas Entsetzliches wie der Mord an drei Kindern lässt sich ganz hervorragend instrumentalisieren, um gesellschaftlich ohnehin omnipräsente rassistische Ressentiments zu befeuern und Menschen zu radikalisieren, auf dass sie sich von gefestigten Neonazis mitreißen lassen.

Auch in Deutschland passiert dies immer wieder: sobald der Täter eines Femizids oder einer Vergewaltigung nicht weiß ist, wird dieser Akt für xenophobe Stimmungsmache genutzt. Patriarchale Gewalt wird so ethnisiert, also auf eine nichtweiße Bevölkerungsgruppe verschoben.

Dies soll ganz bewusst verschleiern, dass der mit Abstand größte Teil von patriarchaler Gewalt im Nahumfeld verübt wird: Familienmitglieder, Ehemänner, Arbeitskollegen, Freunde, dass sich patriarchale Gewalt durch alle Gesellschaftsschichten zieht. Sie ist nicht migrantisch, sie ist männlich.

Beispiellose Gewaltwelle

Konkret artikuliert sich dieses „Mitreißenlassen“ in antimuslimischer Gewalt über das ganze Land hinweg: Liverpool, Stockton, Manchester und Bristol sind nur vier von vielen Städten, die momentan von einer beispiellosen Welle an Gewalt überzogen werden.

Eingeschlagene Fensterscheiben, angezündete Autos, rassistische Beleidigungen, Angriffe auf Häuser und Wohnungen in multikulturellen Vierteln, Plünderungen – weiße, rassistische Bri­t*in­nen legen genau das gleiche „unzivilisierte“ Verhalten an den Tag, das sie Mi­gran­t*in­nen regelmäßig vorwerfen und das sie behaupten, eindämmen zu wollen.

In der Stadt Middlesborough wurde eine Gruppe Männer gefilmt, die die Fahrenden von Autos darauf überprüften, „weiß und englisch“ zu sein. In Sunderland im Nordosten von England haben Demonstrierende die Räumlichkeiten einer Hilfsorganisation für bedürftige Menschen in Brand gesetzt.

In Hull, einer Stadt nahe Yorkshire, mündete eine rechtsradikale Demonstration in dem Angriff auf ein Hotel, in dem Geflüchtete untergebracht worden sind; die Situation artete in eine Straßenschlacht mit der Polizei aus. Am 4. August attackierten die Teilnehmenden der rechtsextremen Krawalle zudem in Rotherham ein Hotel, in dem Geflüchtete leben.

Die Szenen wecken erschreckende Erinnerungen an Rostock-Lichtenhagen: ein rassistischer, von der eigenen Gewalt besoffener Mob, der Fenster und Türen einschmeißt, durch die Räumlichkeiten marodiert, rassistische Parolen an die Wände sprüht, versucht, das Gebäude in Flammen zu setzen, mit Stühlen, Zaunlatten und Feuerlöschern auf Po­li­zei­be­am­t*in­nen losgeht.

Zu dem Zeitpunkt befanden sich 250 Geflüchtete in dem Hotel. Auch in Tamworth warfen Ras­sis­t*in­nen die Scheiben eines Holiday Inn Express, das als Unterkunft für Asylsuchende genutzt wird, ein und versuchten, mit Molotowcocktails Brände zu legen, sprühten rechtsradikale Parolen an die Wände. Es ist Glück, dass bisher niemand ums Leben gekommen ist.

Faschistische Kräfte mobilisieren

Faschistische Kräfte mobilisieren in Großbritannien konstant weiter, die Bedrohungslage bleibt bestehen. Wie der Journalist Mark Chadbourn berichtet, hat die Polizei in Liverpool Be­woh­ne­r*in­nen angewiesen, zu Hause zu bleiben und die Türen zu verriegeln, Geschäfte sind geschlossen. Im ganzen Land herrscht Ausnahmesituation – und drei Mädchen werden für diese beispiellose Gewalt instrumentalisiert. Die britische Regierung unter dem Labour-Ministerpräsidenten Keith Starmer hat unterdessen versprochen, dass die Täter mit „harten Strafen“ rechnen müssten.

Wie üblich bei rassistischen Pogromen sind es Antifaschist*innen, die sich für den Schutz migrantisierter Menschen und der Be­woh­ne­r*in­nen der durch die Krawalle zerstörten Straßen einsetzen. In vielen Städten kam an den Tagen nach der rassistischen Ausschreitungen die Community zusammen, um aufzuräumen und sich gegenseitig Solidarität und Kraft zu spenden. Und dies ist in derart verrohten Zeiten eines der wichtigsten Dinge überhaupt.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.

Ihren Kommentar hier eingeben